IX
Seit Thewes Verschwinden im vergangenen November war die Frage nur noch gewesen: wo und wie wird er gefunden? Thewe habe versucht, sich zu erhängen, erklärte Dirlmeier am Telefon, es seien bei der Obduktion der Leiche entsprechende Spuren festgestellt worden, der Tod sei letztlich aber durch Unterkühlung eingetreten. Wodurch die Leiche identifiziert werden konnte, wusste Dirlmeier nicht. »Dann rufen Sie doch dort an!« schrie Holtrop, »das wird man doch wohl noch erfahren dürfen. Ist ja nicht zu glauben!« Dabei haute Holtrop, der noch in seinem blaurot gestreiften Schlafanzug war und seine Suite empört ablief, die Zimmer durchtigerte, das Papier der Anwälte, das gleich unterzeichnet werden sollte, gegen die an ihm vorbeirasenden Möbelstücke, den Schreibtisch, das Sofa, den Stuhl, die Lampe, das Bett, zuletzt gegen die Fensterscheibe, vor der er stand. Unten sah man die aufgeblasene Schwellkörperskulptur des Convention Center riesig und hell im Morgenlicht daliegen, dahinter den Binnenhafen, von Schiffen durchpflügt. Holtrop drehte sich um. Sanfte Farben, hellbeiges Holz, hellbraunes Leder, indirektes mildes Licht und sandfarben heller Boden: »ja«, dachte Holtrop, »gut!«, sagte dann, »wann ist denn die idiotische Beerdigung?« »Laut Testament«, sagte Dirlmeier, »aha!, ein Testament!« rief Holtrop mit einem hysterischen Lacher dazwischen, »wollte Thewe sich verbrennen lassen.« »Ist doch völlig egal, ob er in der Urne oder im Sarg beerdigt wird.«
Der Freveltext vergnügte Holtrop. Dass Thewe zum Abschied noch eine solche Soap aufführen würde, war für Holtrop der größte Witz, seine eigenen leichenblasphemischen Abwehrwitze kamen ihm demgegenüber nur zu berechtigt vor. Ein Mensch, der sein Leben den anderen absichtlich tot vor die Füße schmeißt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die mit ihren Fußtritten dagegentreten. »WAS?« schrie Holtrop, der Dirlmeiers Erklärungen zum Pressetext, den Assperg morgen herausgeben würde, nicht ganz verstanden hatte. »Hat Flath den Text schon fertiggemacht?« fragte Holtrop und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Dann redete Dirlmeier, Holtrop stocherte mit der Zahnbürste in seinem Mund herum, wodurch er Dirlmeier kaum verstehen konnte. »Kann Sie kaum verstehen, Dirlmeier!« rief Holtrop kaum verständlich, »schicken Sie den Text, ich melde mich!« Dabei unterbrach er die Verbindung und warf das Handy, das sofort wieder läutete, durch die Badezimmertüre nach draußen auf den Boden des sogenannten Living Room. Holtrop zog den Bademantel über, schlüpfte in die primitiv bedruckten weißen Frotteeschlapfen des Hotels und schlurfte zum Aufzug, fuhr hinunter in den 11. Stock, von einer Aufwallung guter Laune erfasst in dem Moment, als er die herrlich luxuriöse Badewelt des Spa betrat. Es roch nach Hölzern, Sauna, Aufguss, edlen Kräutern, Wald.
Holtrop ging gleich durch zum Fitness Center, ließ sich Badesachen und einen Trainingsanzug geben und setzte sich auf einen Hometrainer mit Blick nach draußen auf den Wasserfall und die Pflanzen der Oase. »Ja, ja, ja«, dachte Holtrop bei jedem Fußtritt in die künstlichen Pedale, weil sein Körper dabei eine solche Wohltat von der Anstrengung der Bewegung empfing. So radelte er fünfzehn Minuten und bedachte Leben und Tod, sein Leben, den Tod von Thewe, die Reise, die vor ihm lag, Shanghai, Peking, und die, die Thewe angetreten hatte, sinnloserweise vor der Zeit und freiwillig. »Wozu?« dachte Holtrop. Was denkt sich so ein Selbstmörder eigentlich, wenn er die Schlinge zuknöpft, die ihn befreien soll von der Qual des Lebens? Wahrscheinlich denkt er wenig. Oder irre viel? »Man weiß es nicht«, dachte Holtrop, und der Unwille dagegen, wie Thewe ihn mit seiner letzten Tat anhaltend und penetrant belästigte, schoss erneut hoch in Holtrop, wurde Zorn. »Diese Null«, dachte Holtrop und stieg vom Rad. Er ging nach draußen, sprang in den Pool und fing zu kraulen an. »Ja, ja, ja«, Thewe war tot, aber er, das merkte er beim Kraulen, »ich, ich, ich«, dachte Holtrop, lebte.
Zur Unterzeichnung des Vorvertrags hatte Magnussen die für solche Zwecke im Hotel vorgesehene Bibliothek auf dem Mezzanine Floor um halb elf Uhr für eine Stunde gemietet. Holtrop saß in seiner Suite und arbeitete, er hatte sich nach dem Schwimmen massieren lassen, gefrühstückt und nutzte jetzt die Stunde der Stille, während es in Deutschland noch Nacht war, ruhig, und weniger als untertags geredet und gesendet, kommuniziert und intrigiert wurde, der Beginn des kommenden Morgens schon fertig angelegt, jedoch noch nicht wirklich eingetroffen war, über nächtliche Autobahnen die neuesten Tageszeitungen ausgeliefert wurden, in Krölpa das Arrowhochhaus von dem Cleanimpact-Team unter Leitung von KGB-General Dobrudsch konspirativ wieder frisch bearbeitet wurde usw, um in aller Ruhe den gestern gefassten Plan seines Buches SOFORT, »wann, wenn nicht jetzt!«, hatte sich Holtrop etwa zweieinhalb Minuten nach Einnahme der ersten Tablette Tradon um 9:47 Uhr gesagt, in die Tat umzusetzen, hatte sich dazu an den Schreibtisch gesetzt und mit fliegenden Fingern auf dem dicken Hotelpapier, das in der Schublade bereitlag, die Gliederung, die Inhaltsangabe, die Einleitung, das Exposé und das erste, sehr private Kapitel über seine geliebte Großmutter, die ihm deutsche Balladen vorgelesen hatte und so seine Liebe zur Freiheit in Deutschland und zur deutschen Literatur natürlich überhaupt erst geweckt und begründet hatte, nieder, nieder, niedergeschrieben.
Es klopfte, es klopfte an der Türe. »Herein!« schrie Holtrop manisch. Die Türklinke wurde betätigt, aber die Türe ging nicht auf. »Was ist?« schrie Holtrop und sprang hoch, stürzte quer durch seine Suite und riss die Türe auf. »Ich sollte Sie abholen«, sagte mit kaum hörbar leiser Stimme und ohne die Lippen zu bewegen das dicklich aufgedunsene Gesicht von Magnussen, das eine halbe Etage unter Holtrop schwebte, und nur die rechte Augenbraue von Magnussen zuckte zweimal skeptisch in die Höhe, eventuell zuckte sie auch nur aus Nervosität. Die Eleganz von Magnussens Anzug und ingesamtigem Aufzug deklassierte Holtrop, der von zuhause Ideale und Ideen, aber in Dingen des Auftretens nur den normalen deutschen Trampelstil mitbekommen hatte. Magnussen kultivierte altenglischen Snobismus, äußerlich, geistig, er war auch sehr reich, das machte ihn unabhängig von Holtrops Allüre: den kaufe ich mir mit Haut und Haaren. Den Job als Asspergrepräsentant Fernost hatte Magnussen nur angenommen, um sich auf seinen Reisen quer durch Asien, die er sowie-so machte, etwas weniger zu langweilen. »Es ist zehn vor halb, soll ich in fünf Minuten nocheinmal kommen?« fragte das blonde Monster höflich. »Wieso denn?« sagte Holtrop, der plötzlich und ohne zu wissen wieso, in unerlaubt mimetischer Weise genauso leise sprach wie Magnussen.
»Kommen Sie rein, ich bin gleich fertig.« Holtrop trat zurück, machte mit der rechten Hand eine in den Raum weisende Geste, der Magnussen folgte. Es war nicht so, dass Holtrop nicht wusste, wie das geht, aber es fehlte jeder Bewegung und seinem Stil als ganzem die in die Zeiten hinunterreichende Tiefenselbstverständlichkeit, ohne die Stil sinnlos war, weil er, egal wie perfekt vorgetragen, stillos blieb. Das Wichtigste kann man nicht lernen, nicht kaufen: Geld, Denken, Scham. Magnussen ging quer durch die Suite zur Sitzgruppe, setzte sich auf das Sofa dort und zündete sich eine Zigarette an. Holtrop nahm den Packen Papiere, der auf dem Schreibtisch lag, und warf ihn vor Magnussen auf den Couchtisch. »Mein neues Buch«, sagte Holtrop, als hätte er schon vier geschrieben, »können Sie lesen. Ich bin gleich bei Ihnen.« Im Bad schluckte Holtrop noch eine Tablette Tradon und schüttete zwei Gläser Leitungswasser hinterher. »Ist dieses Wasser hier eigentlich trinkbar?« fragte Holtrop nach draußen. »Selbstverständlich«, antwortete Magnussen, der zurückgelehnt dasaß, rauchte und die Papiere, die vor ihm lagen, nicht angerührt hatte. Holtrop kam zurück. »Und?« sagte er und deutete auf das Manuskript. »Großartig«, antwortete Magnussen. Dann gingen sie nach unten zum Signing.