XXIX

Dann redete der Bürgermeister. Diese Rede war wirklich schlimm. Dagegen war die von Kate Assperg zuvor gehaltene Rede tiefsinnige Poesie gewesen. Der Bürgermeister hatte einen sehr stumpfsinnigen Redenschreiber offenbar, anders war das Niveauchen der Rede nicht zu erklären, oder wer war das eigentlich, der in so einer mittleren Mittelstadt wie Schönhausen mit vielleicht hundertachtzigtausend Seelen für den Text solcher Reden zuständig war? Schmidt merkte, dass er für seinen Bericht noch nicht genug wusste, auch dieser Gedanke belustigte ihn, denn er würde am Montag die Pressestelle des Schönhausener Rathauses aufsuchen und dort die entsprechenden Zuständigkeiten, Dienstwege und Referentengestalten knallhart, wie es sein journalistischer Auftrag war, recherchieren. Die Rede war schlimm, aber noch schlimmer war die Optik und das Auftreten von, Blick ins Programm, »Bürgermeister Otto Keller«, der exakt so ausschaute wie der später bundesweit bekanntgewordene Duisburger Oberbürgermeister »Adolf« Sauerland, vorallem der Bart um den Mund, die hohe, leere, breite Stirn und die fieseligen braunen Haare, das Fettige und Speckige und dümmlich Schnaubende beim Reden wirkten auf den von außen kommenden Beobachter ziemlich irritierend. Für die Schönhausener selbst und so auch für die hier versammelt vor sich hin dösenden Asspergianer war jeder Spruch des Bürgermeisters so sehr bekannt und so oft schon gehört, dass nichts störte, die Rede gar nicht auf Sinn hin wahrgenommen wurde, dass alles einfach nur sagte: wir hier in Schönhausen wissen, dass es gut ist, dass es Schönhausen gibt. Und dieses Wissen soll der Welt bekanntgemacht werden. Das war der Inhalt von Kellers Rede, Werbung für Schönhausen. Prütt und seine Landschaften waren Werbung für die hiesige, Schönhausen umgebende wunderschöne Natur, die Ausstellung hier in den Räumen der Stiftung war Werbung für die Kulturfreundlichkeit der Stadt, und der achtzigste Geburtstag des alten Assperg war Werbung für den Industriestandort Schönhausen, der die Assperg AG mit groß gemacht hatte, so wie Assperg die Stadt. Dass es unschön sein könnte, die ganze Zeit sich selbst zu loben, dass ein so aufdringlich für sich selbst werbendes Selbstlob auch abstoßend wirken könnte, dafür war beim mittleren Trottel, der öffentlich auftrat, generell jedes Gefühl längst und endgültig abgetötet. Keller war auch darin, wie in allem, nur Normalität. Er sagte seinen letzten Satz, grinste, lachte und ging unter tosendem Applaus ab, es folgte die zuvor von Wenningrode angekündigte erste Musik.

Ein Pianist kam auf die Bühne, verbeugte sich, setzte sich an den Flügel und spielte eine sehr bekannte Bachtoccata. Das donnerte und jubilierte, das ging in die Beine, es fehlte nicht viel, und Schnur, der sich als der eigentliche für die gute Laune verantwortliche Animateur der Matinee verstand und schon mit dem Oberkörper leicht mitwippte, verkrampft natürlich, weil Schnur ein anstrengend gehemmter, verkrampfter Mensch war, würde aus dem Mitwippen in ein Mitklatschen mit beiden Händen übergehen, aber Schnur beherrschte sich und den rhythmischen Impuls in seiner rechten Hand, die im Takt immerhin leise auf seinen rechten Oberschenkel klopfte, ganz der Debilität des starken Rhythmus fröhlich ausgeliefert. Noch während die Musik spielte, wurde Schnur von einem bösartigen Giftblick von Kate Assperg getroffen und daran erinnert, dass in ihren Augen alles wieder falsch lief. Was Kate Assperg verärgert hatte, wurde Schnur klar, als er den für Holtrop leer gehaltenen Platz zwei Stühle neben Kate Assperg sah. Ganz zuletzt hatte sie ihn eigens noch angewiesen, in der ersten Reihe auf jeden Fall alle Plätze zu besetzen, weil es ganz schrecklich ausschauen würde, wenn die erste Reihe nicht durchgehend besetzt sei. Auf dem Platz neben dem leer gebliebenen Holtropstuhl saß Wenningrode. Er saß jetzt starr und unbewegt da, völlig eins mit sich selbst und der inneren Leere, die in ihm war und sein Selbstbild prägte: von Firlefanz nicht erreichbar. Das war es, was Wenningrode an sich selbst am meisten mochte, dass ihn eigentlich nichts störte, weil von außen nichts durchkam, was stören hätte können, und innen sowieso nur das Erwünschte vorging, meistens nichts. »In der Ruhe liegt die Kraft«, sagte Wenningrode seit etwa fünfzig Jahren täglich mindestens zweimal, den Spruch hatte er als Kind von einem Bruder des Vaters gehört, auch der Vater Wenningrode hatte seinen Kindern den Sinn der Ruhe machtvoll, schweigsam und dumpf vorgelebt, alle Wenningrodes hatten immer schon »beim Assperg«, wie das in Schönhausen hieß, gearbeitet, lebenslang in irgendeiner Halle mit Maschinen, zufrieden und unaufgeregt, ganz ruhig, und wie der Sohn hatte auch schon der Vater Wenningrode jede Bewegung immer schön langsam gemacht und am allerliebsten: gar keine Bewegung.

Rumps, ein letzter Akkord, da war die Musik aus. Alle klatschten, so auch Wenningrode, dann kam die nächste Rede, jetzt war Wenningrode selbst dran. Er ging wieder vor ans Pult und sagte das, was sein Büro ihm für diesen Samstag vorbereitet hatte. Zeit verging dabei. Fertig. Nocheinmal Musik, wie zuvor, Wenningrode saß wieder auf seinem Platz, es war ihm egal, ob er hier saß oder zuhause, und dann war der Festakt vorbei, und alle gingen von der Rotunde wieder nach draußen in die Aula. Wenningrodes Körper stand sackhaft bei irgendwelchen anderen Körpern, zu einer Gruppe von vier oder fünf Leuten versammelt, der normale Nulltext, der automatisch geredet wurde, kam aus den anderen und aus Wenningrode heraus, ganz von selber und ohne jede Anstrengung. Es gab etwas zu essen und zu trinken, das merkte Wenningrode daran, dass er mit seinem Mund das Essen kaute, es schmeckte nach Essen, das Getränk war flüssig und konnte zum Nachspülen verwendet werden. Dass Thewe nicht erschien, wunderte Wenningrode nicht, denn er hatte vergessen, dass er Thewe hierherbestellt hatte. Es wäre ihm auch egal gewesen, wenn es ihm eingefallen wäre oder wenn Thewe erschienen wäre, so war es ihm natürlich lieber, »kein Thema«, wie das auf Wenningroderisch hieß, den Spruch sagte Wenningrode stündlich etwa zwanzig Mal: »kein Thema«. Thewe: »Kein Thema.« »Noch einen Schluck?«: »Kein Thema.« Krölpa und der Ärger in Krölpa: »Kein Thema.« Die Steigerung von »kein Thema« war »kein Problem«. Irgendein Unter kam, um sich zu verabschieden. »Auf Wiedersehen, Herr Wenningrode!« Wenningrode: »Kein Problem, Wiedersehen.« Der praktisch realisierte IQ, auf dem Wenningrode sein Leben als Dienstevorstand der Assperg AG lebte, lag bei knapp über neunzig Punkten, wenn mehr gefordert war, konnte man immer noch, so Wenningrodes Vorstellung von seinen Geistesaktivitäten, bisschen zulegen. Auch das war für ihn natürlich »kein Thema« und schon gar »kein Problem«. Als sich die Räume der Stiftung langsam leerten und immer öfter irgendjemand zum Verabschieden kam, die Heimgehdrift deutlich spürbar wurde, ließ Wenningrode sich davon aufnehmen, sagte den zufällig bei ihm Stehenden aufwiedersehen, ließ sich nach draußen treiben und von seinem Fahrer, der vor der Türe auf ihn wartete, dorthin bringen, wo die Nichtigkeit seiner Existenz ihr unüberbietbares Nulligkeitsmaximum erreichte: nach Hause. Der Fahrer: »Nach Hause?« Wenningrode: »Ja.«

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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