XXX

In der Vorstellung, nicht mehr viel Zeit zu haben, erschien Holtrop jetzt jeden Morgen vor sieben Uhr in der Hauptverwaltung an seinem Schreibtisch und entwickelte hektisch Aktivitäten in alle Richtungen. »Den Fall neu denken«, dachte Holtrop dauernd, es war aber eine sinnlose Melodie in seinem Kopf, weil an Denken in strengem Sinn wegen der inneren Hektik nicht mehr zu denken war. Andererseits war es auch nicht so, dass sich das extrem unnormal angefühlt hätte für Holtrop, denn die tatistisch orientierte Wirrheit war der Normalzustand seines Geistes, an den er sich in den Jahren der Fraglosigkeit gewöhnt hatte. Für Bilanzen war es zu früh. Aber Flashs aus allen Asspergjahren flammten frei und von allen Seiten her in Holtrops Hirn auf, während seine Augen auf die Papiere, die er vor sich ausgebreitet hatte, schauten und die Willensstelle in seinem Vorderhirn über den Augen die Konzentration der Gesamtperson Holtrop auf die dort schriftlich verzeichneten Worte einzustellen sich bemühte, allerdings vergeblich. Gruppe Print. Jagd, Uhren, Sport. Frau TV, Tier TV, Haus TV. Gruppe Geld. Play, Now, Young. Gruppe Service, Gruppe Welt, Gruppe Mensch und Human Resources. Einstellung, Gehalt, Karriere, Mobbing, Entlassung. »Entlassung«, dachte Holtrop und sah wieder die Totenmauer, in die man Thewe hineingestellt hatte, vor hundert Monaten war das gewesen, auf diesem unbeschreiblich unmenschlichen Totenfriedhof in Berlin. Eignungstest, Bedarf. Gruppe Food. Gruppe Gerät. Verkauf, Recht, Stiftung, Bank. Gesetze. Callcenter, Adressen. Illegal war alles, da hatte Blaschke recht. Unterhaltung, Internet, Computer, Werbung. Geld, GELD, Geld. Lächerlich waren auch Bodenhausens reich begüterte Hetzreden gegen das Geld. Südamerika. Spiele, Satellit. Asien. Produktion Textil, Produktion Gerät. Erze, Rohstoff, Gas. Osteuropa. Abbau Holz, Papierfabrik. Gruppe ganz Frankreich. Westeuropa Rest. Transport, Maut, Stahl. Gruppe Nordeuropa. Und natürlich, ja, lest we forget: Konzernsicherheit. Compliance, Überwachung. Intrige. Dolch, Gewand etc. An jeder dieser Stellschrauben könnte und müsste man drehen, am besten in die richtige Richtung, das war klar, aber es war auch absolut klar, dass kein Mensch wusste, was genau daraus folgen würde und ob die gewählte Drehrichtung folglich die richtige oder nicht doch, wie so oft, wieder einmal die falsche war, schon gar nicht Holtrop.

Das Leben des Menschen in der Gegenwart dauert drei Tage, mehr Zeit kann er nicht inkorporieren und so verlebendigen. Und weil die Gegenwart des Geistes nur drei Sekunden dauert, ist der Geist vom Leben dauernd so sehr, fast unmenschlich, möchte man sagen, überfordert. Holtrop, bei dem diese Existenzfaktizitäten nur besonders deutlich ausgeprägt waren, war insofern auch in diesem Moment an seinem morgendlichen Schreibtisch nur ein kleines Beispiel allgemeiner Art für Grundbedingungen der Arbeitswelt Büro, egal ob oben oder unten. Frau Rösler erschien, brachte Kaffee und Unterschriftenmappe mit, wie immer, nur dass Holtrop heute endlich einmal die von Frau Rösler für ihn dabei auch mitgebrachte Freundlichkeit so auffassen konnte, wie sie von ihr gemeint war, hintergedankenlos freundlich. »Guten Morgen, Herr Dr. Holtrop!« »Guten Morgen, Frau Rösler.« Holtrop schaute auf, sie schaute zurück, nickte und ging hinaus.

Holtrop hatte sich den Brossebrief, mit dem Brosse Holtrop endgültig den Krieg erklärt hatte, herausgenommen und verfasste jetzt ein an den alten Assperg gerichtetes Schreiben, das in aufgeräumter Stimmung, aber auch holtropisch spirited, den Fall und die Lage, den Streit, mögliche Lösungswege, Alternativen, Perspektiven und Konsequenzen ganz ruhig darlegte, ein Testament, das sich sehen lassen konnte, wie Holtrop beim mehrmaligen Durchlesen der handgeschrieben neun Seiten dachte. Nachdem dieser Brief per Hausbote nach drüben in den Stiftungsvorstand gebracht und dem alten Assperg übergeben worden war, passierte lange nichts. Stündlich rechnete Holtrop mit einem Anruf von drüben. Es kam aber kein Anruf. Der alte Assperg rührte sich nicht, den ganzen Tag nicht. Auch am nächsten Tag und die ganze nächste Woche: dröhnendes Schweigen, über den Tümpel hin aus der Stiftung in das Office of the Chairman hinübergeschickt. Wie jeder Mächtige kannte der alte Assperg die Gewalt des Schweigens, und Holtrop wusste natürlich, was ihm da mitgeteilt wurde: du wirst zertreten. Holtrop war Ungeziefer geworden in der Welt des alten Assperg. Und der alte Assperg, dessen ganze Firmenphilosophie von nichts anderem als von Menschlichkeit handelte, war im Fall der von ihm gewählten Optionen, die Firma zu führen, so asozial und unmenschlich, wie es sein leicht schizoid abgetöntes Naturell hergab, ziemlich unmenschlich und sehr asozial. Holtrop wartete. Er machte seine Arbeit weiter, hatte sogar wieder Spaß daran wie lange nicht mehr, bis Ende Juni, Anfang Juli ging das gut, zwischendurch beförderte Holtrop den Plan Freiheit, wie Mack die Exitstrategie genannt hatte, traf Mack und unterschrieb viele Papiere, das private Vermögen betreffend, und der beste Arbeitsrechtler der Republik, den ausgerechnet Binz ihm empfohlen hatte, Prof. Gauweiler, von der Münchner Kanzlei Bub, Gauweiler & Partner, hatte sich Holtrops Falls angenommen, auch das war Teil der Exitstrategie, auf mögliche Eventualitäten ordentlich vorbereitet zu sein. Wie in den Monaten davor war Holtrop wenig auf Reisen, arbeitete lange und späte Stunden im Büro, und gar nicht so selten war es tatsächlich er selbst, der als allerletzter die Hauptverwaltung verließ und aus dem Haus nach draußen trat, die Luft der Sommernacht einatmete und sich von schwermütigen Gefühlen erfüllt nach Hause fahren ließ.

Der Sommer war heiß und die Nächte kurz. Holtrop hatte nichteinmal Akten mitgenommen, es war halb zwölf, am Wagen stand wieder der Ersatzfahrer Zuber und wollte ihm die Aktentasche abnehmen. »Gar nichts dabei heute?« sagte Zuber und machte die Türe auf. »Nein.« »Ist auch schon spät.« »Da haben Sie recht.« Holtrop warf sein Jackett ins Auto und setzte sich hinein. Er lehnte sich zurück. Glück und Wohlwollen war der Name der perfekt gemachten Sitze, der Polster, der gesamten Atmosphäre des Autoinnenraums, Mercedes Benz, gepriesen sei der Name dieser Firma. Zuber startete den Motor, das Licht ging aus, und dann schwebte das tiefblau umhüllte Innere der Fahrgastzelle durch die Nacht, vom Industrievorort Reudnitz im Osten über den hell erleuchteten Stadtzubringer, die Laternen waren eine Spende der Asspergstiftung an die Stadt, auf Großschönhausen zu. »Zu leben ist manchmal nichts als Tapferkeit«, stand auf einer Werbetafel, die ein Parfum annoncierte, mitten in den Vorstadtbrachen, daneben die riesige Rotsponraffinerie, hell angestrahlte Flachbauten, von einem hohen, ebenfalls grellweiß beleuchteten Zaun umgeben. Dann kamen McDonald’s und Pizza Hut, Buden, Kneipen und die Diskothek CELEBRITY. Eine Gruppe von Jugendlichen ging auf die Türe zu, die sich in dem Moment öffnete, ein Mann trat heraus, machte in Richtung der Jugendlichen eine Armbewegung und spuckte vor sich auf den Boden aus. Holtrops Kopf drehte sich minimal nach hinten, um dem Bild folgen zu können, ohne aber wirklich teilzuhaben an der Poesie der Objektivität der Vorgänge in diesem Augenblick. Dann schwenkte der Wagen links auf den Stadtring nach Westen ein. Die Autobahn hier war dunkel und kaum befahren, Zuber schaltete das Fernlicht an und beschleunigte. Holtrop wunderte sich darüber, beugte sich vor, um die Tachometeranzeige ablesen zu können, 240 km/h, das war die Legitimität der Neuzeit. In den Häusern abseits der großen Verkehrsadern waren die Menschen sicher, in der Luft und auf den Straßen rasten auch nachts Irre in großem Tempo von einem Ort zum anderen, um dorthin zu kommen, wo sie gerade sein wollten, um dort irgendetwas zu erledigen, Leben ohne Aufschub: »gut«, dachte Holtrop, »sehr gut«. Der alte Assperg war zu alt, um davon noch etwas wissen zu wollen, das war die Tragödie des Gesamtkonzerns Assperg AG, die der CEO Holtrop gar nicht ändern konnte. Kurz vor Taubach ging Zuber vom Gas, die Fahrt verlangsamte sich, der Ausfahrtskreisel Taubach, der die südwestlichen Vororte Schönhausens bediente, war von gigantischen Neonlaternen so hell wie ein Stück belgische Autobahn erleuchtet, Holtrop sah, vom wandernden Lichtkegel erhellt, den angespeckten Kragenrand von Zubers Jackett, die Fettrolle des Nackenwulstes, die dünnen Haarreste am unteren Hinterkopf darüber, dann beugte sich Zuber etwas vor beim Bremsen, der Wagen neigte sich wieder in die Kurve, es ging hinunter, es ging hoch und auf die Ampel, die noch Rot zeigte, am Ende der Ausfahrt zu. Das rote Licht der Ampel wurde immer größer, heller, je näher der Wagen Holtrops kam, und sprang dann rechtzeitig, von einem in den Teer der Straße eingebauten Kontaktsensor informiert, um auf Grün, wie immer. Dann wieder in Zeitlupentempo durch Prieche hindurch, endlich der Abschied von Zuber, »schlafen Sie gut«. Im Haus machte sich Holtrop ein Feierabendbier auf, stand an den Kühlschrank gelehnt da und nahm einen Schluck. An guten Momenten hatte es in seinem Leben, dachte Holtrop, jedenfalls nicht gefehlt. Und weil der Folgegedanke dieses Resümee als Sterbebettgedanken bezeichnete, lachte Holtrop grimmig auf.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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