II

JULI. Ein Aufwind ging durch ihn durch, ein abiturientenhaftes Freiheitsgefühl erfüllte ihn für einen Moment: jetzt war er also endlich frei, die Welt stand ihm offen, alles war möglich, »ganz einfach«, dachte Holtrop, »herrlich«, der Zwang war weg, und von jetzt an würde er nur noch tun, was er wollte und wozu er Lust hatte und sonst nichts mehr. Das Gefühl war Kitsch, im Kern Depression, aber darüber wusste Holtrop, dessen Existenz bisher komplett von außen stabil gehalten worden war, wenig. Auch hatte er keine Erfahrung damit, wie die Leere der inneren Räume, die sich ihm plötzlich in den Gefühlsregungen öffneten, zu begehen, zu verstehen, ins Lebensganze hinaus zurückzuübersetzen wäre, er wusste gar nicht, wie das geht, in Dialog mit seinem Ich zu leben. Ungeduldig fiel sein Blick wieder auf das Handy, das auf der weiß lackierten Metalltischplatte des Gartentischs vor ihm lag, schwarz und stumm, und die ganze Zeit keinen Ton von sich gab, es war still, vibrierte nicht. Holtrop hörte ein Geräusch von hinten und drehte sich um. Bei den Büschen bewegte sich am Boden ein flüchtendes Tier durch erdnahe Zweige. Dann ein Schrei von oben, Holtrop schreckte erneut herum, schaute hoch und sah einen knäuelartig zusammengeballten Flugkörper durch die Leere des Himmels über sich in die Tiefe stürzen, ein ganz normaler Raubvogel, nur sehr schnell, der von hoch oben her auf die Baumwipfel am äußeren Rand des Grundstücks zuhielt. »Herr Holtrop?« »Ja?«, antwortete Holtrop und ging auf die Frau im Hausmädchenkostüm zu, die vor der Wohnzimmertüre auf der Terrasse stand. Sie hatte ein Telefon in der Hand und winkte ihm damit zu. »Ein Anruf für Sie aus Brüssel«, sagte sie, und während Holtrop nickte und »sehr gut« sagte und über die Wiese auf das Haus zuging, kam ihm der verdunkelte Hochraum in den Sinn, der in Luxemburg von der Veerendonckbank als Bargeldschleuse benutzt wurde, Freigeld aus Brüssel war dort für ihn eingetroffen. Der Raum, in dem die Akten wie Gefangene gehalten wurden, war ein hoher, düsterer, an den Wänden mit Regalen bis zur Decke hoch zugestellter Bankraum im Keller. Die Regale waren mit zusammengesunkenen Papieren gefüllt. Ein Wandstreifen war frei, dort hing eine Uhr. Darunter stand ein Schreibtisch, gegenüber ein Arbeitstisch, um den herum fünf Stühle, alles war aus grobem Kantholz gemacht, dicke hölzerne Bohlen am Boden, kein Teppich. Von draußen kamen Schritte näher. Die Türe ging auf, der von Mack beauftragte Bargeldbote kam herein, nickte, schaute sich um und nahm das auf dem Tisch für ihn bereitgelegte Kuvert an sich. »Vielen Dank«, sagte Holtrop zur Hausmädchenfrau und übernahm das Telefon von ihr, dann drehte er sich wieder gartenwärts und meldete sich in den Hörer hinein mit seinem Namen. Der Anrufer aus Brüssel machte ihm die erfreuliche Mitteilung, dass die vorzinslichen Überlaufbecken des Luxemburger Bargelddepots mit der heutigen Einzahlung auf doppeltes Fassniveau angehoben werden konnten, und erklärte die steuerrelevanten Implikationen dieser für Holtrop vorteilhaften Depotanpassung. »Aha, aha«, sagte Holtrop mehrmals, ohne Einzelheiten zu verstehen, »verstehe, sehr gut, danke« und ging dabei über die hell besonnte Wiese zum Gartentisch zurück.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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