ERSTER TEIL

I

Als die Winter noch lang und schneereich und die Sommer heiß und trocken waren –

Da stand der schwarzgläserne Büromonolith sinnlos riesig in der Nacht, am Ortsrand von Krölpa, Krölpa an der Unstrut, dahinter die Wälder, die Krölpa nördlich zur Warthe hin abgrenzten, da leuchtete einsam, böse und rot das glutrote Firmenlogo von Arrow PC oben am Dach über dem düsteren Riesen, aus schwarzem Stahl und schwarzem Glas gemacht, die rote Schrift darüber, ein Neubau, so kaputt wie Deutschland in diesen Jahren, so hysterisch kalt und verblödet konzeptioniert, wie die Macher, die hier ihre Schreibtische hatten, sich die Welt vorstellten, weil sie selber so waren, gesteuert von Gier, der Gier, sich dauernd irgendeinen Vorteil für sich zu verschaffen, am liebsten natürlich in Form von Geld, genau darin aber, in ihrem Kalkül auf Eigennutz, umgekehrt selber kalkulierbar, ausrechenbar und ausbeutbar zuletzt, das war die Basis der abstrakten Geldmaschine, die hier residierte: das Phantasma der totalen Herrschaft des KAPITALS über den Menschen. So falsch, so lächerlich, so blind gedacht, so infantil größenwahnsinnig wie, wie, wie –

Mitternacht schlug eine Uhr von fern, eine Stunde später schlug es eins, dann zwei, eine halbe Stunde später, um halb drei, rollte der schwarzlackierte Subaro Sunset Compactor mit den mattschwarz getönten Scheiben langsam auf den Parkplatz von Arrow PC, PC stand hier für Produkte und Consulting, und aus dem Auto kamen die Männer des Reinigungstrupps von Clean Impact einer nach dem anderen herausgestiegen, gingen zum Hintereingang des Hochhauses, der mit einem elektronischen Code und zwei Schlössern gesichert war, die Türe öffnete sich, die Männer gingen ins Haus, dort in den Keller, holten sich aus dem Maintenance-Center ihre grellbunten Putzkarren und machten sich damit an die Arbeit, und in den folgenden Stunden der Nacht gingen die Lichter in dem Bau an, quer durch alle Etagen gleichzeitig, in den einzelnen Zimmern, Zimmer für Zimmer, vom Programm der Weltlichtorgel Timecode gesteuert, überall dort, wo einer der Arbeiter von Clean Impact gerade am Saubermachen war.

Die Schreibtische in den Büros waren ordentlich aufgeräumt, trotzdem ließ es sich nicht vermeiden, dass vereinzelt liegengebliebene Gegenstände und Papiere die Aufmerksamkeit des derzeit als Leihkraft auf Stundenbasis bei Clean Impact beschäftigten ehemaligen Produktionsfacharbeiters für Landwirtschaft und Forsten, Henze, 58, erregten, und Henze folgte dann dem Impuls, sich diesem Objekt kurz zuzuwenden, oder widersetzte sich ihm, je nachdem, wie sehr er in Eile war oder das Gefühl hatte, von Kollegen oder gar dem Chef selbst dabei beobachtet zu werden, wie er eventuell etwas zu lange in einem einzelnen der zu putzenden Zimmer verblieb. Seinem Kunden Arrow PC gegenüber hatte sich Henzes Chef Dan Pog-gart, 45, ein in Thüringen kurz nach der Wende der Liebe wegen hängengebliebener britischer Ex-Roadie, für Clean Impact informell darauf verpflichtet, datensensible Büroräume von nichtdeutschen Reinigungskräften bearbeiten zu lassen, heute durch die Mitarbeiter Üsküb, Callao, Dobrudsch, Asow und Isjum. Henze war als Ersatzmann für den kurzfristig erkrankten Ismail Khedive eingesetzt, wurde im Hinblick auf die haftungsrechtlichen Sicherheitsvorschriften in den Poggartschen Unterlagen aber nicht als Henze, sondern, wie er selbst auch wusste, als Khedive geführt.

Im achten Stock kam Henze in das Eckzimmer Sprißler, Leiter KS, und setzte sich auf den Stuhl. Henze war ein ruhiger, schwer gebauter Mann mit großem Kopf, der wegen seiner Freundlichkeit von Schlaueren für dumm gehalten wurde, wegen seiner Langsamkeit von Hektikern für faul. Henze schaute sich das auf dem Schreibtisch aufgestellte Bild der Familie Sprißler an, schaute in den gefüllten Abfalleimer hinein, nahm im Aufstehen den Abfalleimer mit und leerte ihn draußen auf dem Gang in die große blaue Mülltüte. Dann kam er mit dem Staubsauger zurück, ließ den Motor aufheulen und saugte den Boden des Zimmers. An der Ecke des Schreibtischs ging unten eine Schublade auf. Henze war mit dem Rohr dagegengestoßen. Er sah ein Handy auf den dort abgelegten Papieren liegen, nahm es heraus und wog es in seiner Hand. Er dachte an die nackte Brust, die er vor einiger Zeit einmal bei einer Frau in einer Sauna gesehen hatte, an den weißen Klappstuhl auf einem Felsen im Meer, wo ein roter Sonnenschirm darüber aufgespannt war. Dann legte Henze, nachdem er kurz innegehalten hatte, das Handy zurück in die Schublade des Schreibtischs und machte sie zu. Im selben Augenblick hörte er von hinten die Stimme Poggarts, der ins Zimmer rief: »Bei dir so weit in Ordnung alles?« Und wahrheitsgemäß konnte Henze im Umdrehen antworten: »Ja!«, es sei alles in Ordnung. Dabei sah er das Vollbartgesicht Poggarts, vom Türsturz umrahmt, wegtauchen und im Dunkel des Gangs verschwinden.

Eine Stunde später war Henze mit den ihm heute zugeteilten Zimmern fertig, brachte den Putzwagen in den Keller und fuhr wieder hoch in die Eingangshalle im Parterre. Rechts neben dem Empfangsdesk waren schwarzlederne Sessel, Couchen und niedrige Tische für Besucher aufgestellt, dort versammelten sich die Männer von Clean Impact nach der Arbeit. Die anderen saßen schon da, als Henze dazukam, und der festangestellte Russe Dobrudsch, Riese, forderte Henze dazu auf, den Aschenbecher vom drüberen Tisch herzubringen und sich dann vor ihm, dabei haute er auf seine Sessellehne, auf den Boden zu setzen. Den Befehl beendete nach einer Wirkungspause, Stille, tok, ein bellendes Triumphgelächter, erst von Dobrudsch allein, dann von allen Kollegen gemeinsam. Henze ging, wobei er auch schwach mitlachte, zur zweiten Sitzgruppe, brachte den leeren Aschenbecher von dort mit und zeigte auf seine Ohren, er sei übrigens nicht schwerhörig, erklärte er, Dobrudsch könne mit ihm auch leiser sprechen. Dann ließ er sich von dem neben Dobrudsch sitzenden Kirgisen Asow, der auch nur Aushilfskraft bei Clean Impact war, eine Zigarette geben, und während Henze den ersten Zug inhalierte, setzte er sich in den Ecksessel der zweiten, leeren Sitzgruppe und rauchte dort. Die Asche aschte er auf die ihm zugewendete Glastischecke.

Die anderen redeten über ihre Autos und über die Überlegenheit der türkischen Turkyolreifen, die zur Zeit bei Autotip im Sonderangebot waren. Dobrudsch hatte von einem Testbericht gehört, die Turkyolreifen wären auch nicht schlechter als die viel teureren angeblichen Markenprodukte aus Europa oder Fernost. Weil Isjum, der dem Asow gegenübersitzende Finne, Bulgare, Altane, »wo bist du eigentlich her?, Kanalratte!«, den Führerschein wegen Alkohol neu machen musste, war vom Führerscheinentzug und dem deutschen Deppentest die Rede. Der Deppentest werde von den deutschen Behörden, den deutschen Ärzten, Psychologen, Fahrschulleitern und Führerscheinstellen zur Aussortierung unerwünschter Ausländer, Einwanderer und anderer Opfer eingesetzt, habe Üsküb von Poggart gehört, aber die Aussortierung unerwünscher Nichtdeutscher durch deutsche Tests sei ja wohl auch keine besonders große Überraschung. Er selbst sei zwar erst seit ein paar Monaten in Deutschland, wäre davor in Polen und England, davor in Spanien gewesen, das Geld sei besser hier, die Kontrollen überall gleich umgehbar. Dobrudsch bestätigte das Gesagte, er habe mit Poggart Ärger wegen Krankmeldungen, die er für sich und Khedive im Büro ha-be eintragen lassen, ohne sofort die Atteste beigebracht zu haben. Dabei hätte er nur zum Facharzt für Krankmeldungen nach Werra oder zu dem in Nörsel gehen müssen, das habe er versäumt, deswegen habe Poggart ihm Anfang dieser Woche einen schriftlichen Verweis im Büro übergeben lassen. Das müsse er sich von Poggart aber nicht gefallen lassen, er wäre beim Bezirksbetriebsrat in Ohra gewesen, dort hätten sie ihm auch gesagt, eine solche Drohung sei nichtig, dazu gäbe es ja Arbeitsschutz, um gegen die Art Willkür der Chefs geschützt zu sein usw.

Henze wischte die Asche von der Tischecke in seine Hand und brachte sie zum Aschenbecher am anderen Tisch, drückte die Zigarette aus und setzte sich wieder an seinen Solotisch. Um kurz nach halb sieben beendeten die Männer ihre Sitzung in der Eingangshalle, gingen zum Auto auf dem Parkplatz zurück und fuhren vom westlichen Ortsrand von Krölpa, wo das Gewerbegebiet mit dem neuen Arrowhochhaus war, über die B 173 zum einige Kilometer südlich, in Bad Langensalza, gelegenen Firmensitz von Clean Impact.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072_split_000.html
part0072_split_001.html
part0072_split_002.html
part0072_split_003.html
part0072_split_004.html
part0072_split_005.html
part0072_split_006.html
part0072_split_007.html
part0072_split_008.html
part0072_split_009.html
part0072_split_010.html
part0072_split_011.html
part0072_split_012.html
part0072_split_013.html
part0072_split_014.html
part0072_split_015.html
part0072_split_016.html
part0072_split_017.html
part0072_split_018.html