III
Holtrop hatte mit der flachen Hand, »pa, pa, pa!«, auf den Tisch gehauen, um sich zu verabschieden, die Gläser sprangen, es klirrte, »meine Herren!« rief er aus, von den anderen Tischen kamen einige Blicke, die Gespräche im Festsaal waren für einen Moment leiser geworden, an Holtrops eigenem Tisch wurde gelacht, da war er schon aufgestanden, verbeugte sich, breitete die Arme aus, »gnädige Frau!« sagte er zu der vom Nebenstuhl zu ihm hochblickenden Ehefrau des Kollegen Uhl, »es ist soweit«, er lachte sie an, »Ihnen einen wunderschönen Abend noch zu wünschen, tschüß!«, wobei er die letzten Worte, nach einer Drehung, schon im Abgehen gesagt hatte, im Rausgehen einige Bekannte grüßte, »gehst du schon?« wurde er gefragt, und er nickte nur und winkte, obwohl er auch jedem dieser Bekannten, Freunde und Kollegen ganz direkt und höchstpersönlich die Existenzwahrheit, die ihn auf den Punkt brachte, ins Gesicht gesagt haben könnte: Ehre, Geiz, Geld, Ruhm, oder: Faulheit, Streber, Dummkopf, Intrigant.
Aber das war ASSPERG, die Firma, das war bekannt, das wusste jeder von jedem, was für ein Typ Loser der jeweils andere war, weshalb er auch nicht richtig ernst genommen werden konnte, eigentlich nur zu verachten war. Diese generalisierte, alle Chefs verbindende, die Über-, Unter- und Mittelchefs einende Verachtung füreinander hatte Holtrop schon mit Anfang zwanzig, vor über fünfundzwanzig Jahren, bei seinem ersten betriebswirtschaftlichen Praktikum in der Firma seines Vaters beobachtet. Später hatte er die Verachtung als Basis einer korrupten Kollegialität der Führenden verstanden, die sich gerade in ihrer gegenseitigen Verachtung gegenseitig tolerieren konnten. Mir doch egal, dachte und sagte jeder über jeden, was die Null, der Typ neben mir, plant, vermeldet oder beabsichtigt, es wird ja sowieso nichts, der kann es nicht, dachte jeder über jeden.
Holtrops Vater war nach Ansicht seines Sohns kein wirklich guter Chef gewesen. Er merkte nicht, wie schlecht die Gruppe seiner Mitarbeiter funktionierte, in der alle gegeneinander arbeiteten und jeder nur für sich selbst anstatt für ihn als Chef oder für die gemeinsame Sache der Firma als Ganzes zumindest. Natürlich hätte es der Vater nicht ungern gesehen, wenn sein Sohn, er war der Älteste, es gab noch drei jüngere Töchter, die mittelgroße Firma, die Kartons herstellte und Verpackungen bedruckte, übernommen hätte, wie es der Tradition der Familie entsprach. Aber das kam für Holtrop nicht in Frage. Der ineffektive Führungsstil seines Vaters, der impulsiv intuitiv war, diffus menschenfreundlich, aber oft auch fürchterlich erratisch, hatte Holtrops theoretische Neugier geweckt. Wie funktioniert ein Unternehmen? Wie führt man eine Firma? Als Jugendlicher hatte er eine Zeit davon geträumt, Schriftsteller zu werden. Aber nach dem Abitur und dem Wehrdienst bei der Bundeswehr hatte er an der Hochschule für Betriebswirtschaftslehre in Speyer, die im Bereich Marketing einen exzellenten Ruf hatte, das Studium aufgenommen, mit dem schönen Berufsziel: Professor. Bald nach Beginn des Studiums hatten dann aber die vielen Kontakte mit Menschen aus der Welt der Wirtschaft, auch mit Kommilitonen, die jünger waren als er selbst, diesen Berufswunsch verändert. Vielleicht könnte er doch anders Karriere machen, weder in der väterlichen Klein- und Loserfirma, aber auch nicht unbedingt an der Universität, sondern direkt als Praktiker und Unternehmer, so stand es Holtrop immer deutlicher vor Augen, Karriere etwa als Konzernchef eines Daxkonzerns, und er würde dabei täglich mehr bewegen als nur Papier, Ideen und Konzepte, wie es in den Arbeitszimmern der Wissenschaft auch bei den tollsten Professoren der meist ziemlich wenig glamouröse Normalfall war.
Nicht ohne sich die Türe zur Universitätslaufbahn durch ein Promotionsstipendium, dann durch eine Assistentenstelle noch eine Zeitlang offen zu halten, hatte Holtrop schließlich doch mit ganzer Kraft die CEO-Karriere angesteuert, zwar spät, aber umso zielstrebiger die üblichen Stationen durchlaufen: zwei schnelle Jahre war er als Jungsöldner Berater bei Deloitte, Effektivität und Abstraktion pur, im Dienst der Praxis, das Gegenteil zur Universität, eine faszinierende, grausame, auch lächerliche Lehrzeit, auf die Kälte der Überlegenheit reiner Wirtschaftsrationalität zugespitzt. So bald wie möglich nahm er den Sprung ins operative Geschäft. Holtrop wurde Vorstandsassistent beim Maschinenbauer Voith, wechselte dann in gleicher Position, wobei er im Schwäbischen verblieb, zu Holtzbrinck und von dort, schon zwei Jahre später, aber für das doppelte Gehalt, schließlich zur Assperg AG nach Schönhausen, wo er in der Asspergfirma Druckmaschinen, dem biedersten, aber renditestärksten Unternehmensbereich, Assistent des Vorstands wurde. Mit der Wende beschleunigte sich der Aufschwung der Wirtschaft und mit ihm Holtrops Karriere. Ende 1989 wurde ihm die Sanierung der von Assperg gekauften Westberliner Großdruckerei Dablonskidruck als Geschäftsführer übertragen, das lief gut. Schon ein Jahr später wurde Holtrop vom damaligen Asspergchef Brosse zurück nach Schönhausen in die Hauptverwaltung berufen, um als Leiter von dessen Büro die Reform des Vorstands zu koordinieren.
Während dieser Jahre seines Berufsanfangs hatte sich auch Holtrop in das überall herrschende System der alle einenden Verachtung hineingelebt und damit arrangiert, Kollegen, die Verachtung auf sich ziehen mussten, ganz zu Recht, gab es schließlich überall. Zugleich aber hatte er gegenüber der Verachtung als Prinzip von Führung innerlich Distanz gewonnen in dem, wie er nicht wusste, verboten naiven Glauben an die höchst besondere Andersartigkeit seiner selbst. So wie er in der Beobachtung seines Vaters geglaubt hatte, er werde alle Fehler, die der machte, vermeiden und alles besser machen als der Vater, ging es ihm später mit jedem Vorgesetzten. Er übernahm per Nachahmung, was er gut fand, identifizierte die Defizite, die er vermeiden wollte, und glaubte, er würde jetzt, weil er alles erkannt hatte, die Fehler vermeiden und alles richtig machen können. Holtrop glaubte einschränkungslos an die Freiheit seines selbstbestimmten Handelns. Und die strukturelle Kaputtheit des Systems der Verachtung erzeugte bei ihm vorallem den Überlegenheitsgedanken: gut, dass ich weiß, dass alle so kaputt sind, denn dann kann ich davon profitieren.
Der Erfolg bestätigte Holtrop, anfangs zu seinem eigenen Erstaunen. Bald war er daran gewöhnt. So machte er Karriere, hell und brillant, wie er im Auftreten war, die optimierte Summe aller, eines jeden, der ihm gerade gegenüberstand, so hatte er seinen Aufstieg in der Firma gemacht und genauso heute Abend, beim Festbankett zu Ehren des achtzigsten Geburtstags von Asspergs Altpatriarchen Berthold Assperg, aus dem dekorierten Festsaal der Schönhausener Stadthalle seinen Abgang wieder einmal zum genau richtigen Zeitpunkt genommen, früh, aber nicht zu früh, dafür blitzartig schnell. Da lag er auch schon im Bett, kurz nach halb zwölf, und war auch schon, letzter Gedanke: diese hocheffiziente Präzisionsmaschine, die Führung auswirft, ICH, eingeschlafen auf der Stelle, wie gewünscht.