XVI
Thewe war nach Sprißlers Weggehen in der Eingangshalle des Arrowhauses stehen geblieben und wartete auf einen Rückruf von Leffers. Er hatte Leffers in Berlin angerufen, aber dessen Sekretärin hatte Thewe nicht durchgestellt, Leffers sei in einer Besprechung, er würde sich gleich melden. Dieses gleich war für den, der auf den Anruf warten musste, ein fundamental anderes als für den, der den Anruf gleich, wenn er erst dies und das und jenes, was ihm wichtiger war, erledigt hätte, von sich aus initiieren konnte, wann er wollte. Der Unter leidet, der Mächtige lässt warten. Jede Minute des Wartens hieß für den Wartenden: du bist eine Null. Mit Mühe versuchte Thewe sich von die-sem Verdikt Leffers’, den es bei Assperg nie gegeben hätte ohne Thewes Unterstützung, in Gedanken abzuwenden. Er glaubte, gerade seine Optionen im Konflikt mit Holtrop durchzurechnen, als er merkte, dass er in seinen Gedanken eigentlich beim nächsten Schluck aus der silbernen Flachflasche war. Nach einer Zeit des Widerstands gegen die Anwesenheit des Gedankens der Möglichkeit dieses nächsten Schlucks schaute Thewe wieder auf die Uhr, akzeptierte die ihm von Leffers neuerlich übermittelte Beleidigung, drehte sich um und ging auf die rückwärtige Wand der Halle und die dortige Ecke zu, erstaunt davon, dass er, dort angekommen, im Moment des Unbeobachtetseins einfach ganz ruhig kehrtmachte und zurück zu der Stelle seitlich hinter dem Pult des Empfangsdesks ging, wo er zuvor gestanden hatte. »Auch Schluck kann warten«, dachte Thewe, die Absurdität der Situation erheiterte ihn auch. Es wäre einfach, Holtrop einfach für verrückt zu erklären, aber das war Unsinn, Holtrop war nicht wirklich verrückt geworden. Trotzdem hatte die Unruhe, die am Krölpastandort Asspergs entstanden war, ihren Ursprung in Holtrops Paranoia, seiner generalisierten Angst vor Verrat. Weil Holtrop sich von Wenningrode bedroht fühlte, hatte er, um eine Gegendrohung aufzubauen, die Beragberater nach Krölpa geholt, die alle hier nervös machen sollten. Aber die Angst vor Illoyalität gehörte nach Thewes Auffassung und seiner eigenen Praxis als Chef, die es auch gab, auch wenn er selbst nur ein schwacher und kein guter Chef war, zum Chefsein dazu, sie war durch Vorsicht oder Misstrauen nicht beseitigbar. Thewe hatte sich deshalb nicht daran beteiligt, durch eigene Maßnahmen sicherzustellen, dass es unmöglich sein würde, ihn durch Intrigen zu schädigen. Jetzt stand er als Depp dieser Zurückhaltung da. Er hatte nicht die ganze Zeit Informationen gesammelt, weder gegen Sprißler noch gegen Meyerhill, die in natürlicher Konkurrenz um die Arrowführung hier in Krölpa, um seine Nachfolge also, standen, schon gar nicht gegen Holtrop, um sich im Fall eines Angriffs mit einem Gegenangriff wehren zu können. Die einzige Maßnahme zur Eigensicherung, die Thewe ergriffen hatte, war seine Offenheit gewesen, mit der er allen sein Vertrauen und die Friedlichkeit seiner Absichten signalisiert hatte. Aber natürlich war das primär als das aufgefasst worden, was es auch war: als Schwäche, Zeichen von Schwäche und deren Akzeptanz. Damit war Thewe unter den aktuellen Bedingungen des betriebsinternen Kriegs zum Abschuss freigegeben.
Der Rücken des Portiers, auf den Thewe die ganze Zeit schaute, bewegte sich nicht, aber Thewe konnte spüren, dass der Portier, der ihn vorhin noch freundlich begrüßt hatte, sich jetzt von Thewe auf eine unzulässige Weise von hinten überwacht fühlte. Es war nicht erlaubt, schräg hinter dem Rücken eines anderen zu stehen, nichts zu tun und dort einfach zu warten. Immer waren es ein paar Grundregeln zu viel, die Thewe auf eine auch noch deutlich überpenetrante Art missachten zu dürfen glaubte, nur weil er selbst die bösen Absichten, die sein Verhalten nahelegen könnten, nach eigener Überzeugung nicht verfolgte. Das war die von Sprißler so sehr verachtete Dummheit von Thewe, dass er sein Verhalten nicht als das nahm, wie es wirkte, sondern wie er es meinte. Der Portier war mit den Reportern und der Abwehr der Reporter beschäftigt, die vor dem Haus unter dem Vordach standen und sich ein Statement, am liebsten natürlich von Holtrop selbst, zu der am Vormittag bekannt gewordenen Nachricht erhofften, Holtrop habe ein Angebot aus den USA bekommen und erwäge tatsächlich, von Assperg wegzugehen und in die USA zu wechseln. Thewe schaute wieder auf die Uhr, checkte, ob das Handy nicht etwa auf leise gestellt war, nein, das Handy war auf laut gestellt, und Leffers ließ ihn weiter warten.
Vor Thewe gingen die Männer einer Umzugsfirma, in beigefarbene Overalls mit der Aufschrift MOVERS gekleidet, vorbei, die vierte Etage wurde geräumt. Die Firma Fly Pimp, die dort Büroraum angemietet hatte, war pleite gegangen. Fly Pimp entwickelte Hardwarelösungen für die drahtlose Übertragung von elektrischem Strom, nicht einfach nur Programme wie alle anderen Startupunterneh-men aus der Gründerzeit des Internetbooms. Insofern war die Firma ein ungewöhnliches Investment gewesen Ende der 90er Jahre, als auch die von Holtrop besonders geförderte Venture-Capital-Abteilung viel Geld in jedes nur mögliche Startupunternehmen gegeben hatte. Die Idee end.of.kabelsalat war als Idee und Story von Asspergs AVC-Chef Schindt so vielversprechend gefunden worden, dass Assperg dort ganz besonders viel Geld investiert hatte. Fly Pimp hatte dann den Zusammenbruch der Internetblase zwar noch überlebt, aber den zweiten Absturz der Märkte nach dem Elften September nicht mehr. »Und jetzt auch noch Fly Pimp!« hatte Holtrop zu Thewe im Ton des ultimativen Vorwurfs gesagt, als ob Thewe an der Pleite eine Mitverantwortung tragen würde und durch persönlichen Einsatz hätte verhindern können, dass der Leerstand im Arrowhochhaus durch die Fly-Pimp-Pleite jetzt noch weiter wachsen würde. Mit einem der Umzugsmänner von Movers, der auf einer Sackkarre vier Kartons gestapelt vor sich herschob, ging Thewe nach draußen, an den wartenden Journalisten vorbei.
Unter dem Vordach blieb er stehen und wählte jetzt nocheinmal, wieder mit mitgesendeter eigener Nummer, das private Handy von Leffers an. Die Mailbox meldete sich, Thewe zögerte, wollte etwas sagen, legte dann aber doch auf. Er war einfach zu schwach, um sich der Erniedrigung auszusetzen, irgendeinen Betteltext auf die Höhenflugmailbox des unerreichbaren Leffers zu sprechen, der dann von dem ja doch nur wieder ignoriert werden würde. Im selben Moment klingelte Thewes Telefon, Leffers war dran. »Was gibts, du willst mich sprechen, was kann ich für dich tun?« rief Leffers bestens gelaunt und herzlich zu Thewe nach Krölpa hinunter. Sofort willigte Leffers ein in Thewes Bitte um einen Termin bei ihm in Berlin, »ja, natürlich«, rief Leffers, »morgen, gestern, wie du willst!« Thewe bemerkte an Leffers’ völlig normal vom Arbeitsstress aufgekratzter Reaktion, »rühr dich«, rief er, »wenn du da bist, tschüß!«, dass es keineswegs so gewesen war, dass Leffers ihn absichtlich, gar um ihn zu quälen oder zu erniedrigen, hatte warten lassen, sondern ganz einfach, weil er beschäftigt gewesen war. Dieser Gedanke deprimierte Thewe noch mehr. Der Regen hatte aufgehört, das Vordach tropfte. Thewe ging zu seinem Auto, setzte sich hinein, nahm einen Schluck aus der Silberflasche und ging dann weiter zur Kantine, um vor der Fahrt nach Berlin noch etwas zu essen. Die Kantine wurde auch als öffentlich zugängliches Lokal genutzt. Es war kurz vor eins, die meisten Mitarbeiter hatten schon gegessen, nur wenige Tische waren besetzt. Thewe holte sich einen Kaffee und einen Käsekuchen und bewegte sich mit seinem Tablett suchenden Blicks quer durch den Raum auf die mit riesigen grünen Zimmerbäumen bepflanzte Fensterfront zu. Auch diese Kantine, ein klassisch schöner Zweckbau der frühen Hochmoderne vom Beginn der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, klar, offen, hell und ohne Schnörkel, würde demnächst abgerissen werden, einfach so, aus Willkür, weil Holtrops große Halle des Volkes im asbestverseuchten Flachbau nebenan kein Gestern neben sich duldete, im Wahn totaler Gegenwart, den Holtrop lebte, gefangen. Thewe setzte sich allein an einen großen runden Tisch und schaute durch die elefantenohrartig riesigen Blätter des Zimmerbaums nach draußen. Er griff nach der Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Auf der Tasse stand in Französisch:
encore un jour
sans amour
encore un jour
de ma vie
Der Kaffee schmeckte gut, der Käsekuchen schmeckte auch gut, und die Aussicht nach draußen war normal. Thewe beruhigte sich. Er schaute auf die Straße, sah die Autos vorbeifahren, er sah einen Blaumannpassanten mit Rucksack auf dem Rücken und mehrere vereinzelt dahingehende Anzugleute mit Aktentasche, manche Leute hatten auch Anoraks mit Kapuzen an, man sah Hüte, Truckercaps und Schirme, fast alles war beschriftet, was die sich dort bewegenden Menschen angezogen hatten, mit Buchstaben, Parolen, Markennamen. Die Namen der Marken der Kleider kannte Thewe, er sah sie, las sie und vernichtete sie auf die Art, indem er sie in sich aufgenommen hatte, waren sie aus der Welt genommen und verschwunden. Der Anblick des Vertrauten machte Thewe in dem Moment endgültig fertig. Er wollte gar nicht mehr um sein Überleben bei Assperg kämpfen, das war das Ergebnis der Gefühle, die im Moment der Beruhigung durch den Ausblick nach draußen auf das vor der Kantine sich abspielende Alltagsleben in ihm ausgelöst wurden, die totale Sinnlosigkeit von allem. Thewe hörte etwas, drehte den Kopf nach links und sah die beiden Beragberater von vorhin schwungvoll um die Ecke aus dem Raucherraum kommen, dahinter den jungen Meyerhill und seine Entourage. Thewe grüßte, offenbar wirkte er weniger reserviert, als er sich fühlte, denn der Gruß wurde von der Gruppe als Einladung verstanden, zu ihm an den leeren Tisch zu kommen. Und in animierter Kollektivität kamen sie gemeinsam näher und verteilten sich, wobei sie sich weiter unterhielten, Thewe nocheinmal begrüßten, gestikulierend, schnatternd und rumpelnd auf den leeren Plätzen. Thewe rückte mit seinem Stuhl vom Tisch etwas zurück, aber der Überpräsenz der Gruppe und dem von ihr ausgehenden Stimmengewirr konnte er sich dadurch nicht entziehen.