VII

NOVEMBER. »Doch wenn der letzte Text geschrieben ist«, sagte Traugott Buhre, der Pastor in Keitum auf Sylt, in seiner Ansprache bei der Augsteinbeerdigung, »und alles aus der Hand gegeben ist«, hier machte der Pastor eine Pause und schaute in die voll besetzte kleine Kapelle, in der die Trauergesellschaft um die Ehefrauen und Geliebten Augsteins, seine Kinder und Verwandten, versammelt war, auch die wichtigsten Spitzenleute von Mediendeutschland – ähnlich wie bei der Trauerfeier für Gräfin Dönhoff im März und bei Siegfried Unselds Beerdigung vor gerade eben erst zwei Wochen in Frankfurt – alles Leute, die eigentlich noch nichts aus der Hand geben wollten, im Gegenteil definitiv entschieden waren, alles, zumindest vorerst noch und so lange es ging, so total wie möglich in der eigenen Hand zu behalten, deshalb je nach Naturell demütig, schuldbewusst oder trotzig auf die Vollendung dieses Satzes warteten und es auch vermieden, den sie etwas zu lange schweigend anschauenden Pastor anzuschauen, wie er wartete und schließlich prophetisch drohend sagte: »dann werden die irdischen Beurteilungen vom Winde verweht.« Vom Winde verweht. Die irdischen Beurteilungen. Die letzten drei Worten hallten in der Kapelle nach und wurden zwischen den weiß gekalkten Wänden, zwischen denen die schwarz bekleideten Trauergäste saßen, hin- und hergeworfen. Aber stimmt denn das überhaupt? Die Praktiker des Lebens, die Sieger, Gewinner, Mächtigen, die sich im ersten Moment automatisch gegen diese Annihilation ihrer gesamten Aktivitätsexistenz gewehrt hatten, denn irdische Urteile und Beurteilungen waren die Währung ihrer Ehre, die ihnen das Leben an der Spitze der Gesellschaft ermöglichte, mussten im nächsten Moment schon, waren sie aufrichtig, den traditionellen Kompetenzvorsprung der Kirche in der vom Tod für alle eine kurze Zeit lang fundamental veränderten Welt anerkennen. Es war die Perspektive des Toten selbst, oder zumindest die, die man dem Toten, der in Ruhe ruhen möge, wünschte, aus der heraus gesagt der Satz nicht nur der reine Kitsch war, sondern zumindest vielleicht, möglicherweise wahr, »der letzte Text«, notierte der Berichterstatter Schmidt, »vom Wind verweht«. »Wo ist Holtrop?« hatten Schmidt vor Beginn der Trauerfeier einige Kollegen gefragt, »nicht eingeladen«, sagte jemand, »krank«, ein anderer, »er traut sich seit dem Asspergrauswurf«, sagte Schmidt, »nicht mehr unter Leute«, dabei deutete er an, mehr und Genaueres zu wissen. »Und der kleine Dicke da?« »Ist das nicht dieser Telekomtyp«, »der von früher?« »Auch gegen Holtrop soll ja übrigens die Anklage schon vorbereitet werden«, sagte Schmidt, »wegen Untreue, Bilanzfälschung etc.« Draußen standen die Leute nach der Beerdigung in kleinen Gruppen zusammen und redeten, es war ein kalter, sonniger Tag. Der alte Assperg war schon am Weggehen, als Spiegelchef Czisch auf die Gruppe um ihn und Wenningrode herum zutrat, auf Wenningrode zeigte und fröhlich befahl: »Und jetzt sind Sie dran!« Wenningrode grinste lasch. Czisch: »Mit Interview!« »Natürlich«, sagte Wenningrode. Czisch verabschiedete sich und ging zur nächsten Gruppe weiter, wo Flimm und Bissinger zusammenstanden, daneben Sommer, Rau und Helmut Schmidt. Sie redeten über die große Trauerfeier, den Staatsakt, der am kommenden Montag in der Hamburger Kirche St. Michaelis zu Ehren von Rudolf Augstein stattfinden würde. Und heißt es nicht auch: »Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« »Ja«, sagte Flimm, »trifft hier nicht zu, ist aber eine schöne Stelle.«

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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