XVII

»Ja ja, richtig«, sagte Holtrop, »ich weiß!«, er telefonierte mit Ahlers, Ahlers redete ihm zu langsam. Finanzvorstand Ahlers, 56, war ein sehr solider, brauchbarer Fachmann auf seinem Gebiet, ein Gesprächspartner für Holtrop in den aktuell drängenden unternehmerischen Fragen war er nicht. Es ging bei Ahlers’ Vortrag um Probleme mit dem von Assperg Capital Services aufgelegten Immobilienfonds, der das Arrowhochhaus in Krölpa errichtet und an die Assperg AG als Ganzes zurückvermietet hatte. Dieser Mietvertrag sollte jetzt auf den Standort Krölpa und die Krölpa Assperg GmbH umgeschrieben werden, um die dort auflaufenden Verluste mit den in Krölpa immer noch erwirtschafteten Gewinnen günstiger bilanzieren zu können, »machen wir«, sagte Holtrop dauernd dazwischen, aber Ahlers redete weiter, erklärte Banalitäten und Detailfragen, die er Holtrop in einer gehässig insistierenden Ausführlichkeit darlegte, obwohl Holtrop sich dafür überhaupt nicht interessierte, er wollte zu all diesen Dingen keine Fragen und Erklärungen, sondern abnickbare Vorlagen, noch besser gleich die fertig unterschriftsreifen Papiere vorgelegt bekommen.

Holtrop war in Stürmerstimmung, wenn er nahe genug an die Fensterscheibe seines Bürozimmers ging und nach links schaute, konnte er die vor dem Arrowhochhaus auf ihn wartenden Journalisten sehen. Es drängte ihn, dorthin zu gehen und sich den Fragen der Presse zu stellen. In fünf Minuten könnte er dort für den Börsenkurs der Asspergaktie mehr tun als Ahlers in den letzten fünf Wochen mit seinen egal wie zutreffenden Warnungen: das Geld wird knapp. Ahlers’ Stimme kam gut hörbar aus dem laut gestellten Telefon, und Holtrop stand vor der Europakarte, den Kopf in den Nacken gelegt. Die Banken forderten dies, die Banken weigerten sich, jenes zu tun, die Banken seien nervös geworden, betonte Ahlers, darauf müssten wir, er meinte die Assperg AG, aber auch Holtrop und sich selbst, jetzt konstruktiv reagieren, Mitte Dezember laufe Kreditlinie XY und der Kredit YZ aus, »ja natürlich«, rief Holtrop, »weiß ich doch!«, und Ahlers redete weiter über die gegenwärtigen Geschäftszahlen der Assperg AG und das aktuell sich quasi täglich weiter eintrübende Wirtschaftsklima der gesamten Volks- und Weltwirtschaft usw. Aber nach Holtrops Ansicht war die Aufgabenverteilung innerhalb des Vorstands klar genug geregelt. Von Ahlers wurde doch eigentlich nur erwartet, dass er die finanziellen Spielräume so gestaltete, dass die geplanten Geschäfte wie geplant abgewickelt werden könnten, mehr nicht. »Was gibts denn da zu quatschen ohne Ende?« dachte Holtrop und wusste doch genau, dass Ahlers, Individualist vom Typus: nie ohne meine Fliege, mit Krawatte nie, in Schönhausen an seinem Schreibtisch saß und einen Sprechzettel vor sich liegen hatte, den er Punkt für Punkt abarbeitete und Holtrop vortragen würde, völlig egal, was Holtrop dazu sagte. Ahlers war die Indolenz durch Verfahren, die Unangreifbarkeit der Bürokratie, dagegen war Blaschke ein Feuerwerk erhellender Assoziationen rechtlicher Aspekte, die das Ganze der Firma allseits beleuchteten. Aber in Wirklichkeit war immer der der Schlimmste für Holtrop, mit dem er gerade reden musste. Außerdem waren sich Blaschke und Ahlers auch sehr ähnlich in ihrem aggressiv selbstbewusst vorgetragenen Schönhausenismus, der seine Spießigkeit sicher gedeckt wusste von ganz oben, von der bis ins letzte firmenphilosophische Argument ausbuchstabierten und untopbaren Exzeßspießigkeit des alten Assperg selbst. Eine unschöne Ängstlichkeit und Vorsicht war bei Assperg die fundamentale Firmenkulturprägung. Dass Holtrop ein paar schnelle kurze Jahre hatte glauben können, er könne diesen mentalen Kern Asspergs und aller Asspergianer im Alleingang ändern, war durch die damaligen Zeiten des Aufbruchs verursacht und durch Holtrops übertrieben von sich selbst überzeugte Was-kostet-die-Welt-Attitüde. Bald würde man so weit sein, dass irgendein Knecht von Ahlers als Finanzcontroller Holtrops Concordeflug nach New York auf die Frage hin analysieren würde: was kostet dieser Flug? Was bringt die Zeitersparnis uns konkret? Und mit uns war dann die allen Aktionären verantwortliche Assperg AG gemeint, nicht die konkrete Person des Vorstandsvorsitzenden Holtrop, nicht seine Schaffenskraft und sein etwaiges Wohlempfinden in der verrückten, euphorisch ausgelebten Phantasy physischer Allgegenwärtigkeit. An allen Orten der Welt wäre Holtrop lieber im Moment als in diesem lächerlichen Arbeitszimmer, in dem er hier gefangen war, im Haus der alten DDR-Ruine, Kloake Krölpa, vom Ahlersschen Trotteltext gefoltert und zu Tode gequatscht. Ahlers redete vom Absturz der Märkte, vor dem er immer gewarnt hatte, mit einer wenig gebremsten Genugtuung. Die Indices deuteten auf das eine hin: die Party ist vorbei. Der Kater wird furchtbar. Es war die Stunde der Spießer, die Spieler hatten endlich ausgespielt. Aber weil Ahlers all das immer schon prophezeit und die schrecklichsten Konsequenzen für die Assperg AG immer schon vorhergesagt hatte, weil er den Boom der vergangenen Jahre abgelehnt hatte, war für den Spieler Holtrop das Neue an Ahlers’ Rede nicht zu erkennen: dass Ahlers zum ersten Mal recht hatte, dass er jetzt nicht seine Ängste, sondern die wirklich ins Bedrohliche gekippte wirtschaftliche Lage beschrieb.

Holtrop konnte Ahlers’ Drohungen auch deshalb so schwer folgen, weil ihn die Dinge des Finanziellen im Prinzip in genau dem Maß ankotzten, in dem er nichts davon verstand. Holtrop war Verkäufer. Mit jedem Gedanken war er dem Markt zugewendet, der Welt, und schon immer war es ihm schwergefallen, die andere Seite des Betrieblichen, die nach innen auf sich selbst gerichtete Ziffernexegese, von der jeder Finanzfachmann gefesselt war, ernst genug zu nehmen, um sich davon in den unternehmerischen Entscheidungen steuern zu lassen. Es war der Finanzfachmann auch ein bestimmter Typus von zukurzgekommenem Ehrgeizling. Verklemmte, Spinner, Freaks mit leichtem Hau ins Schizoide waren es, die sich in den Finanzabteilungen gegenseitig vergiftet mit ihrem besserwisserischen Schweigen bekriegten, während das hocheffiziente Zahlengehirn eines jeden von ihnen neueste Grenzen, Unmöglichkeiten, Finessen der Agonie bestens begründet zusammenrechnete: keine angenehmen Leute, kein angenehmes Klima dort. Wir haben kein Geld? Dann besorgen wir uns eben eines. Das war Unternehmertum. Was Ahlers hier seit zehn Minuten erzählte, waren die sprichwörtlichen Milchmädchenrechnungen, egal wie superpräzise durchkalkuliert, nur dass Holtrop Ahlers dies auf Grund seiner mangelnden Detailkenntnisse auf dessen Gebiet nicht schlüssig vorrechnen und beweisen konnte usw, und all das war Holtrop zusätzlich lästig.

Endlich war Ahlers fertig und sagte zum Abschied: »Und morgen gehts bei Ihnen nach New York?« »Ja ja«, antwortete Holtrop matt. »Es hieß«, sagte Ahlers, »Sie hätten die Reise abgesagt?« »Nein, alles wie geplant.« Stille. Ahlers erwartete die Verbindlichkeit einer erläuternden Erklärung, glaubte sie durch Warten erpressen zu können. Nach Ahlers’ unglaublich randlosem Gequatsche war dieser Moment erpresserischer Stille von großer Gewalt. Noch größer war Holtrops Abscheu vor Ahlers. Holtrop war dran, sagte aber einfach nichts. Er sagte noch nicht einmal etwas Einlenkendes wie »sonst noch was?«. Holtrop wartete, bis Ahlers sich seines Erpressungsversuchs schämen musste, und zwar doppelt, wegen Zudringlichkeit und wegen Erfolglosigkeit, bis Ahlers zuletzt schließlich sagen musste: »Aha, wie geplant. Gut. Auf Wiedersehen.« »Wiederhören!« rief Holtrop und drückte im selben Moment die das Gespräch beendende Taste seines Telefons. Um Ahlers zum Abschied wenigstens akustisch noch schnell ins Gesicht zu spucken.

Vom Gelingen dieser Bösartigkeit erfreut, ließ Holtrop sofort die draußen wartenden Beragberater Salger und Priepke hereinkommen. Salger kam als erster herein, er lächelte, und seine Augen blitzten, und wie Holtrop diesen unfassbar zeitgenössischen Menschen, hochgewachsen, kurzgeschoren, hell und lässig auf sich zukommen sah, wusste er wieder, was er ja wusste: Ahlers war die Blödheit des Alters, nicht der Zahlen. Es gab inzwischen einen neuen Breed von Finanzfachleuten, die eher wie genialisch gestimmte Pianisten oder Jungphilosophen daherkamen, in heiterster Weise identisch mit ihrer Welt der Spekulation, vom Geist beseelte, hochabstrakte Naturelle, denen eindeutig und offensichtlich – das konnte Holtrop gut erkennen, weil es ihm seine eigene Geschichte vor Augen führte, Finanzmathematik war heute das, was sein eigenes Gebiet, Marketing, vor zwanzig Jahren gewesen war, die Zukunft, heute vergangen – die heutige, jetzige Zukunft gehörte. Von Freude erfasst ging Holtrop auf Salger zu und gab ihm die Hand.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072_split_000.html
part0072_split_001.html
part0072_split_002.html
part0072_split_003.html
part0072_split_004.html
part0072_split_005.html
part0072_split_006.html
part0072_split_007.html
part0072_split_008.html
part0072_split_009.html
part0072_split_010.html
part0072_split_011.html
part0072_split_012.html
part0072_split_013.html
part0072_split_014.html
part0072_split_015.html
part0072_split_016.html
part0072_split_017.html
part0072_split_018.html