XIV

In dem abhörsicheren Raum von Blaschkes Büro, ein begehbarer Schrank, den ein Vorgänger Blaschkes sich noch zu DDR-Zeiten für seine Jagdutensilien hatte ausbauen und einrichten lassen, standen sich Holtrop und Blaschke gegenüber, jeder in einer Ecke, so weit wie möglich voneinander entfernt, was eine Distanz von kaum mehr als eineinhalb Armlängen ergab. Zwischen den beiden lag ein Packen Papier auf dem Klapptisch. Früher wurde an solchen Orten der Klandestinität Kokain gehackt, heute ging Holtrop hier dem Geschäft von Verrat und Überwachung nach. Er sagte: »Wie genau können wir feststellen, wo Thewe sich aufhält?« »Das hängt natürlich davon ab, wo er sich aufhält.« »Aha.« »Naja«, sagte Blaschke, »wenn er sein Handy wegschmeißt, das Auto stehen lässt und irgendwo hier in Thüringen in den Wäldern verschwindet, dann ist es natürlich schlecht.« »Ist klar, aber wir haben doch keinen Hinweis, dass er so etwas plant?« »Nein«, antwortete Blaschke, »im Moment nicht.« Holtrop deutete auf die Papiere, Abschriften von Gesprächen, die in den vergangenen Wochen in den Büros von Meyerhill, Sprißler und Thewe geführt worden waren. Blaschke hatte Holtrop die Unterlagen zur Durchsicht übergeben, eventuell relevante Passagen, die sogenannten Stellen, mit gelbem Leuchtstift markiert. Holtrop sagte: »Da war ja wohl nichts dabei, oder?« »Nein.« »Wo werden diese Tonbänder jetzt eigentlich abgetippt?« »Bei Burgmer Target in Rostock.« »Aha.« »Sind auch keine Bänder mehr.« »Noch besser.« Die bürokratenhafte Laschheit von Justitiar Blaschke, das breiig Aufgedunsene seines Gesichts, das in Momenten der Anspannung von ticartigen Verkrampfungen der tieferliegenden Muskulatur durchzuckt wurde, wie man das von Finanzminister Eichel her kannte, gaben Holtrop das gute Gefühl, das Böse bei Blaschke in den richtigen Händen zu wissen. Aber auch in Blaschke irrte sich Holtrop, dessen Menschenkenntnis durch überwertige Egoorientierung auffallend schwach ausgeprägt war.

Blaschke agierte in allem nach dem Grundsatz, Schaden abzuhalten von Assperg. Er war Radikalangestellter der Firma in dem Sinn, dass er sich keiner einzelnen Person, noch nicht einmal dem alten Assperg, schon gar nicht etwas so Vergänglichem wie dem aktuellen Vorstandsvorsitzenden, der zufällig gerade Holtrop hieß, verpflichtet fühlte, sondern einzig dem, was er für das rechtlich definierte Wohl der Firma hielt. Er verfolgte keine eigene Agenda, jedenfalls nach eigenem Selbstverständnis nicht, das machte ihn unberechenbar, denn was das Firmenwohl vorgab, war unvorhersehbar, nur für Blaschke, der das Ganze der Firma im Blick zu haben glaubte, Objektivität. Insofern war Blaschke, bezogen auf den Kosmos Assperg, Gottes Stellvertreter auf Erden, Papst oder Teufel, je nachdem ob von einem Theologen oder Soziologen beobachtet. Im Moment jedenfalls war aus Sicht Gottes, wenn man Blaschkes Bemühen, eine möglichst unauffällige, im Streitfall auch unangreifbare Entlassung Thewes sicherzustellen, zum Erkenntnismaßstab nahm, ein Verbleiben von Thewe in seiner Position als Arrowchef nicht mehr im Sinn und zum Vorteil der Assperg AG. Die technischen Details zur Sicherung von Beweisen, dass Thewe Firmeninterna an Dritte weitergegeben und sich damit eines rechtswidrigen Geheimnisverrats schuldig gemacht habe, ein klarer Verstoß gegen die Unternehmensleitlinien, die Charta der Wahrheit, auf die jeder Angestellte von Assperg sich bei der Unterzeichnung seines Anstellungsvertrags zu verpflichten hatte, legte Blaschke mit einer an diesen Details besonders interessierten Präzision dar. Außerdem in Blaschkes Fokus: die Korrektheit der Delegationskaskade, die zwischen dem Auftraggeber der Überwachungsmaßnahmen, offiziell Meyerhills Securo, und der realen Durchführung vor Ort durch unabhängige, über die Reinigungsfirma Clean Impact vermittelte Sicherheitsfachkräfte im Auftrag der Bessemer Consult so eingerichtet war, dass die Maßnahmen, auch finanztechnisch korrekt, dem Komplex Entlassung Thewe zugeordnet, später Thewe, falls es zu einer gerichtlichen Überprüfung der Vorgänge um seine Entlassung kommen sollte, in Rechnung gestellt werden konnten.

Holtrop fand den paranoid pedantischen Detaillismus von Blaschke pervers. Er hörte sich dessen Ausführungen an und wusste, dass Blaschke ihm diese Informationen, wäre er ihm gegenüber loyal, nicht aufdrängen, sondern vorenthalten würde. Aber weil Blaschke ihm in seiner Korrektheit so widerwärtig war, konnte er nicht richtig über ihn nachdenken. Er konnte nicht einmal dessen Motiv erfassen, obwohl es offensichtlich war: Holtrop die Verantwortung für die Maßnahmen gegen Thewe zuzuweisen, nicht vor Zeugen, aber bezeugt von der gleich im Anschluss an dieses Gespräch anzufertigenden Gesprächsnotiz. Immerzu nickte Holtrop ungeduldig. Holtrop wollte diese Besenkammer, in der Blaschke sich auf beklemmende Weise wohlzufühlen schien, endlich verlassen. »Der Herr«, sagte Holtrop und stöhnte auf, »ist der Knecht des Knechts! Ich bitte Sie, Herr Blaschke, ich bin in Eile, ich muss jetzt wirklich gehen.« »Kein Problem«, antwortete Blaschke, »wir sind auch so weit durch.« »Auf Wiedersehen«, sagte Holtrop sofort. Und Blaschke sagte: »Das Protokoll schicke ich Ihnen zu.« »Nicht nötig, Herr Blaschke.« »Ich weiß«, antwortete der, »nur für uns.« »Für Sie«, sagte Holtrop. »Ja, zur internen Information.« »Natürlich!« Holtrop war genervt. »So sind nun mal die Regeln, Herr Dr. Holtrop.« »Wollen Sie mich beleidigen, Blaschke?« »Eigentlich ungern«, sagte Blaschke, und das war sicher die Wahrheit, denn ein Konflikt wegen einer solchen Banalität, dass im konspirativen Prozedere jeder die Dokumentationsinteressen seines Gegenübers anerkennen musste, war Blaschke unangenehm, ungefähr genauso widerwärtig wie Holtrop umgekehrt Blaschkes Korrektheit. »Sie haben die USA-Reise abgesagt«, sagte Blaschke in verbindlich fragendem Ton, um eine normale Verabschiedung zu ermöglichen. Holtrop: »Wie kommen Sie denn darauf!« »Hatte ich so verstanden, ganz egal.« »Wiedersehen«, schrie Holtrop jetzt beinahe. »Auf Wiedersehen, Herr Dr. Holtrop.« Kopfschüttelnd und zuletzt wirklich verärgert ging Holtrop von Blaschke fort. Natürlich müsste man in einem virtuellen besseren Leben einen Mensch wie Blaschke, das waren Holtrops Resultatgedanken, als erstes loswerden, am besten so schnell wie möglich. »Aber wie sollte das möglich sein?« dachte Holtrop, Blaschke würde der Assperg AG für immer und selbst dann noch als Justitiar dienen, wenn die Familie Assperg ihre Anteile an einen saudischen oder taiwanesischen Hedgefonds verkauft haben würde, was für die nächsten zwanzig Jahre nicht zu erwarten war.

Blaschke nahm die Papiere vom Klapptisch und ging in sein Büro. Für ihn war Holtrops genervter Abgang nur wieder ein weiterer Beleg dafür, wie schlecht Holtrop die Firma, die er selber führte, wirklich verstand. Dass Holtrop es als Asspergchef nicht mehr lange machen würde, war Blaschke völlig klar. Er stand am kleinen Aktenvernichter und ließ die Gesprächsmitschriften durch die altmodische Maschine laufen. Der luftige Papierbrei, der dabei entstand, konnte allerdings das informationelle Problem, dass man diese Informationen, die man sich beschaffen zu müssen geglaubt hatte, jetzt, nachdem man sie gesichtet und als unbrauchbar für den intendierten Zweck, den Beleg eines Verrats, erkannt hatte, gerne wieder in die Inexistenz der Vergänglichkeit real gesprochener Worte zurückverwandeln würde, nicht lösen, so schön er auch ausschaute. Und auch wenn man alle CDs geschreddert hätte, auf denen die Datei gespeichert worden war, und die Festplatten aller Computer, durch die die Datei hindurchgereist war, vernichtet: der Akt der Isolierung dieser Informationen war nicht rückgängig zu machen, ihr Herausgerissenwerden in die egal wie kurze Nichtvergänglichkeit von Text war für immer gespeicherte Tat, sie selbst dadurch Datei geworden, unbeseitigbar in der Welt. Aber Blaschke war Jurist. Wenn man die Irrealität solcher informationstheoretisch möglichen Spekulationen zuende denken würde, könnte man den Realbetrieb jeder echten Firma, wie sie die Assperg AG war, einstellen. Blaschke beendete statt dessen die von dieser abzulehnenden Endkonsequenz her sinnlosen Gedanken und stopfte den Papierbrei in den Abfalleimer, mit unaufgeregten Bewegungen, aber endgültig.

Dann setzte er sich an den Schreibtisch und notierte vier Zeilen zu dem Gespräch. Noch davor hatte Blaschke bei der Frankfurter Sozietät Sennheiser, von der Assperg sich in komplizierteren arbeitsrechtlichen Fragen beraten ließ, ein Gutachten bestellt, das die Aussichten einer Klage gegen Thewe wegen Geheimnisverrats und die möglichen Folgen für eine fristlose Kündigung prüfen sollte. Es bestand dieser Verdacht auf Verrat von Geschäftsgeheimnissen zwar auf Grund überhaupt keiner realen Verdachtsmomente, aber umso mehr gab es den Bedarf, in den Akten einen Grund dafür dokumentiert zu haben, dass hausintern gegen Thewe wegen dieses Verdachts ermittelt werden musste. Aus Sicht des Rechts gab es alle Grade von Illegalität, etwas komplett Nichtillegales aber praktisch nicht. Insofern war das Vorgehen gegen Thewe, das die Assperg AG im eigenen Interesse wählen musste, vielleicht nicht das allerschönste, aber was auf Erden war schon wirklich SCHÖN? Recht: Maschinenraum der Gesellschaft.

Im Keller des Arrowhochhauses schräg gegenüber standen die buntfarbenen Putzwagen hinter verschlossener Türe im Dunklen und warteten dort tagsüber auf ihren Einsatz später, wenn es erst wieder richtig Nacht geworden sein würde.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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