XXVI
In gehobener Stimmung kam Holtrop am frühen Abend des 14. Juni vor dem Hamburger Überseeclub an. Es war wieder ein Freitag, die wegen der Grippe verschobene Rede fand jetzt in einem besseren Umfeld als damals statt. Die Aufregung nach der Hauptversammlung hatte sich gelegt. Im Auto war Holtrop zum ersten Mal seit langem die Papiere seines Buchprojekts zur Freiheitsfrage, das er in Hongkong visionär entworfenen hatte, wieder durchgegangen und hatte mit dem für ihn typischen Selbstbewusstsein festgestellt, dass das dort Niedergelegte substantiell sehr wohl tragfähig sei. Das würde von ihm im Sommer ausgearbeitet werden, dachte Holtrop auf schröderianisch, »gar keine Frage«. Diese Ideen waren die Zukunft, der er sich jetzt zuwenden würde. Die Vergangenheit hatte sich auch nicht durchweg als Fehler herausgestellt, das Projekt Schönhausenoffensive war geglückt, es hatte ihm letztlich die Vertragsverlängerung gebracht. Das war überhaupt das Beste an der gegenwärtigen Lage, die Klarheit, mit der er sie illusionslos einschätzen konnte, dachte Holtrop, während der Wagen von Nordosten auf die Binnenalster zufuhr, Holtrop die Häuserfront, die Bäume, das Wasser vor den Bäumen und den Häusern sah und der Wagen vor dem Überseeclub anhielt. Holtrop schnellte aus dem Auto heraus und ging auf das Clubhaus zu. Die schwarze Tür öffnete sich, und von Bartning, 72, der Präsident des Clubs, stand in der Tür, begrüßte Holtrop im Foyer und nahm ihn mit in die Halle. »Man fährt auf die Binnenalster zu und freut sich«, sagte Holtrop zu seinem Hamburger Gastgeber, »das geht mir jedes Mal so.« »Das ist Hamburg«, bestätigte von Bartning, »das liegt am Wasser hier und am Wind.« Die Hamburger hätten sich schöne Häuser ans Wasser zum Wohnen gebaut, das liege am Geld, so von Bartning, »Handel und Glück sind möglich«, das sei die Hamburger Wahrheit, die Tüchtigkeit der Hamburger Kaufleute seit Generationen. »Reich, aber schön«, sagte Holtrop, und von Bartning, der selbst kein Kaufmann, sondern Anwalt war, lachte. Sie waren an einem Ecktisch bei den Fenstern angekommen und setzten sich. Ein Kellner trat zu ihnen. »Was trinken Sie«, fragte von Bartning. »Gerne ein Pils«, antwortete Holtrop. Von Bartning bestellte für sich einen Whiskey. Der Kellner nickte und ging weg. Von Bartning erkundigte sich nach dem Stand von Holtrops Gesundheit und den Geschäften der Assperg AG. Die neuesten Meldungen von Holtrops bevorstehendem Rücktritt als CEO, die quasi täglich irgendwo durch die Presse gingen, erwähnte von Bartning natürlich nicht. Aber in den Räumen des Clubs war ein Buzz zu spüren, während die Halle sich füllte, auch zwei Fernsehsender hatten angefragt, Holtrops Rede filmen zu dürfen, berichtete von Bartning. »Habe ich gehört«, sagte Holtrop, der alle Interviewanfragen, gegen den versammelten Rat seiner Schönhausener Mitarbeiter, ablehnen hatte lassen. Holtrop sah Talkchef Kiesewetter in der Menge, stand auf und begrüßte ihn.
Um viertel nach sieben war es soweit, und von Bartning ging an das Rednerpult, das vor einer der Säulen in der Mitte der Halle aufgestellt war. Die Gäste des Abends setzten sich, aber nicht alle fanden einen Sitzplatz. Es war ein kleiner Abend mit etwa sechzig Personen geplant gewesen, aber es waren mehr Leute gekommen, überall, wo man stehen konnte, vor den Wänden und in den Ecken und hinter den Sitzreihen und um die Sitzgruppen herum, standen die Mitglieder des Überseeclubs und freuten sich auf Holtrops Rede. Holtrop wurde mit freundlichen Worten eingeführt. Besonders bedankte sich von Bartning dafür, dass Holtrop trotz der vielen im Moment auf ihm lastenden Verpflichtungen die Zeit gefunden habe, für diesen Abend zu ihnen nach Hamburg zu kommen. Während von Bartning redete, baute sich in Holtrop die Energie auf, von unten her, physisch. Holtrop liebte dieses Spiel der Zuspitzung: alles oder nichts, Top oder Flop. Und anders als neulich im Berliner ICC vor den versammelten Aktionärsidioten spürte Holtrop hier den Kämpfer in sich wieder aufstehen, wie er es von sich kannte und automatisch erwartete, ein fundamental angenehmes Gefühl, gleich an dieses Pult gehen zu können und den Leuten die Weltlage im Großen und sei-ne Sicht im Speziellen auseinanderzusetzen. Applaus, von Bartning ging ab, und Holtrop kam schwungvoll an das Rednerpult, bedankte sich seinerseits, entfaltete sein Redemanuskript und legte dann nach der Bemerkung, »wenn Sie erlauben, beginne ich mit einer privaten Anekdote«, in weitgehend freier Rede los. Die private Anekdote handelte von den Problemen, die er als Privatmann jedes Jahr mit seiner Steuererklärung durchzustehen habe, war also das Allerallgemeinste, zu dem jeder sich sofort in Einverständnis zuschalten konnte. Die Männer, die auf den Stühlen vor Holtrop saßen, nickten ihr leidvoll geprüftes Steuerzahlernicken Holtrops Privatanekdote entgegen und einander gegenseitig zu. Auch Holtrop nickte. Dann kam er zum ernsten Teil seiner Rede, dem Verhältnis von Staat und Wirtschaft, von Freiheit und Regulation. Das rheinische Modell der einstmals so genannten Sozialen Marktwirtschaft sei am Ende. Das sei das Ergebnis der jüngsten Krise. Die hohe Abgabenlast, die der Wirtschaft von der Politik abverlangt werde, sei im Übrigen unsozial, denn sie vernichte Arbeitsplätze, die dringend gebraucht würden. Holtrop brachte Beispiele aus der eigenen Firma. Holtrop sprach sich gegen die Bürokratisierung der Arbeitnehmerinteressen durch die Gewerkschaften aus. Das System der Mitbestimmung habe sich als hochgradig korruptionsanfällig erwiesen. Die Mitarbeiter müssten positiv motiviert werden, nicht agonal aufgehetzt, wie es heute üblich sei, gegen die eigene Firma. Auch hierfür brachte Holtrop Beispiele, erzählte vom Ergebnis seiner Offensive an der Basis der Assperg AG. Und natürlich müssten auch die Mitarbeiter ganz oben, im oberen Management vernünftig bezahlt werden dürfen, sogar das sei ja inzwischen strittig. Eine Regulation oder Deckelung von Gehältern, die nach Bedingungen des öffentlichen Dienstes geordnet sei, sei wider den Geist der Wirtschaft selbst. Besonders viel Zustimmung bekam Holtrop für den abschließenden staatskritischen Teil seiner Rede. Der hier versammelte Überseeclub reagierte erheitert auf Holtrops Referat der politischen Entscheidungsprozesse. »Sie können es nicht!« rief Holtrop, »weil sie unfähig sind!« Damit waren die Politiker in den Parlamenten gemeint. Die Parlamente seien leer, der Bundestag sei bei den wichtigsten Debatten zur Wirtschaftspolitik mit nur zwanzig Abgeordneten besetzt. Die Faulheit der Politiker sei schlimmer als die viel debattierte Faulheit von Arbeitslosen und Arbeitsverweigerern. In den parlamentarischen Ausschußsitzungen, wo ja angeblich die gesetzgeberische Kompetenz der Spezialisten zu Wort kommen sollte, herrsche in Wahrheit das pure Diktat der Parteien, anstatt guter Argumente. So sei es auch erklärlich, dass ein grundfalsches Gesetz nach dem anderen beschlossen werde. Die Wirtschaft werde von der Politik, alle anwesenden Politiker selbstverständlich ausgenommen, programmatisch an der Arbeit, an der Erfüllung ihres gesellschaftlichen Auftrags gehindert. Das müsse geändert werden. Das Ende des letzten Satzes hatte Holtrop mit Ausrufezeichen gesprochen, von den Zuhörern mit Applaus beantwortet. Holtrop nickte, bedankte sich und ging vom Pult weg zur Seite.
Etwa zwanzig Minuten hatte er geredet. Von Bartning bat zum Essen in den Festsaal nach oben, und die Mitglieder des Clubs und die Gäste gingen hoch. Holtrop stand noch neben dem Pult, und verschiedene Leute kamen zu ihm, stellten sich vor und gratulierten ihm zu seinem Vortrag, es sei alles sehr zutreffend, was er gesagt habe, sie hätten noch schlimmere Beispiele nennen können. Dann nannten sie in ausführlichen Erzählungen diese noch schlimmeren Beispiele, und Holtrop hörte zu. Nach einer Zeit des Zuhörens bedankte er sich für die interessanten Berichte und ging hinter den anderen her auch nach oben. Die Räumlichkeiten des Clubs strahlten eine angenehm zurückhaltende Eleganz aus, hellbeige an den Wänden, hellgrau am Boden, weiß die Säulen, schwarze Möbel, dunkelbraune und rote Ledersessel, eine Objektivität der Gediegenheit guten Geschmacks, von nichts Eigenem und Übereigentlichem gestört. Das Essen schmeckte Holtrop gut. Nach dem dritten Wein stand er beschwingt auf und ging zwischen den Leuten herum. Er redete mit Talkchefredakteur Kiesewetter, bekam einen Anruf von Bodenhausen, telefonierte mit seiner Frau, redete mit der Fotographin Irina Kulikova, die ein Porträt von ihm machen wollte, wofür er ihr einen Termin in Aussicht stellte, und ging dann gegen zehn Uhr mit von Bartning und einigen anderen zu Fuß hinüber ins Hotel Atlantic, und Holtrop fühlte sich wie einer dieser legendären Könige von Hamburg aus den fünfziger Jahren. Es war ein warmer Sommerabend. Von Bartning zeigte auf die goldhell erleuchteten Häuser hinter den Bäumen, dahinter die Innenstadt und schnell ziehende helle Wolken am Himmel darüber und sagte: »das meinte ich vorhin«, und Holtrop antwortete, »ja, ich weiß, das ist dieses Hamburg«. Dann standen sie an der Bar des Hotels, nahmen einen Drink und redeten über Zukunft und Vergessen.