XIV

2006. »Sylt ist furchtbar, Sylt gefällt mir nicht, suchen wir lieber etwas Schönes im Süden«, hatte Holtrop zu Mack gesagt, und das folgende Frühjahr über war Mack ein paar Mal an die Côte d’Azur gereist und hatte sich verschiedene Objekte zeigen lassen, in Monaco, Nizza, Cannes, aber die Gegend war eigentlich leergekauft und zugebaut, am schönsten war das Hinterland immer noch in St. Tropez, obwohl es auch dort inzwischen auf den Hügeln des Nordens von traurigen Billigsiedlungen scheußlicher, auf engstem Raum zusammengedrängter Kleinhäuser nur so wimmelte. Madame Prunelle, die für Mack in St. Tropez arbeitete, hatte in La Rouillère etwas Schönes im Angebot, was Mack gefallen hatte. Holtrop war dazugekommen und hatte moniert: »Aber da sieht man ja gar nichts!«, weil man nur Bäume, Landschaft und Himmel sah, aber nichts vom nahen Meer. Ein andermal war das Meer zu sehen, aber leider auch der Tennisplatz des Nachbarn. »Nein«, sagte Holtrop, »das ist nicht schön!« Dabei schaute er Mack an, und der nickte, als habe Holtrop völlig recht. »Kann man denn nicht vielleicht weiter oben«, sagte Holtrop zu Mme Prunelle, »für ein paar Millionen mehr?«, dazu machte er mit beiden Händen Bewegungen der Weitläufigkeit vor seinem Gesicht und eine Geste ins Land hinein und aufs Meer hinaus, da gingen die Augen der Maklerin zustimmend auf, »mais oui, oui!«, sie fuhren zu einem Anwesen in Bagary, einzeln auf einer Erhebung gelegen, von altem Baumbestand umgeben, Villa und Nebengebäude dick aufgemotzt und aufgespritzt im Neopalazzostyle. Das gefiel Holtrop, nur die Nähe des Golfplatzes war ihm unbehaglich. Und zwischen Villa und Pool stand eine dramatisch gewachsene, weit ausladende Kiefer, unter der Holtrop auf den Pool zuging, wobei er mit den Händen über dem Kopf nach der Sonne tastete, den erhobenen Befund kopfschüttelnd kommentierte und Mack und Mme Prunelle mitteilte: »Keine Sonne nachmittags hier, schlecht.« Es war April, es war schon warm, im Sommer würde man froh sein um jeden Zentimeter Schatten am Pool. Aber Holtrop hatte sich berufsbedingt einen aggressiven Nörgelinfekt zugezogen. Wo früher hysterisch generalisierte Begeisterungszustimmung war, war jetzt Generalmissmut die Grundhaltung, mit dem Spruch, den Holtrop auch hier brachte: »Das Bessere ist der Feind des Guten.« Dabei wedelte er mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor Mme Prunelle hin und her, um seine Ablehnung zu unterstreichen, seine Vorsicht, die Skepsis, »nein, nein«, rief er, das sei noch nicht das Beste hier, er habe keine Eile, er wolle nur das Allerbeste, alle wollten ihn überall nur noch über den Tisch ziehen inzwischen, aber er lasse sich nicht mehr über den Tisch ziehen, diese Zeiten seien vorbei, nur weil ein bisschen Geld da sei, müsse er sich nicht von jedem zweiten hinter die sogenannte FICHTE führen lassen usw. Dieses enthemmt geschwätzige Gerede war Ausdruck einer völlig irren Weltapperzeption, in die der Erfolg seiner neuen Geschäfte Holtrop in einem unglaublichen Tempo hineingeführt hatte. Zusätzlich zu seinem Job in London hatte Holtrop vor einem halben Jahr einen Sitz im Aufsichtsrat des Geräteherstellers Lanz AG übernommen. Die Mehrheitsaktionärin Gabriele Heintzen hatte ihn, von Mack ermutigt, im Herbst angerufen, sie brauche seine Hilfe, Lanz sei in Not, sie bewundere Holtrop als mutigen Unternehmer, das habe sich neulich in Festenbergskreuth für sie bestätigt, damit meinte sie ihr Sommerfest, er sei ihre letzte Hoffnung, Lanz habe unglaublich Potential, zuallererst habe sie an ihn gedacht, wage kaum zu fragen usw. Und dann hatte Holtrop sich ein paar Papiere zeigen lassen und gesagt: »gut, probieren wirs!« und hatte sofort bei der Lanz AG in München im Aufsichtsrat und als Sondergeneralist und Berater der Besitzerfamilie angefangen und schon nach wenigen Wochen, im Vorbeifahren sozusagen, festgestellt: »Das kann man alles sehr viel besser machen.« Das waren die Sätze, die Gabriele Heintzen hören wollte. Der alte Vorstand war nicht so sehr erfreut. Das war Holtrop egal. »Kann ich mal die neuesten Zahlen sehen!« kommandierte er, ließ die Lanzführung bei sich im Büro antanzen und klopfte im Nörgelmodus mit dem Finger auf das ihm vorgelegte Papier: »Hier, Verlust, schlecht!« Und weil im ganzen Land in diesem Herbst nach der Abwahl der ausgebrannten und abgewirtschafteten Altregierung unter Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der seine Kanzlerschaft aus einer Überdrusslaune heraus per Neuwahlbeschluss verzockt hatte, überall eine diffus arbeitsam gestimmte Lust auf Neues spürbar war, das Alte als hallodrihaft und unseriös empfunden wurde, ohne dass irgendjemand, schon gar nicht die Neubundeskanzlerin Merkel oder der Neuaufsichtsrat Holtrop, konkret hätte sagen können, was genau sich jetzt ändern würde und müsste usw, war aber auch bei Lanz in München die Grundstimmung umfassend auf Neuanfang ausgerichtet und Holtrop, kaum hatte er im Aufsichtsrat angefangen, von allen Seiten schon gedrängt worden, den alten Aufsichtsratschef abzulösen und selbst den Vorsitz zu übernehmen, und zwar möglichst schnell. Holtrop zierte sich nur kurz. Vom eigentlichen Geschäft der Lanz AG, die als Gerätehersteller firmierte, in echt ein wirres Konglomerat aus Alteisen, Neugas, Riesengeräten und Mikroideen war, hatte Holtrop keine Ahnung. Aber das war nicht der Punkt. Holtrop hatte in seiner Zeit als Firmenaufkäufer bei Cain den magischen Röntgenblick bekommen und perfektioniert, wodurch er Firmen im Blickdiagnoseverfahren von außen erfassen, durchschauen und bewerten konnte und im selben Moment auch noch bis ins letzte Detail analysiert und verstanden hatte. Und weil dieser magische Blick Holtrop Erfolg gebracht hatte, und zwar in der so schwer widerstehbaren, urüberzeugenden Form von Geld, Geld und noch mehr Geld, hatte Holtrop an dieser speziellen Stelle seines Lebens keine Chance, das gefährlich Hochstaplerische seiner Bereitschaft erkennen zu können, auch noch als einziger, die ihm angetragene Herausforderung anzunehmen und, wie er überall herumerzählte, rein aus Mitleid für die arme Gabriele Heintzen, deren Drängen nachgegeben, zugestimmt und sich zum Chef des Aufsichtsrats machen lassen.

Der Sommermärchensommer kam. Lanz war wieder pleite. Kredite, Mieten, Lieferanten, dieselbe alte Arie, die Holtrop bei Assperg fast wöchentlich von Ahlers immer neu vorgeleiert worden war, wurde ihm jetzt vom versammelten Lanzvorstand so lange und so hilflos vorgetragen, bis er sagen musste: »Sie können es nicht.« »Aber könnten denn nicht Sie!?« fragte mit flehender Stimme Gabriele Heintzen zurück. »Das kann Lanz nicht bezahlen.« »Warum?« rief sie erschreckt, »natürlich!« Und dann bekam Holtrop diesen später als beinahe sittenwidrig eingestuften CEO-Vertrag bei Lanz, der es ihm erlauben sollte, die inzwischen fünfzehn, siebzehn Millionen Euro schwere Stelle bei Cain in London zu behalten, dort nebenher weiterzuarbeiten, alle Reisespesen frei und garantiert im Flugzeug usw, und nur das eigentliche Lanz-CEO-Gehalt plus Boni sollte bei 3,5 Millionen Euro gedeckelt sein. Ins Tatenregister der Bösen wurde dieser Ausplünderungsvertrag aufgenommen unter: die Wucherer. Kurz nach dem Ende der Fußball-WM saß Holtrop mit Mack abends in Nizza vor dem Fischrestaurant Le Girelier am Hafen, Holtrop hatte im Mai schließlich doch bei Nizza ein recht schönes Anwesen gefunden und von Mack, steuerlich besser darstellbar, für sich einkaufen lassen, jetzt schaute Holtrop auf parkende Autos, vorbeiflanierende Passanten und die weißen Yachten dahinter und dachte an Skernings Oldtimergeschichten, die der ihm bei einem Regattatraining vor zwei Jahren in St. Tropez erzählt hatte. Aber die heutigen Yachten gefielen Holtrop doch besser als die alten Schiffe, auch wenn sie nur aus Plastik waren. »Was kostet so ein Boot?« fragte Holtrop. »Zum Mieten oder Haben?« »Naja, man würde es natürlich schon lieber haben wollen, oder?« »Vier Millionen, sechs«, sagte Mack und freute sich schon, »man kann auch neun Millionen ausgeben oder fünfzehn.« Holtrop nickte. Vielleicht könnte er dort das von der Lanz AG her zusätzlich und für vorerst drei Jahre auf ihn eindrängende Geld sinnvoll unterbringen. Mack merkte, dass Holtrop rechnete, und sagte, um ihn zu provozieren: »Gibt dann natürlich laufende Kosten.« »Natürlich«, sagte Holtrop, obwohl er daran im Moment nicht gedacht hatte, »laufende Kosten gibt es immer.« Das war es, was Mack an Holtrop mochte: Holtrop träumte, er rechnete. Aus dieser Differenz entstand für Mack geldwerter Gewinn. »Ich hör mich mal um«, sagte er zu Holtrop, und Holtrop, der das Gewinnstreben von Mack mochte, weil es ihm das Leben ermöglichte, das er heute führte, schaute Mack an und nickte und sagte: »Das ist sehr gut.« Dann lehnte er sich zurück, schaute auf die dicken weißen Boote und ließ sich den abendlichen südfranzösischen Sommerwind ins Gesicht wehen.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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