XVI

2008. Nachts war Holtrop hochgeschreckt, Atemnot, ein Herzanfall. Er wollte atmen, konnte aber nicht, er kriegte keine Luft mehr, der Brustkorb ging plötzlich nicht auseinander. Er setzte sich auf und saß mit durchgedrückten Armen und tief hängendem Kopf auf der Bettkante und wartete höhnisch auf das Ende, das Abklingen der Brusteinpanzerung, der Atemnot, des Lebens in der Hölle dieser Nacht, auf die Verbesserung, die ihm sein Körper demnächst doch wohl gleich anliefern würde, in den nächsten Sekunden, oder etwa nicht? »Scheußlich«, dachte Holtrop, abgestoßen von sich selbst, denn dass alles immer besser werden würde, zumindest für ihn, war Holtrops von keiner gegenteiligen Lebenserfahrung widerlegbare, bisher zumindest unwiderlegte Letztüberzeugung, der fratzenhafte Hohn auf seinem Gesicht kam von daher, der kalte Schweiß und die entblutete Fahlheit dort waren rein kreislauftechnisch bedingte Reaktionen auf den inneren Herzklumpenkrampf. »Ja«, dachte Holtrop bitter, »was zu beweisen war.« Nach einer Zeit kehrte das Leben in ihn zurück, er nahm eine doppelte Xanax, legte sich wieder hin und fiel in einen tiefen, narkosegleichen Schlaf. Mit Bodenhausen saß er in einem Fiaker hinten drin, der Kutscher hatte einen hohen Zylinder am Kopf, die Hufe der Pferde klapperten auf dem Asphalt der kleinen Straßen, die quer durch die innere Stadt von der Hofburg zum Café Engländer führten, wo Bodenhausen mit Akademiepräsident Jorn zum Abendessen verabredet war. Bodenhausen warnte Holtrop, der in den letzten Monaten immer öfter über Wien reiste, um von Cain kommende Ostgelder hier aufzufangen, umzutransferieren und gestückelt auf Konten bei der mit Veerendonck liierten Hypo Alpe Adria Bank einzuzahlen. Bodenhausen redete von einem großen bösen Tier, dem SCHWARZEN SCHWAN, dessen Erscheinen eher bald als später zu erwarten sei, und Holtrop schaute Bodenhausen mit wachsender Skepsis von der Seite bei diesen Reden zu und versuchte vergeblich, dem Gesagten zu folgen. Vor dem Engländer hielt der Fiaker an, Bodenhausen bezahlte den Kutscher, Leben wie ein Wiener in Wien, fand Holtrop einschränkungslos gut. Dann verabschiedeten sie sich voneinander, und Holtrop ließ sich nach Schwechat hinausfahren, um von dort nach London zu fliegen, saß schon in seinem kleinen Privatjet, der steil in den Abendhimmel hochzog, schaute kurz aus dem Fenster und wendete sich wieder der Zeitung zu, die er in weniger als drei Minuten durchgelesen, durchgeblättert, atmosphärisch inhaliert hatte, geistig federnd, wie der Weltkontakt in echt ja auch geworden war, wenn er an einem Tag in vier deutschen Städten, München, Düsseldorf, Berlin, Hannover für schnelle Kurztermine leibhaftig erschien, verhandelte, Entscheidungen verkündete und schon wieder verschwunden war, »kommen Sie, setzen Sie sich!« sagte Holtrop und ging auf den jeweils nächsten, den er empfing, am liebsten im eigenen Flugzeug, mit einer Freude zu, die den gleich erzielten Verhandlungserfolg schon vorwegnahm, anmaßend, charmant, immer schön lässig federnd auch im Auftritt. Und mit einem souveränen Lächeln im jetzt höchst vital durchpulsten Dandygesicht betrat Holtrop gegen zehn Uhr abends in der City von London die Bar des Eight Club, wo sein Erscheinen ein freudiges Aufjohlen hervorrief, die trinkfestesten der Cainkollegen, die dort den vierzigsten Geburtstag des Cainpartners Heep feierten, prosteten Holtrop zu, zerrten ihn an die Theke, hauten auf den Tresen und wendeten sich auch schon wieder von ihm ab, um weiter aufeinander einzureden und miteinander zu reden, jeder mit jedem, alle mit allen: »Work hard, party harder, be happy, don’t die.«

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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