II

Das Büro der Gebäudereinigungsfirma Clean Impact war in einer Lagerhalle auf dem Gelände der ehemaligen russischen Kaserne südlich des Güterbahnhofs im ersten Stock untergebracht. Hier saß Poggarts Sekretärin Frau Straub an ihrem Schreibtisch, rote Haare, Tochter eines Landgasthausbesitzers aus Bad Langensalza, sie hatte die schriftlichen Dinge der Firma in der Hand, führte Clean Impact geordnet durch den täglichen Wust behördlicher Vorschriften und Formulare. Sie legte den Arbeitern die Arbeitslisten vor, wo Name, Tag und Stundenzahl eingetragen waren, und an der entsprechenden Stelle musste jeder unterschreiben, von Frau Straub dabei überwacht. Henze zeichnete die Khedivestunden ab. Die Festangestellten bekamen ihren Lohn wöchentlich, die Leihkräfte sofort ausbezahlt. Henze sollte heute für die fünf Khedivestunden DM 37,50 bekommen, bekam von Frau Straub aber nur drei Zehnerscheine und ein Fünfmarkstück, also DM 35, ausgehändigt. Das restliche Kleingeld von DM 2,50 wurde auf dem Sonderzettel Henze gutgeschrieben. Die Stundenkalkulation berechnete: zwei Stunden für die An- und Abfahrt zum Objekt, wofür real jeweils fünfzehn Minuten angefallen waren, aber angefangene Stunden mussten voll berechnet werden; zwei Stunden Putzen in den Büroräumen, einschließlich der arbeitsschutzrechtlich vorgeschriebenen Zigarettenpausen alle zwanzig Minuten zwischendurch; eine Stunde Aufräumen der Putzgeräte nach der Arbeit, real zehn Minuten, hier musste die Sitzung danach in der Eingangshalle mitgerechnet werden. Weil aber in den heute Nacht sauber gemachten Büros von Arrow PC untertags ein im Vergleich zu Clean Impact etwa 50- bis 160-facher, manchmal auch 200-facher Stundensatz, also etwa DM 375,– bis DM 4.550,– pro Stunde, für dort erbrachte Entwicklungs- und Beratungsleistungen abgerechnet wurde, war es egal, und zwar allen Beteiligten, ob die fünf von Clean Impact abgerechneten Stunden à DM 22,50 pro Mann in Wirklichkeit nur zwei, drei oder vier real abgearbeitete Arbeitsstunden vor Ort gewesen waren oder eine oder fünf. Die Büros waren danach jedenfalls so sauber, wie von Clean Impact zugesichert. Und wenn dort in Krölpa der Pförtner in den Minuten um kurz vor sieben Uhr hinter dem Empfangstresen seinen Platz einnahm und bald auch schon die ersten Angestellten, die Frühanfänger, die die Stille des Morgens für konzentriertes Arbeiten nutzen wollten, in den frisch geputzten Zimmern ankamen, war auch in dieser Firma, jetzt überall hell erleuchtet, denn es war Ende November und noch dunkel draußen, die Welt durch Tätigkeit bezahlter Arbeitskräfte über Nacht äußerlich auf Null zurückgesetzt, war alles aufgeräumt und sauber gemacht und in den Frischezustand der täglich neuen Frühe versetzt, ohne dass die Angestellten selbst davon viel mitbekommen hätten oder das besonders bemerken würden.

In seinem Eckzimmer saß der Leiter Konzernsicherheit Krölpa, Dr. H. Sprißler, 52, auch einer dieser Frühanfänger, nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte eigenhändig die Nummer seines direkten Ansprechpartners bei der der Arrow PC seitlich schräg übergeordneten Mutterfirma Assperg AG in Schönhausen und hatte nach einem kurzen Gespräch mit dem dort zuständigen Unter seines hiesigen Chefs Blaschke den Satz notiert: »Assperg lässt die Frage: Zulässigkeit Überwachung Immobilien Krölpa vorerst inhouse in Schönhausen prüfen«, um anschließend sofort, vorschrifts- und vereinbarungsgemäß einen angefangenen Zehnminutenslot auf den rechnungstechnisch unabhängigen KS-Mandanten Assperg zu schreiben, war so aus einem Vierzigsekundentelefonat und einer Achtsekundennotiz, durch fast nichts also, nicht gerade wenig Geld, ein paar hundert Mark auf jeden Fall, wieviel genau, würde zuletzt in den Kürzungsverhandlungen über das geforderte Honorar entschieden werden, neu generiert und gemacht, war Geld aus nichts erschaffen worden, hatte Arrow PC seinen Auftrag erfüllt, sein Imprint verwirklicht: Arrow turns your phantasy to cash.

Henze steckte die ihm übergebenen 35 Mark ein. Poggart war aus dem hinteren Bürozimmer hervorgekommen, mit Papieren in der Hand, die er der Frau Straub auf den Schreibtisch legte, diese Unterlagen, erklärte er ihr, gehörten zum Objekt in Gössitz, ein Fensterjob, der tagsüber gemacht wurde. Poggart hatte zur Zeit, je nach konkreter Auftragslage, bis zu dreißig oder vierzig Mann im Einsatz, die Hälfte von ihnen wurde über die thüringische Landesarbeitsanstalt, Kreisstelle Tonna, vermittelt und bezahlt, was aus finanzverwaltungstechnischen Gründen geboten war, aber eine hohe Fluktuation dieser Mitarbeiter zur Folge hatte. Die andere Hälfte der Arbeiter war, nach dem Subunternehmermodell, selbst jeweils als Selbständiger, oder auch, das hatte Poggart nicht zu prüfen, als Scheinselbständiger beim Finanzamt registriert und bei Clean Impact unter Vertrag. Abgaben und Steuern wurden so aus den Fördertöpfen für strukturschwache Kreise in den einzelnen Gemeinden, wo die jeweiligen Objekte, die Clean Impact bearbeitete, angesiedelt waren, direkt fällig, für die Einzelunternehmer selbst wiederum umgekehrt als nebenabzugsfähig gegenzurechnen und damit vorsteuerfrei zu buchen usw. Natürlich machte sich Poggart keine Illusionen über die Zuverlässigkeit der Putzleute, die bei ihm arbeiteten. Nach seinen Erfahrungen als Chef galt auch hier, Daumen mal pi, die Drittelregel: ein Drittel Betrüger, Halunken und Hallodris, ein Drittel Anständige, Nette und Bemühte, und das dritte Drittel Schwankende, die verführbar waren durch günstige Gelegenheiten. Man musste die Leute deshalb, das war Poggarts konsequenzialethische Philosophie als Chef, auf eine ordentliche, übersichtliche, für die Leute vorhersehbare, im Konkreten aber überraschende Art mit Überwachung bedrohen, um sie beherrschen und führen zu können. Diesem Auftrag kam er durch seine Besuche in den Objekten, wo geputzt wurde, nach, und wie er jetzt zu Henze meinte: »ganz gut gelaufen heute«, konnte Henze durch den dichten Vollbart Poggarts hindurch die mit diesem Satz eventuell verbundene Aussageabsicht, die ihre morgendliche Begegnung in Sprißlers Eckbüro betraf, und deren möglichen Hintersinn nicht erkennen, weshalb er, von dieser Undurchsichtigkeit gestresst, nur langsam nicken und »ja« sagen konnte, ohne Poggart sagen zu können, was er immer schon einmal machen wollte, dass er gerne bei ihm arbeitete.

Dann verabschiedete sich Henze und ging an den Kollegen, die auf dem Gang bei den Spinden standen, vorbei nach draußen, setzte sich in sein Auto und machte sich auf den Heimweg, wieder zurück nach Krölpa. Er fuhr die Strecke ohne Eile. Erst kamen Bäume, dann leere Flächen, dann ein kleiner Wald, der sich auf eine Senke hin öffnete, dahinter eine Gerade und zuletzt die ersten Häuser von Krölpa, hier, in der Glasheimersiedlung am alten Ortsrand bei den Kalksteinbrüchen, war Henze in einer Baracke, die es bis vor wenigen Jahren noch gegeben hatte, aufgewachsen. Die Fahrt zwischen den Ortschaften war ohne besondere Vorkommnisse geblieben und unbemerkt, als Moment der Seele, durch Henze hindurchgegangen, er fuhr in den Ort hinein, bei der Bäckerei rechts ab richtung Unstrut, über die Brücke, beim Kiosk nocheinmal rechts, dreihundert Meter, dann war er da: Ortsteil Lauchhammer, früher eine Ansammlung einfacher Datschen, heute waren die Häuser teils hergerichtet, teils so gelassen worden, wie sie immer schon gewesen waren, gebückt und abgeschabt, Orte, wo das Unglück genauso zuhause gewesen sein konnte wie Ruhe und Glück. Ein solches Zuhause war das Haus seiner Kindheit für Henze bis zum Tod seiner Mutter gewesen, danach war das Haus geschrumpft, ein entfernter Cousin aus dem Westen hatte Rechte reklamiert und bekommen, aus der Hauptwohnung, 70 qm, hatte Henze ausziehen müssen, im seitlichen Teil, 40 qm, sich eine Parzelle für Küche und Dusche abgetrennt, vom Zimmer aus eine Türe direkt in den Garten hinaus durchgebrochen, Gartenbenützung gemeinsam mit den Untermietern der Mieter des Cousins. Die Sachen der Mutter hatte er auf den dafür eigens ausgebauten Dachboden verbracht. Bei seinen eigenen Sachen, die sich in den letzten Jahren der Arbeitslosigkeit stetig vermehrt hatten, war Henze immer noch am Räumen und Aufräumen, deswegen waren diejenigen Tage gute Tage in Henzes jetzigem Leben, an denen er keinen Anruf von der Reinigungsfirma bekam, weil er dann nachts nicht zum Putzen gehen musste, sondern bei sich zuhause aufräumen konnte.

Henze stopte den Wagen vor dem Grundstück Am Steinanger 10, hatte zwei Eisengitter, die er vor ein paar Tagen auf einem Parkplatz mitgenommen und im Auto verstaut hatte, ausgeladen, das Auto weiter zu der Garagenanlage am Ende der nächsten Querstraße gefahren, wo er eine Garage gemietet hatte, und das Auto dort abgestellt. Auf dem Rückweg zum Haus, vorbei an einigen Sträuchern, bemerkte er ein Geräusch, Knacken von Holz, dann einen tierhaften Ton, einen Schrei, eine Stimme, die er keinem der Tiere aus der Nachbarschaft zuordnen konnte, ging aber weiter, ohne stehenzubleiben. Er war in anderen, von ihm selbst nicht festgehaltenen Gedanken, ein von Google Mind ausgelesenes Atomelektroenzephalogramm wüsste, in welchen genau. Er öffnete das Gartentor, brachte die Eisengitter hinter das Haus zu seiner Türe, sperrte auf, stellte den Container, der vor der Türe stand, zur Seite, machte die Türe auf und ging in dem Zimmer, wo in der Mitte ein Durchgang freigehalten war, bis zur Küchenecke. Dort ließ er sich am Waschbecken ein Glas Wasser einlaufen und zündete sich noch eine Zigarette an. Dann stand er an die Spüle gelehnt, rauchte und trank Wasser. Er sah den leeren Stuhl vor sich, wollte sich dort hinsetzen, blieb stehen, dann war das Telefon, das er vorhin im Büro fast mitgenommen hätte, nocheinmal gedanklich in seinem Kopf sehr präsent, gefolgt von einer Kaskade möglicher Handlungen, auch illegaler Art, die sich aus dem Wissen hätten ergeben können, das durch die Mitnahme des Telefons in ihm zusammengekommen wäre, wegen der daraus folgenden Komplikationen seines Lebens, die er vermeiden wollte, von ihm wahrscheinlich richtigerweise abgelehnte, eventuell auch generell abzulehnende Handlungen usw. Zu verschiedenen Punkten dieser Überlegung kamen dann verschiedene Zweifel in Henze auf, denen er im Moment aber nicht in weitere Erwägungen hinein folgen wollte. Er war nämlich müde, ging zum Bett, räumte die dortigen Kartons zur Seite und stellte einen Bottich voll Wasser innen vor die Türe, aus Gewohnheit und zur Sicherheit. Dann zog er sich die Schuhe und die Hose aus und legte sich zum Schlafen hin. Bei geschlossenen Augen, auf dem Rücken liegend, wartete er auf den Schlaf. Nach einer Zeit, in der nichts passiert war, außer dass es in seinem Kopf immer unruhiger geworden war, machte Henze die Augen wieder auf und lauschte hinaus in den anbrechenden Morgen.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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