XV

In der zweiten Nacht war der Regen schwächer geworden. Eine verstümmelte Funkmeldung des Inhalts, das Wetter sei nicht nur plötzlich, sondern endgültig umgeschlagen, führte deutschlandweit zu fehlerhaft optimistischen Prognosen für die Aussichten auf den kommenden Tag. In Krölpa war Sprißler mit Zedlitz und Rechtsanwalt Buhnke beim Verlassen des Rathauskellers gesehen worden. In Berlin wurde Dienstaufsichtsbeschwerde gegen BKA-Kriminaldirektor Kiefer erhoben. Kiefer war um Mitternacht vor dem geschlossenen Haupteingang zum Bundeskanzleramt erschienen, in weiblicher Begleitung und offensichtlich stark angetrunken, und hatte von dem dort wachhabenden Bundesgrenzschutzbeamten Gant, aus Krölpa gebürtig, Einlass gefordert. Auf die Weigerung Gants hin, Kiefer Zutritt zu gewähren, habe Kiefer, so die Rüge der Beschwerde, Gant zuerst verbal provoziert, als Wichser bezeichnet, ihm dann mit der Faust ins Gesicht geschlagen, woraufhin BGS-Mann Gant den BKA-Mann Kiefer nach allen Regeln der Selbstverteidigungskunst zusammengefaltet, zu Boden gebracht und dort fixiert habe. Die Rechtsberatung Gants war noch in der Nacht, auf Sprißlers Vermittlung hin, durch Clubanwalt Buhnke übernommen worden.

Henze hatte frei und lag zu der Zeit schon im Bett, von dort aus sah er, als er aufgewacht war, durch das Fenster hindurch die Bäume in Bewegung und konnte nicht mehr einschlafen. Langsam neigten sich die Spitzen der Bäume, die keine Blätter mehr hatten, zur Seite, langsam zurück, zur Mitte, nach vorn, auf das Haus zu, nach unten, und wieder zurück zur anderen Seite, langsam und groß. Henze machte die Augen zu. Da hörte er etwas, Schritte, die näher kamen, regelmäßige Tritte, die immer regelmäßiger und lauter wurden, unüberhörbar, eine Kolonne marschierender Bundesgrenzschutzmänner mit Stiefeln an den Füßen marschierte in nicht so weiter Ferne durch Henzes Welt, durch sein Gehör hindurch in sein Gehirn hinein, »cht cht cht«. Er hielt die Luft an und wartete, machte die Augen wieder auf und lauschte in sich hinein. »Rchb chb chb«, die Tritte waren sein eigener Herzschlag, der das Blut rauschend und zugleich abgehackt durch das Innere seiner Ohren pumpte, er selbst war diese Marschkolonne marschierender Männer gewesen, die dann leiser geworden und verschwunden war, und durch die geöffneten Augen kamen die Umstände der Außenwelt, auch ihre Geräusche, wieder zurück, der Wind draußen und ein hölzernes Schieben der Bohlen auf dem Dachboden, unregelmäßig, nicht weniger irritierend als die vorherige Regelmäßigkeit der Schritte vom Herzschlag her, so bewegte sich hörbar die sichtbare Welt um Henze herum, Wald, Hütte, Nacht. Er hatte das Handy im Büro von Sprißler in der Hand gehabt, und Poggart hatte ihn dabei beobachtet. Er hatte das Handy nicht sofort zurück in die Schublade gelegt. Die Schublade war offen gewesen, diese Schublade hätte nicht offen sein dürfen. Und in genau dem Moment, in dem Henze das Handy in die Schublade zurückgelegt hatte, hatte Poggart nach ihm gerufen, Poggart hatte also so lange gewartet, bis Henze das Handy zurückgelegt hatte. Henze überlegte, ob man ihn einer Tat, die er nicht begangen hatte, in einer Weise beschuldigen wollte, gegen die er sich nicht zur Wehr würde setzen können. Poggart benutzte seine Undurchschaubarkeit als Instrument. Henze fürchtete sich vor Poggart. Er lag wach und überlegte.

Poggart war auf der anderen Seite der Stadt mit Abgesandten der Detektei Bessemer Consult beim Thai-Imbiss verabredet. An den Stehtischen der Imbisswohnwagen drängten sich jetzt die Besucher der Diskothek MOON, die auf der Straßenseite gegenüber in einem ansonsten leerstehenden Industriegebäude aus Krölpas großer Zeit am Ende des XIX. Jahrhunderts ihre Räume hatte, ein monströs sich auftürmender Backsteinbau mit vernagelten Fenstern in den unteren Etagen und leeren schwarzen Löchern, wo einst Fenster gewesen waren, weiter oben. Das Moon war ganz unten im Keller, und über dem Dach ganz oben leuchtete hellgelb und riesig, auf einen metallenen Stecken aufgesteckt, ein märchenhaft zurückgelehnter Mond als dünne helle Neonsichel. Zwischen dem Moon, dem Parkplatz und dem Thai-Imbiss waren die Nachtlebenleute unterwegs, und wenn eine Autotüre aufging, wummerten ein paar Takte Techno durch die Nacht. Pünktlich um ein Uhr dreißig erschienen zwei Männer der Bessemer Consult, die Poggart kannte. Er holte Bier und ging mit ihnen zu den Abfallcontainern am ortsauswärts gelegenen Rand des Parkplatzes, dahinter standen eingezäunt mehrere Straßenbaumaschinen, die als dunkel schlafende Riesen von ATLAS, Loewe, Gegenbauer hier gesichert übernachteten. Vom Zaun aus hatte man einen guten Überblick über die Bewegungsvorgänge auf dem von einer Straßenlampe matt beleuchteten Areal zwischen Diskothek und Parkplatz, zur Hälfte waren diese Vorgänge der Aufnahme von Nahrung, zur anderen Hälfte dem Konsum von Drogen zuzuordnen. Die Männer erklärten, dass es bei dem besprochenen Projekt UMBRA um eine Überwachungsmaßnahme der Zielperson Thewe gehe, Poggart erhielt als erstes ein Kuvert, das der Wortführer der beiden Männer, Drabic, ihm übergab mit der Aufforderung, vor den Augen seines Kollegen das darin enthaltene Geld durchzuzählen, viertausend Mark in Hundertern, Barhonorar plus Spesen für Poggart und die von Poggart zu engagierenden Männer für die ersten vier Tage. Ein Erfolgshonorar in gleicher Höhe, erklärte Drabic, sei vorgesehen für den Fall, dass der Nachweis schnell gelingen würde, dass der Asspergangestellte Thewe gegen Assperg, seinen eigenen Arbeitgeber also, dort insbesondere gegen dessen Chef Holtrop, konspirativ tätig sei. Es bestehe der Verdacht, dass dieser Thewe sich durch die Weitergabe von Informationen und Akten einer Verletzung der vertraglich vereinbarten Pflicht zur Verschwiegenheit und des Verrats von Betriebsgeheimnissen schuldig gemacht habe, sagte Drabic, vom Auftraggeber habe es geheißen: »Wir müssen wissen, wo er ist, was er sagt, wen er trifft und welche Papiere sich in seinem Besitz befinden.« Wie das ermittelt werde, sei selbstverständlich der Professionalität der von Poggart einzusetzenden Kollegen überlassen. Poggart bejahte. Drabic übergab ihm Schlüssel und ein Dossier über Thewe, das Telefonnummern, Adressen, Autokennzei-chen und Kontaktpersonen auflistete. Poggart steckte die Schlüssel ein, schaute auf das Papier und fasste den Auftrag nach seinem Verständnis nocheinmal zusammen. Drabic bestätigte die Richtigkeit dieser Zusammenfassung. Dann tranken die Männer ihr Bier aus, und Drabic sagte, dass er jetzt in das Moon gehen würde, um dort noch ein Bier zu trinken. Zusammen gingen sie von den Abfallcontainern zurück zum Parkplatz, wo sie sich trennten. Drabic ging über die Straße in Richtung Diskothek, der zweite Mann ging zu seinem Dienstwagen und fuhr in das Büro der Bessemer Consult zurück. Poggart fuhr zum Arrowhochhaus, um das Handy von Sprißler wieder in dessen Arbeitszimmer abzulegen. Von einem der blinden Fenster oberhalb des Moon aus wurden die Vorgänge auf dem Parkplatz durch Kriminalbeamte der Abteilung Droge, Sitte und Organisierte Kriminalität, zuständig für den Hauptbezirk Untere Unstrut, routinemäßig überwacht und mitdokumentiert.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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