XXI

»Dieses Dokument kenne ich nicht«, sagte Holtrop zu Ahlers, der neben ihm saß und ihm ein Papier hinhielt, das mit Kolonnen von Ziffern bedruckt war. Hinter einigen Ziffern war in Klammern das Zeichen für den Euro zu sehen, hinter anderen stand dick das Alarmzeichen DM. Es ging um Zahlungen. Oben stand: KS 1999/2001, unten: BLASCHKE. Zahlungen im Bereich Konzernsicherheit für die letzten drei Jahre, von Krölpajustitiar Blaschke veranlasst. »Warum, was ist damit?« fragte Holtrop, dabei blätterte er weiter in seinen Unterlagen für die gleich beginnende Vorstandssitzung. Schräg gegenüber saß Technikvorstand Uhl, und auch er blätterte unmotiviert in seinen Papieren. Halb rechts neben Holtrop stand Riethuys und reichte Holtrop eine weitere Mappe zu. Holtrop nahm die Mappe entgegen. Dann schaute er wieder zu Ahlers hin.

Da kam Wenningrode herein und ging auf Holtrop zu, um ihn zu begrüßen. Holtrop stand auf, und gemeinsam gingen sie, nachdem Holtrop noch zu Ahlers gesagt hatte: »gleich!«, um den Tisch herum zum Fenster, wo Wortvorstand Schuster und Medienvorstand Teerhagen standen und über die Neuigkeiten in der Scharpingsaga redeten. Teerhagen wusste nur Gutes über die Scharping beratende PR-Agentur Maschinger zu sagen. Ähnliches hatte Holtrop schon von Dirlmeier gehört. Dirlmeier wollte Holtrop dazu überreden, eine professionelle PR-Agentur zu beauftragen. Holtrop müsse sein Image reparieren lassen. Allein wäre das nicht mehr zu schaffen. Weder Dirlmeier selbst noch CEO-Sprecher Flath hätten die notwendigen Kontakte zur Presse, speziell außerhalb der für Wirtschaft zuständigen Redaktionen. Auch von Schmäling, der die Abteilung Konzernkommunikation für Gesamtassperg leitete, hielt Dirlmeier wenig. Von anderen, so von Frau Rösler, von Salger, auch von Frau von Schroer, hörte Holtrop das Gegenteil. Nie seien Assperg und die Arbeit des Vorstandsvorsitzenden so gut nach außen kommuniziert worden wie seit der Einstellung von Schmäling vor einem Jahr. »Besser als Trienekens stehen wir immer noch da«, sagte Schuster. Die verschiedenen Skandale um Parteispenden bei der CDU, der FDP und der SPD hatten ein öffentliches Klima der Jagd auf überall vermutete geheime Zahlungen, auf graue und schwarze Kassen und Konten entstehen lassen, der Korruptionsermittler Schauppensteiner hatte gestern im Fernsehen wieder einen entsprechenden Auftritt zum Kölner Müllskandal gehabt. Diese Leute werden vom Staat dafür bezahlt, den normalen Geschäftsbetrieb in den Firmen, die mit ihrer Arbeit das Geld erwirtschaften, das den immer noch wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand ermöglicht, von dem der Staat sich aber auch immer weiter und maßloser aufbläht, final unmöglich zu machen, so Schuster. »Wer riskiert dann überhaupt noch irgendetwas!«, sagte Schuster, und seine Kollegen stimmten alledem völlig zu, Schuster: »Wer will denn die Geschäfte machen? Der Staat jetzt etwa selber? Die Staatsanwaltschaften? Das ist doch alles Humbug!« Holtrop zeigte nach draußen und sagte: »Was kostet uns dieser endlose Winter, dieses fürchterliche Frühjahr?« Schmutzige Reste von Schnee, vor ein paar Tagen gefallen, lagen auf der Wiese um den Weiher herum. Es war Mitte April 2002, in den Städten des Nordens waren die Straßen und Gehwege immer noch dick vereist, und ein Kommen des Frühlings war nach Angaben der Wettervorhersage für die nächsten Tage nicht zu erwarten. Der Krankenstand sei nicht höher als sonst, erklärte Schuster, das sei durch die Krise bedingt, »die Leute haben Angst, sie feiern nicht so häufig krank«. Auch Technikvorstand Uhl, der zur Gruppe der Kollegen dazugetreten war, erklärte in ähnlichen Worten, dass in seinen Asspergsparten Bau, Transport, Maschinen zwar hohe Kosten durch das schlechte Wetter angefallen seien, diese jedoch durch verschiedene öffentliche Programme, den jüngsten Beschäftigungspakt von Rotgrün, auch durch steueraktiv positive Rückausschüttungen für die das entsprechende Wetter abdeckenden Versicherungsaufwendungen und Vorauszahlungen so auszugleichen gewesen seien, dass insgesamt im Resultat Gewinn erwirtschaftet worden wäre. »Wie es sich ja wohl gehört«, fügte er lachend an. Und so schaute die Bilanz aus, die übernächste Woche der Presse und danach der Hauptversammlung zu präsentieren sein würde: Zwei Sparten machten Gewinn, und zwar die von Uhl und Wenningrode. Und alle anderen Asspergsparten machten Verlust, erheblichen Verlust. Das Gesamtergebnis 2001 hielt sich mit Mühe und unter Einsatz aller Bilanzmathematik gerade noch im Positiven, insgesamt das schlechteste Konzernergebnis seit der Ölkrisenzeit in den 70er Jahren. Aber noch schlimmer waren die Zahlen für das erste Quartal 2002, die Holtrop in der vergangenen Woche, mit einer Gewinnwarnung verbunden, durch Schmäling der Öffentlichkeit mitzuteilen gehabt hatte. Er selbst war an diesem Tag für eine lange vorher geplante Rede in Washington gewesen. Seither prasselten die Beschimpfungsberichte auf Holtrop ein, im Tenor in bösartiger Weise gegen Holtrop persönlich gerichtet, in der Sache aber, was die Probleme bei Assperg betraf, erstaunlich nahe an der Realität. Tatsächlich musste man sich fragen, ob es für diese Berichte Informanten, undichte Stellen gab, durch die vertrauliche Informationen, die nur dem Vorstand und dem Aufsichtsrat bekannt waren, gezielt an die Öffentlichkeit gegeben wurden, und die Antwort auf diese Frage war eindeutig: ja. »Die Verräter sitzen also unter uns?« hatte Holtrop zu Schmäling gesagt, den er als Mann seines Vertrauens betrachtete, weil er ihn zu Assperg geholt hatte, »was kann man da machen?« »Schwierig«, hatte Schmäling geantwortet, aber immerhin eine vorsichtige Recherche gestartet.

Daran dachte Holtrop, als er wieder neben Ahlers saß. Das ihm von Ahlers vorgelegte Papier, das vor Holtrop auf dem Tisch lag, war für ihn eventuell gefährlich. »Will Ahlers mich etwa bedrohen?« dachte Holtrop. »Hat Blaschke absprachewidrig problematische Gelder freigegeben?« Von der Seite schaute Ahlers traurig und überheblich auf Holtrop. Es war ihm unbegreiflich, dass Holtrop auch nach Jahren an der Asspergspitze für den betriebswirtschaftlichen Kernbereich FINANZEN einfach kein Interesse in sich entdecken konnte, dass er die intellektuelle Herausforderung dieses Bereichs überhaupt nicht erkannte. Für diese Dummheit verachtete Ahlers Holtrop, und Holtrop verachtete Ahlers für die Überheblichkeit, mit der er, real aus untergeordneter Position, auf Grund seines hochspezialisierten Fachwissens auf Holtrop herabsah. Außerdem war es die im Gesamtmenschen Ahlers konzentrierte und von ihm zur Schau getragene Vernünftigkeit, die Holtrop fundamental ankotzte. Bezogen auf den vor ihm liegenden Zettel sagte Holtrop: »Wie verfahren wir?« »Das frage ich Sie!« antwortete Ahlers. »Ich weiß es nicht, was schlagen Sie vor?« Jetzt war es die von Ahlers’ Gesicht routiniert vorgezeigte Besorgnis, die es Holtrop unmöglich machte, dieses Gespräch weiterzuführen. »Ahlers abschaffen!« dachte Holtrop grell ergrimmt und eröffnete mit einem launigen Spruch, der das schlimme Aprilwetter mit den aktuellen Presseberichten über Asspergs desaströse Lage in Verbindung brachte, die Vorstandssitzung.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072_split_000.html
part0072_split_001.html
part0072_split_002.html
part0072_split_003.html
part0072_split_004.html
part0072_split_005.html
part0072_split_006.html
part0072_split_007.html
part0072_split_008.html
part0072_split_009.html
part0072_split_010.html
part0072_split_011.html
part0072_split_012.html
part0072_split_013.html
part0072_split_014.html
part0072_split_015.html
part0072_split_016.html
part0072_split_017.html
part0072_split_018.html