XXIV

In Wirklichkeit waren es in Krölpa zwei Callcenter, die außerdem, obwohl sie auf dem Firmengelände von Assperg gelegen waren, gar keine richtigen Asspergbetriebe waren, sondern von einem Subunternehmer der Assperger Dienstesparte Advenio in eigener Verantwortung betrieben wurden. Den Weg vom Haupthaus ging die Delegation Holtrop zu Fuß, es war angeblich nicht weit. Auf halber Strecke setzte Nieselregen ein. Empört schaute Holtrop zu Thewenachfolger Leffers hin, der ihn begleitete und mit Informationen zum Termin zutextete. Auch die Straße, eigentlich nur ein schlecht geschotterter Forstweg, der immer löchriger und verschlammter wurde, je weiter an den Rand, je näher zu den Callcenterbauten man kam, bot Anlass für Blicke vorwurfsvoller Empörung. In gesundem Zustand wäre Holtrop von dieser Wanderung erheitert gewesen. Im Mischzustand aus grippaler Entkräftung und gesteigert übellauniger Aggressivität, die von den verschiedenen Tabletten, speziell auch durch die Tradonüberdosis hervorgerufen wurde, war Holtrop vom Dreck der sich hier präsentierenden Umstände dieses Offensivetermins wieder einmal sichtlich extrem, ja: angewidert.

Die Türe des Gebäudes, auf das die Delegation zugegangen war, war verschlossen. Holtrop trat aus der Gruppe heraus und ging einige Schritte zurück. Das Haus war ein provisorischer Neubau vom Anfang der 90er Jahre, fensterlos, flach, verwahrlost. Zur Türe führten metallene Stufen hoch. Holtrop ging dorthin und schaute sich, während die Organisatoren hinter ihm telefonierten, das an die Wand geschraubte Firmenschild an, nagelneu, glitzernd war da die Schrift des Namens zu lesen: CONTACT GmbH. Nach einer Zeit erschien ein dicker Mann mit grinsendem Gesicht in der Türe. Der Mann lachte die Delegation Holtrop aus der voluminösen Mitte seiner Wohlgenährtheit heraus an und stellte sich als Stellvertreter des leider verhinderten Chefs der vom Subunternehmer Contact mit der Personalbereitstellung beauftragten, hier in Bad Langensalza ansässigen Zeitarbeitsfirma TEMPESTA vor, »Lüthje!« sagte er, »wie die Kartoffel!«. Diesen Scherz verstand Holtrop nicht. Lüthje war ein neuer Dicker vom Typ Dobrindt, Mappus, Döring, Heil: jung, fett, bombig unterwegs. »Kommen Sie mit!« rief er und winkte alle herein, »ich gehe mal eben vor!« Im Treppenhaus war ein Geruch von Salamipizza und fauligem Fett zu riechen, eigentlich ein Gestank, es war Mittag halb zwölf, »eigene Kantine!« rief Lüthje und zeigte richtung Keller, während er schnaubend und stampfend die Treppen hochstapfte. Im ersten Stock führte ein enger Gang in die Tiefe des Gebäudes. Lüthje zeigte im Gehen zu schwach funzelnden Lampen an der Decke und sagte: »Sparlichtlampen! Energiebewusstsein! Arbeitnehmerfreundlich!«

Dann öffnete er die Türe eines der sogenannten Floors. Der Raum wirkte eng, die Decke dunkel. In einzelnen Kabinen saßen die Telefonistinnen. Die Delegation versammelte sich auf engem Raum in der Ecke bei der Türe. Es waren etwa acht Reihen mit etwa fünf oder sechs Arbeitsplätzen, die zur Hälfte frei, zur Hälfte besetzt waren. »Alles neue Ergonomik!« sagte Lüthje, »werkschutzsicher perfekt optimiert!«, und zeigte triumphal über die Reihen der Arbeitsplätze hin. Deshalb sei die Zusammenarbeit mit der hier verantwortlichen Contact ein Glücksfall für die Tempesta und ihre Arbeitskräfte. Einige der Telefonistinnen standen von ihren Plätzen auf und kamen zur Delegation in die Ecke. Holtrop begrüßte die Frauen. Sie grüßten auch. Zu einem sinnloseren Termin war Holtrop auf seiner Offensivetour noch nicht gewesen. Was hatten die hier vor ihm stehenden Frauen mit Assperg zu tun: nichts. Was hatte Holtrop als Asspergchef mit der Kaputtheit der Arbeitsbedingungen in diesem erstickend vermufften Telefonistinnen-KZ zu tun: nichts. Was sollte er diesen Leuten sagen? Holtrop breitete die Arme aus und redete los. Dass er nichts zu sagen hatte, hinderte ihn ja wohl nicht daran zu reden. Um den Begriff vom transklassischen Wirtschaften, den der PR-Berater Maschinger für Holtrops Visionen geprägt und Holtrop neulich bei einem Gespräch zur Verwendung vorgeschlagen hatte, ließ Holtrop seine Rede vor den Telefonistinnen des Callcenters in Krölpa jetzt locker herumassoziieren. Holtrops Rede vor den Mitarbeitern war im Lauf der Offensivereise mit der Zeit etwas professioneller geworden, aber nicht unbedingt substanziell gehaltvoller. Im Gegenzug war die Skepsis der Mitarbeiter nach Holtrops Eindruck immer weiter gestiegen. Denn egal ob Holtrop in München ein CD-Presswerk und eine Plattenfirma besucht hatte, in Köln den jüngst gekauften TV-Dienstleister PERFECT SCREEN oder in Hamburg die Zeitschriftenredaktion des Assperger Peopleflagschiffs TALK, überall interessierten sich die Leute, die dort arbeiteten, wenig für Holtrops Begeisterung, noch weniger für seine wirtschaftstheoretischen Allgemeintheoreme, sondern für die eine fundamentale Frage: Wann werden wir verkauft? Wie viele Stellen werden gestrichen? Oder wird gleich der ganze Laden zugesperrt? Der enge, niedrige Raum, in dem Holtrop mit den Telefonistinnen, dem stellvertretenden Tempestachef Lüthje und seiner gesamten Delegation zusammengedrängt in einer Ecke dastand, begünstigte allerdings den Austausch von Sympathie zwischen den Körpern der verfeindeten Lager. Holtrops schlimm angeschlagene Optik erweckte, aus der Nähe gesehen, bei den Frauen Mitleid. Die gestern noch feuerrot angeschwollene Gesichtshälfte war etwas abgeschwollen und eingedunkelt, der Schnupfen hatte die Nase verstopft, der vom quälenden Hustenreiz produzierte Husten schüttelte Holtrop, während er redete. Eine äußerlich erbärmliche Figur abzugeben, erweckte im Gegenüber manchmal Erbarmen. Dies war für den granithaft optimistischen Strahlemann Holtrop eine Neuigkeit. So wie die Frauen mit ihm Mitleid hatten, weil er körperlich erkrankt war, fühlte er im Gegenzug für sie, weil sie sozial Schwache waren, plötzlich eine Art von echtem Mitgefühl. »Sind Sie denn zufrieden hier?« fragte Holtrop die Frauen. »Was können wir aus Ihrer Sicht verbessern?« Zuletzt bekam sogar dieses Gespräch zum Schluss von Holtrops Rede ein minimales Element des Dialogischen. Der absurde, objektiv sinnloseste Offensivetermin bei den mit der Assperg AG kaum mehr als schwach assoziierten Telefonistinnen des Callcenters in Krölpa war zum Schluss dieser Woche der Kaputtheit, bilanzierte Holtrop jetzt, Freitagnachmittag, endlich im Auto unterwegs zurück nach Hause, denn den Termin in Hamburg hatte er kurzfristig abgesagt, ein etwa zehnminütiger Moment von Sinn gewesen.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072_split_000.html
part0072_split_001.html
part0072_split_002.html
part0072_split_003.html
part0072_split_004.html
part0072_split_005.html
part0072_split_006.html
part0072_split_007.html
part0072_split_008.html
part0072_split_009.html
part0072_split_010.html
part0072_split_011.html
part0072_split_012.html
part0072_split_013.html
part0072_split_014.html
part0072_split_015.html
part0072_split_016.html
part0072_split_017.html
part0072_split_018.html