XXII
Nach der Sitzung ging Holtrop sofort nach draußen, wo der Imbiss aufgebaut war. Neben dem Servierwagen stand eine junge Frau in weißer Bluse und langer schwarzer Schürze, sie schaute Holtrop freundlich an und gab ihm ein Glas Wasser. Dazu nahm er sich ein Brot, bunt geschmückt mit kleinen Würfeln von Tomate, Gurke, Käse, und biss hinein. Das Brot schmeckte abgestanden, nach faulem Wasser, das Wasser tot, es war auch nur lauwarm und sprudelte nicht. Es war ein sogenanntes stilles Wasser, frisch aus der Kloake Schönhausen geschöpft. Holtrop ging zur Seite, um den Platz beim Servierwagen für die Kollegen freizumachen. Die Kollegen kamen und schauten erfreut die Platte mit den vielen unterschiedlich belegten Broten an, nickten dabei sich selbst und einander zu, studierten eingehend die Auswahl, überlegten sehr gut und ganz genau, worauf sie gerade im Moment am meisten Lust hatten, und nahmen dann zwei oder drei der jeweils sehr verlockenden, aber auch viel zu klein dimensionierten Happen in die eine Hand, in die andere ein Glas Wein und gingen, wobei sie zugleich immer weiter nickten und aßen und tranken, vom Servierwagen wieder weg, ohne bei alledem das miteinander Reden auch nur für einen Augenblick unterbrochen zu haben. Holtrop wusste, dass diese Art Freude am informellen Imbiss danach gesund war und normal, auch wenn er selbst zu dieser Freude heute keinen Zugang hatte. Es war den Leuten offenbar komplett egal, wie das schmeckte, was sie da aßen und tranken, sie hatten den Mund dauernd voll, kauten und redeten dabei, immer beides gleichzeitig, und alle redeten zugleich, jeder redete auf den zufällig in seiner Nähe stehenden Anderen ein, ohne diesem Anderen, der selbst ja auch völlig selbstverständlich die ganze Zeit redete, weil er es angenehmer und ganz natürlich und normal für sich selbst fand, lieber zu reden als zuzuhören, selber auch zuzuhören, und die Größten und Gröbsten, Uhl und Schuster, redeten am lautesten und hatten am Essen und Reden und da Stehen und die anderen um sie herum brutal Niederquatschen sichtlich die fröhlich ausgelebte größte Freude. All das war Arbeit am Hass, Vergesellschaftung der Niedertracht, Entsorgung der gegenseitigen Verachtung, die jeder für jeden in sich hatte, direkt in den anderen hinein, Verkippung, Verklappung und zwischendurch Ausatmen: foetor ex ore, stinkender Mundgeruch weitergegeben im Reden, von Chef zu Chef.
Wenningrode hielt sein schlaffes, breiig aufgedunsenes Teiggesicht unzulässig nahe und sehr unangenehm riechend, nach Schweiß und Kopfhaut stinkend tatsächlich, vor Frau von Schroers Gesicht und in die Mitte zwischen ihrem und dem von Holtrop, so lange und penetrant, bis die beiden ihr Gespräch, das über die Brosseproblematik ging, kurz unterbrachen und Wenningrode zur Kenntnis nahmen, der dann sofort loslegte und irgendeinen Spezialistenschwachsinn über das Spießerthema Uhren abzusondern anfing, Breitling, Rolex, Zenith, Porsche, wovon er offenbar nicht die geringste Ahnung hatte, aber vier von irgendwelchen anderen Schwätzern zusammengeschnorrte Banalsätze in sein Sechzigsätzerepertoire, mit dem er jeden vor ihm Stehenden standardmäßig niederquatschen konnte, hatte er übernommen, ohne diese Sätze zu variieren, er wiederholte sie einfach, steckte das nächste Brot als Ganzes in den Mund, nahm sofort einen Schluck Wein dazu, kaute diesen Brei in seinem Mund zu Matsch und redete dabei dauernd weiter vor sich hin und schmatzte dabei, wie es eben so aus ihm herauskam. An dieser gleichgültig, aber vor der Zeugin von Schroer auch demonstrativ vorgeführten Unverschämtheit Wenningrodes, der sich eigentlich von dem ihm übergeordneten Holtrop zu- und niederquatschen hätte lassen müssen, merkte Holtrop, dass seine Zeit bei Assperg nach Ansicht Wenningrodes, die standardmäßig die Ansicht aller anderen in sich enthielt, offenbar als abgelaufen galt. Die Klarheit dieses Gedankens widerte Holtrop an. Er stellte sein Wasserglas weg und ging nach draußen. Wieder neigten sich ihm sofort und von allen Seiten die Gesichter der Leute zu, um den aus ihnen herauskommenden Text über ihm auszuleeren, und nickend und kopfschüttelnd und noch mehr nickend ging er zwischen all diesen Leuten und Gesichtern hindurch und an ihnen vorbei, bis er endlich allein im Gang stand.
Zum ersten Mal sah er die Szenerie hier mit Bewusstsein, die abgewetzte Sauberkeit, die billigen Türen, es war wirklich ein sehr scheußlicher Arbeitsplatz, stellte Holtrop erneut fest, es war richtig, sich hier so selten wie möglich aufgehalten zu haben, und wahrscheinlich war die Vorstellung, in diese fundamental und durch und durch verspießte und aufs Spießigste verblödete Welt der Firma und Familie Assperg auch nur einen Funken von Neuheit, von neuem Denken und neuen Ideen hineintragen zu können, ein von Anfang an falscher Gedanke gewesen. Noch bevor Holtrop das Ende des Gangs und die Feuerschutztüre aus drahtdurchzogenem Panzerglas erreicht und aufgestoßen hatte, hatte er mit seinem Arbeitsplatz bei Assperg erneut, diesmal aber vielleicht wirklich endgültig abgeschlossen.
Im engen Schacht des Treppenhauses beschleunigte sich Holtrops Schritt nach unten. »Und aber doch«, dachte er da, »so nicht!« Er würde nicht kampflos gehen, er würde seinen Platz verteidigen. Er hatte dieser Firma seine besten Jahre und alle Kraft gegeben, er hatte unbeschreibliche Summen von Geld durch seine Deals für Assperg verdient, es war absurd, mit einer wie aggressiv vorgetragenen Kleinlichkeit Brosse seit Wochen die vorgesehene Verlängerung von Holtrops Vertrag als CEO torpedierte. Es war noch nicht so lange her, dass diese Verlängerung auch vom Aufsichtsrat als reine Formalie angesehen worden war, von Holtrop natürlich sowieso. Geplant war damals, im vergangenen Herbst, ein Vertrag über nocheinmal fünf Jahre, dabei sollten die Bezüge und Boni um ein Drittel nach oben gehen, obergrenzenlos geregelt, denn Holtrop war vom hochbegabten Führungstalent in den vergangenen vier Jahren seiner Zeit an der Spitze der Assperg AG zum erfolgreichsten Manager von, kurz gesagt, ganz Jungdeutschland geworden. Phantasien richteten sich auf ihn von allen Seiten, Angebote kamen, jede Woche ein anderes, das war normal gewesen, bis Mitte letzten Jahres war Holtrops Marktwert, anders als der Wert der Asspergaktie, stetig, steil und immer noch weiter hochgegangen. Jetzt hatten sich die Bedingungen geändert, gesamtwirtschaftlich, persönlich, gut, aber die erbärmliche Hinhaltetaktik von Brosse war dadurch nicht gerechtfertigt, diese Ansicht hatte eben vorhin auch Holtrops Personalfachfrau Frau von Schroer geäußert. Real war es aber so, dass die mit der Vertragsausarbeitung beauftragten Anwaltskanzleien beider Seiten schon vor Monaten neue Verhandlungen aufgenommen hatten, alle drei Wochen ging ein neuer Schriftsatz, in Zeitlupe befördert, hin und her, zuletzt hatte auch noch der alte Assperg bei Holtrop direkt Gesprächsbedarf angemeldet und gesagt, wobei er Holtrop drohend die Hand auf die Schulter gelegt hatte: »Wir müssen den Vertrag besprechen!« Von seinen Anwälten hatte Holtrop erfahren, dass Brosse bei Gesamtbetriebsratschef Bartels gegen die Vertragsverlängerung Stimmung gemacht und im Aufsichtsrat überall schon Stimmen gesammelt habe, und der alte Assperg hatte Holtrop das Gespräch nur angekündigt, um es mehrfach kurz davor, Machtsadismus pur, immer wieder absagen zu können. Auch von dort her, wie von allen anderen Seiten, sollte Holtrop also offenbar kaputt gemacht, vielleicht auch schon endgültig abgeschossen werden.
Der Grundkonflikt mit Brosse und Bartels war zwar alt, er hatte aber, speziell im Fall von Brosse, mit Holtrop selbst gar nichts zu tun. Brosse hatte den Rollenwechsel vom Vorstandsvorsitzenden, der er vor Holtrop fünfzehn Jahre lang gewesen war, zum operativ selbst nicht mehr aktiv tätigen Aufsichtsratschef einfach nicht verkraftet. Dabei hatte Brosse Holtrop selbst zu Assperg geholt und als seinen Nachfolger aufgebaut. Aber im Alter von nur sechzig Jahren die Verantwortung plötzlich völlig abgeben zu müssen, nur weil es die vom alten Assperg verfügten Firmenstatuten genau so diktierten, war für einen noch so extrem vitalen Vollblutmanager der alten Schule, wie es Brosse war, eine letztlich unerträgliche und, wie sich herausgestellt hatte, mit der Zeit immer noch untragbarer gewordene Zumutung. Die ersten ein, zwei Jahre hatte Brosse seinen Nachfolger Holtrop von oben herab mit spöttisch aufmunternden Anfeuerungssprüchen begleitet, auf dem Hochpunkt von Holtrops Erfolgen den Kontakt zu Holtrop gemieden und in den letzten eineinhalb Jahren der sich immer weiter aufbauenden Krise hinter Holtrops Rücken überall, wo er konnte, gegen Holtrop Stimmung gemacht. Die wenigen persönlichen Begegnungen, zu denen es in letzter Zeit noch gekommen war, waren an Verlogenheit kaum zu überbieten, neulich hatte Holtrop Brosse in Karlsruhe getroffen, und der dabei zwischen beiden ausgetragene Wettbewerb ging nur noch darum, wer seine dröhnend verlogene Herzlichkeit lauter dröhnend und offener verlogen vorführen könnte. Diesen Verlogenheitswettbewerb hatte in Karlsruhe natürlich wieder einmal Brosse dröhnend klar für sich entscheiden können. Mit der wenig überraschenden Folge, dass in Holtrop der Schwur, sich an Brosse irgendwann bösartig zu rächen, weiter Nahrung bekommen hatte.
Im Hinuntergehen hatte sich Holtrop, ohne es selbst zu merken, zwei dieser kleinen weißen Tabletten aus der Tradondose herausoperiert und zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand transportiert, und wie er jetzt die Türe des Assperghauses von innen aufstieß und ihm der nasskalte Schneewind ins Gesicht fuhr, »ein Wahnsinn«, dachte Holtrop, »mitten im April!«, die beiden Tabletten unterwegs hinüber zu seinem Büro in den Mund gelegt und mit etwas Speichel hinuntergeschluckt. Dirlmeier erwartete Holtrop mit der Nachricht, dass Ahlers sein Blaschkepapier offenbar schon an die Presse durchgereicht hatte. Die dpa und verschiedene andere Agenturen hätten gerne einen Holtrop-Originalton zu den fraglich illegalen Zahlungen der Assperg AG an verschiedene Sicherheitsfirmen in Krölpa und Umgebung.