II
Oben wartete niemand auf Bauer, niemand kam zu ihm her, deshalb trat er selbst an die Gruppe um Hombach heran und stellte sich dort dazu. Hombach redete mit Risiko-Vorstand Kedke, es ging nocheinmal um Binz. Die Deutsche Bank hatte von Binz den Auftrag übernommen, Binz’ Fernsehgesellschaft Prim-TV zu bewerten. Binz erhoffte sich durch diesen Auftrag neue Kredite von der Deutschen Bank, und die Deutsche Bank bekam so Einblick in die Bilanzen der Prim-TV von Binz. Kedke sagte: »Der Fernsehsender macht zur Zeit jedenfalls noch Gewinn.« Hombach fragte nach der Bezahlung für das Beratungsmandat, und Kedke sagte etwas zu den Vertragsverhandlungen, die noch nicht fertig ausverhandelt seien. Während des Redens bewegte sich die Gruppe an dem Revolutionsgemälde von Neo Rauch vorbei und auf die Türe des Konferenzsaals zu. Plötzlich machte Hombach einen Schritt auf Bauer zu, neigte seinen Kopf nahe vor das Gesicht von Bauer und sagte leise zu ihm: »Gehen wir hinein!« »Ja«, antwortete Bauer. Dann gingen alle in den Konferenzsaal.
Der Saal war hell, aber niedrig, an der inneren Längswand hing eine Urwaldlandschaft aus dem Paradieszyklus von Thomas Struth, »Paradies IV, 1999«. Das Glas vor der Fotographie war extrem entspiegelt, die verschlungenen Pflanzen des Urwalds beherrschten schockierend echt den Raum. Nach draußen hin ging der gigantische Himmelsblick über die Stadt und auf die fernen Hügel des Taunus hinaus, im Inneren leuchteten Brutalität und Verlockung einer fast abstrakten, hyperrealen, in ihrer Perfektheit auch abstoßenden Natur. Die Männer mit der dicken Haut und den ultraleichten Anzügen darüber bemerkten davon nichts, sie sahen nur hell und dunkel, während sie zu ihren Plätzen gingen, sich setzten, dunkel auf der einen Seite, hell und licht und weit auf der anderen, nach draußen, weltwärts gerichteten Fensterseite. Jeder von ihnen wollte dorthin: hinaus, weg von da, wo er war. Sie waren oben angekommen, Bankvorstand, sogar im Vorstand der legendären Deutschen Bank, aber sie waren traurige, vom Apparat und der schon so lange laufenden Karriere im Apparat traurig zusammengefaltete Existenzen. Bauer war die Inbegriffsgestalt dieser Topfigurentraurigkeit. Auch er war, was er immer hatte werden wollen: Bankchef, Topmanager. Aber wo bleibt das Glück? Wo bleiben die Millionen? Das dachte er nicht, aber er fühlte so. Und nicht einmal das Geld stellte sich in der Weise ein, übersprudelnd, wie sich das jeder von ihnen in seinen Träumen vorstellte, sondern viel zu langsam, hier einmal eine Million im Jahr, und wann die nächste? Und wann drei, wann fünf? Und dann ging jährlich auch noch mehr als die Hälfte von diesem Geld wieder weg für Steuern, zahlbar direkt an den Staat. Wofür eigentlich? Das war so etwa die Stimmung: absurd protestatorisch, organisierte und institutionalisierte Absurdität, von keinem Coaching erreichbar, die geistige Obdachlosigkeit ganz oben.
Bauer wollte die Sitzung gerade eröffnen, da kam als letzter Zischler herein, Bob C. Zischler, 54. Bei jedem Schritt schleuderte er seine Cowboystiefel vor sich her, er grinste, er ging langsam, er schaute auf die Uhr und grinste noch mehr. Er warf seinen Kopf zurück und schlenkerte mit den Armen und ging so zu seinem Platz, um allen zu bedeuten: »Ihr könnt mich alle mal, ihr Deppen.« Verrückterweise wusste Zischler nicht, dass er nicht der einzige war, der seine Kollegen für Deppen hielt, dass jeder jeden so sah, Zischler hielt sich in seinem Hochmut für einzigartig, er war hier sozusagen der absolute Superdepp. Die Tagesordnung wurde abgearbeitet. Einer nach dem anderen redete, jetzt regierte die Vernunft der Zahlen. Alle entspannten sich. Jedes Ressort steuerte sich selbst in eigener Verantwortung. Das übergeordnete Kollegialprinzip bedeutete außerdem, dass alle für alles verantwortlich waren, zuletzt aber auch jeder für nichts konkret. Unter Bauer war der Vorstand immer weiter ausgeweitet worden, denn es gab viele Leute, denen Bauer am Ende seiner lebenslangen Karriere bei der Deutschen Bank einen Gefallen schuldete und gerne tun wollte, die er irgendwo weit oben unterzubringen hatte, weil auch sie ihm in seinem endlos langen Leben bei der Deutschen Bank irgendwann einmal mit irgendetwas geholfen und ihm irgendeinen Gefallen getan hatten. Es war deshalb Hombachs Plan, den Vorstand wieder auf eine vernünftige Größe zu verkleinern, um ein arbeitsfähiges Organ zu bekommen. Und es war Zischlers Absicht, diesen Plan zu verhindern. Zischler war Hombach in der Nachfolgefrage unterlegen, zu Unrecht, wie er natürlich fand, denn er glaubte sich Hombach in jeder Hinsicht überlegen. Wenn Herrhausen noch leben und den Aufsichtsrat beherrschen würde, statt Zapf, der ein Apparatschikexzess wie Bauer war, würde Zischler Bauer nachfolgen, nicht Hombach, neben dem er jetzt Chief Operating Officer werden sollte, das Angebot war eine Unverschämtheit. Zischler hielt einen sehr allgemeinen Vortrag über die Bank als Ganzes, es kam darin die Großwildjagd, Kanada und die Hochseefischerei in internationalen Gewässern vor, die von früheren Generationen der Familie Zischler betrieben worden sei, der Vortrag war eher wirr, Zischler redete zu lange, Hombach zeigte Zeichen von Ungeduld.
Da bedankte Bauer sich bei Zischler, aber der hatte nur einen Moment pausiert, um sich von hinten ein Papier zureichen zu lassen, er drehte sich zu seinem Assistenten um. Der machte eine Geste der Hilflosigkeit und zeigte auf Zischlers eigene Papiere am Tisch, wo die angeforderte Aufstellung tatsächlich zuoberst lag. Zischler nahm das Papier und las zum Schluss neueste Zahlen, die irgendetwas belegen sollten, vor. Dann lehnte er sich zurück und schaute mit dem Ausdruck allergrößten, von sich selbst berauschten Wohlbehagens triumphierend in die Runde der Kollegen.