XVIII
Im freien Vortrag wiederholte Salger, was er zuvor im Konferenzraum der Securo vorgetragen hatte. Priepke übergab Holtrop dazu verschiedene Tabellen, die das Gesagte präzisierten, und Holtrop schaute auf die mit Zahlen gefüllten Papiere, auf die dort in verschiedene Kästen, Ecken, Kolonnen und Kammern eingesperrten Ziffern, und nickte immer wieder. Salger merkte, wie sehr Holtrop sich zwingen musste, dem Vortrag zu folgen, wie es ihn quälte, wie wenig animiert Holtrops Denken auf die Attraktivität der Analysen reagierte, und kam deshalb zu einem schnellen, unvorhersehbar pointierten Schluss. Holtrop erwachte, warf sich zurück, ruckte vor, schaute Salger amüsiert ins Gesicht und sagte: »Gefällt mir gut, wie Sie das machen.« Dazu sprang er hoch. Salger und Priepke standen auch auf, Holtrop verabschiedete sich mit besonders freundlich werbenden Worten, die beiden Männer gingen hinaus, und dann stand Holtrop hinter seinem Schreibtisch und klopfte mit den Fingernägeln beider Hände auf seine Schreibtischfläche ein, wobei er leise und schnell die Worte sagte: »gut, gut, gut«.
Thewe hatte sich noch am späten Mittag, Salgers Bericht, der Holtrop von dem Treffen mit Thewe in der Kantine erzählt hatte, war diesbezüglich zutreffend gewesen, auf den Weg nach Berlin gemacht. Zuvor hatte er einen Umweg über die Halle genommen, aber für Ostrowski, den er dort nicht angetroffen hatte, dann doch keine Nachricht hinterlassen. In dem Moment, als Thewe aus der Halle herauskam, sah er Blaschke im Auto vorbeifahren. Blaschke saß so verkrampft hinter sein Lenkrad eingeklemmt, dass er außer der Straße nichts bemerkte, auch Thewe nicht. Blaschke, dieses Gespenst der absolut gesetzten beruflichen Passion, war der letzte Mensch, den Thewe in Krölpa sah. Dann fuhr Thewe aus Krölpa hinaus richtung Autobahn, er fuhr sehr schnell, erst die Chaussee nach Westen gerade dahin, Bäume, Krampe, dann die Kurven, Orla, Horre, Ursel, dann endlich hoch nach Norden. Die Autobahn war voll mit dichtem Freitagsverkehr. Aus den Lautsprechern kam eine dramatische Radiomusik, extrem in ihren Schwankungen von laut und leise, getragen von der Woge dieser Musik raste Thewe durch den Nachmittag. Es war schon fast dunkel, als er kurz vor Berlin an einem Rastplatz, dessen Namen er gesehen, aber nicht behalten hatte, den Wagen verlangsamt hatte und herausgefahren war, die Warnschilder mit den Strichen für 300, 200 und 100 Meter waren zu schnell an ihm vorbeigehuscht, er hatte scharf bremsen müssen und dabei neben sich ein Geräusch gehört, das er nicht kannte, es kam vom Boden unter dem Beifahrersitz her. Nachdem er die vor den Wald gestellte Ganzmetalltoilette benutzt hatte, über dem Pissoir war das Piktogramm einer weit geöffneten Scheide zu sehen, abstrahiert, aus dem Kopf gezeichnet, mit dem bekannten Text beschriftet, so knapp und klar wie die dazwischen eingeritzte Skizze:
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war er zum Auto zurückgegangen, von links kam ein PKW herangerollt, rechts stand, wie zuvor auch, ein lichtloser Laster vor der Böschung, Tatort Unterholz, »ein düsteres Denkmal wider die Nähe der Zeit«. Thewe hatte die Autotüre aufgemacht, war eingestiegen, während der PKW zum Stehen gekommen war, Leute waren aus dem Auto ausgestiegen und langsam näher gekommen, Thewe drückte die Verriegelung seiner Türen nach unten, und die Männer waren seitlich abgebogen und auf das Toilettenhaus zugegangen. Thewe hatte den Motor angelassen, Gas gegeben und war losgefahren, Boxenstop von höchstens zwei Minuten. Heftig beschleunigend war er wieder auf die Autobahn zurückgefahren. Nach ein paar hundert Metern kam ein Schild mit Schlangenlinie, Hinweis auf einen Fluss mit dem Namen ALTE LUPPE, richtig, so hatte der Parkplatz auch geheißen. Thewe löste den Sicherheitsgurt und beugte sich seitlich nach vorn, um unter dem Beifahrersitz die Ursache des Geräuschs von eben zu ermitteln. Er ertastete etwas, kam damit hoch und hatte einen kleinen schwarzen Kasten aus Hartplastik in der Hand, nicht sehr schwer, möglicherweise Teil der Elektrik, abgefallen, für Sitzverstellung oder Sitzheizung. Er warf den Kasten zurück in den Fußraum neben sich, machte die Scheinwerfer des Autos an, dann das Radio und kehrte zurück zur Musik, wieder eine Symphonie, die immer wilder und bewegter wurde.
Das war der beste Moment des heutigen Tages gewesen, dachte Thewe, wie er morgens auf dem Gang plötzlich umgekehrt war und von Holtrops Zimmer aus nicht, wie Holtrop es ihm befohlen hatte, in sein eigenes Büro, wo Blaschke auf ihn wartete, zurückgegangen war, sondern weg von Blaschke und von Holtrop fort geflüchtet war, so lächerlich und folgenlos diese Flucht zuletzt auch gewesen sein würde. Was sich nicht gehalten hatte, war die initiale Euphorie der allerersten Sekunden gewesen, nachdem Holtrop ihm den Rausschmiss mitgeteilt hatte, die aus dem Glücksgefühl, ein nicht mehr unterdrückter, von Assperg endlich befreiter, freier Mensch zu sein, in ihm aufexplodiert war, auch die Vorstellung sich zu rächen, die ihn kurz getröstet hatte, war in ihm erloschen. Das war alles Unsinn, das war nicht sein Leben. Thewe kam der Plan, heute Abend noch Leffers treffen zu müssen, genauso absurd vor wie sein Plan, morgen nach Schönhausen zu fahren, um sich dort von Wenningrode, der noch nie eine kontroverse Entscheidung getroffen hatte, mit den allerdeprimierendsten Ausreden für weitere zwei Tage hinhalten zu lassen, ohne dass zuletzt irgendetwas für ihn Positives daraus folgen würde. Nein, es war aus. Das war die Lage. Thewe machte die Musik leiser, dann war das Stück zuende. Bruckner, die IV. Symphonie, so meldete die Absage, dann kamen die Nachrichten, Thewe hörte die Worte: Höhle, Schacht, Bewässerungskanal, Fluchtstollen. Verteidigungsminister Scharping empfängt auf dem Petersberg bei Bonn berittene US-Kommandosoldaten und Nordallianzkämpfer zu einer internationalen Afghanistankonferenz. Dann Fußball, Wetter, Verkehr. Die Reise im eigenen Auto als Selberfahrer war Thewe lieber als das bei den übrigen Chefs so beliebte Chauffiertwerden von einem Fahrer, der am Schluss jeden Gedanken, den man im Auto dachte, weil er ihn zu beobachten bekam, kennen konnte.
Vom Berliner Bär aus, der in Bronze gegossen mit erhobener Tatze auf dem Mittelstreifen stand, unter sich im betonierten Sockel das Sehnsuchtswort von früher eingraviert, BERLIN, das die begrüßte, die es bis hierher geschafft hatten, war es noch eine ganze Stunde zu Thewes Villa in Bad Hönow an der Havel am südwestlichen Rand der Stadt. Dieses Stück des Wegs ohne Autobahn zog sich am längsten hin, auf endlosen Straßen ging es bei Tempo 50 und von unendlich vielen Ampeln aufgehalten durch die westlichen Stadtrandviertel von Berlin. Zuletzt kam eine Kaserne, dahinter das Nichts der früheren Grenze zum Osten, ein ziemlich langer Waldweg, und dann war Thewe endlich da, mitten im Nirgendwo. Es war ein Fehler, sich hier ein Haus gekauft zu haben, nur weil Bad Hönow am Wasser gelegen war und als Ortsteil zu Karinhall gehörte, wo die reicheren Reichen sich ihre Villen als Seeschlösschen herrichten ließen. Thewe parkte den Wagen in der Einfahrt, nahm seine Tasche in die Hand und ging auf das Haus zu. Die Scheinwerfer für die Überwachungskameras flammten auf und beleuchteten die Villa grellweiß, Thewe sperrte die Türe auf, machte im Eingang Licht und verschwand im Haus. Die Türe fiel zu. Die Lichter draußen gingen aus, und innen, in den Fenstern sichtbar, gingen sie überall im ganzen Haus an.