XXI
Die Hypnose funktionierte, Frau Zegna stellte die richtigen Fragen, und Holtrop redete über Assperg, die Weltfirma, den Vorstand, die Kollegen und die Besitzerfamilie, mit genau der Begeisterung, die er für sein größtes Talent hielt. So war er, so wollte er sein und gesehen werden, hingerissen vom Beruf. Holtrop erzählte von den Jahren des Booms und vom Fingerspitzengefühl für die Zeit. Wie die Zeit damals plötzlich so rasend beschleunigt dahingejagt sei. Diesen Puls habe er gespürt und aufgenommen und in Geschäfte transformieren können, weltweit, mit der dazu nötigen Portion Glück natürlich. Er zählte die gekauften Firmen auf, die großen Übernahmen, die Deals, Fusionen und Verkäufe, »wird Ihnen schon schwindlig?« sagte er und bleckte die Zähne, »nein, nein«, sagte die vom Zuhören aber doch schon leicht erhitzte Frau Zegna. Für all diese Dinge hätten die Besonderen, die Nervöseren unter den Firmenchefs einen siebten Sinn entwickelt. Das habe er sich bei seinem genialen Vorgänger Brosse abgeschaut, Entscheidungsfreude im richtigen Moment. Aber man müsse natürlich auch zaudern können, hart verhandeln. Niemand habe gerade dafür ein so scharfes Gespür wie der immer noch einzigartig weitsichtige Firmenpatriarch Assperg selbst. Überhaupt sei die Familie Assperg ein Glücksfall für das Unternehmen. »Sie kennen doch die berühmte Geschichte von Friedrich II.?« Der habe nur deshalb so wagemutig und erfolgreich Krieg führen können, weil er selbst König und Heerführer zugleich gewesen sei. In Holtrops Generalstab, im Vorstand, aber auch im Aufsichtsrat, sei das Niveau der Debatten über strategische Fragen der Firmenpolitik einzigartig, »auf Universitätsniveau!« rief Holtrop, als wäre das real das Höchste. Unverzichtbar sei für ihn als CEO die Expertise eines jeden seiner Kollegen im Vorstand, Holtrop nannte speziell Ahlers und Wenningrode, aber auch Uhl, Teerhagen und Schuster und sprach voll Bewunderung über deren besondere Talente.
Das Loblied war gelogen, es klang auch sehr grell. Aber Holtrop dachte in diesem Moment genau so, wie er sprach, er war mit der Lüge selbst komplett identisch. Die Leute wollten gelobt werden, diesen Gefallen konnte Holtrop ihnen tun. Es kam als Nutzen zu ihm zurück, das war Holtrops Erfahrung, also lobte er die öffentlich, die er für sein Fortkommen brauchen konnte, dafür musste er sich innerlich nicht verbiegen. Vor Publikum, also auch im Gespräch oder in der Situation des Interviews, dachte er automatisch, was er denken wollte. Das war nicht davon diktiert, was er wirklich dachte, sondern davon, was ihm nützte. Darin hatte die Effizienz des Holtropschen Gehirns ihre Ursache, dass es abgewendet war vom Zweifel in einem Ausmaß, wie es selbst bei Menschen der Tat selten anzutreffen ist. In der Bewegung war Holtrop bei sich, auf der Flucht vor Wahrheit, immer fort von dort, wo er selbst gerade, wo der Zweifel war: weg von Schönhausen, weg von den Anfeindungen dort und hin nach Krölpa, schnellstens wieder weg von Krölpa, aus der Depression der Ostprovinz nach Berlin, von dort und der dortigen Leere wieder zurück nach Schönhausen und möglichst sofort via Frankfurt nach New York, Shanghai oder Hongkong, »broaden your horizon, man!«, und Holtrop zeigte nach draußen, wo die Autolichter rot und weiß durch die Dunkelheit dahinzogen, im breiten Fluss, auf der sechsspurigen Autobahn kurz vor Berlin, ein phantastisches Bild geschäftiger Bewegung an diesem Freitagabend. In der Ferne sah man schon den Glanz am Himmel über der Stadt hellweißlich schimmern.
Und Fehler? »Sind denn keine Fehler passiert?« fragte Frau Zegna. Denn Holtrop hatte von seiner Zeit als Asspergchef als einem einzigen Triumphzug gesprochen, als habe er selbst dabei überhaupt keine Fehler gemacht. »Wir machen alle Fehler«, sagte Holtrop, »wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht. Das geht gar nicht anders.« Von sich selbst und von eigenen Fehlern aber sagte er nichts. So sei er wohl noch nie, hatte sie ihn deshalb gefragt, an irgendwelche Grenzen gestoßen. »Oh!, an viele«, war Holtrops Antwort, »an nichts als Grenzen, Vorschriften, kleingeistige Hindernisse und Grenzen«, als Unternehmer in Deutschland, das sei ja die Krux, bestehe das Leben zu 98 Prozent aus völlig schwachsinnigen, für den Wirtschaftsstandort Deutschland obendrein unbeschreiblich schädlichen Grenzen. Aber die Politik wolle davon bekanntlich nichts wissen und nichts hören, die Politik sei da lachhaft beratungsresistent. »Ich meinte innere Grenzen.« »Innere!« Holtrop lächelte. Irgendetwas, was in ihm vorging, gefiel ihm wieder einmal besonders gut an sich selbst. Sie präzisierte: »Grenzen der eigenen Begabung etwa.« »Der Begabung, ja«, sagte Holtrop, und sein Lächeln wurde schief und grimmig, »so arrogant das klingt, aber die Wahrheit ist tatsächlich, ich würde Ihnen gerne etwas anderes sagen, aber: an solche inneren Grenzen meiner Begabung bin ich, bisher jedenfalls, noch nicht gekommen.« Und Frau Zegna hatte in dem Moment in einer für sie selbst erstaunlichen Klarheit die Worte gedacht: »Wie kann ein Mensch so DUMM sein?« Ein offensichtlich kluger Mensch, so eindeutig und überdeutlich dumm?
Thewe stand im Wohnzimmer seines Hauses neben einem schweren, weinrot bis zum Boden hängenden Vorhang an der Fensterfront und schaute nach draußen, über den Garten hinaus auf den See, als der Anruf von Leffers endlich kam. Es war halb zehn Uhr abends, Freitag, Leffers hatte sein Kommen für acht, halb neun angekündigt, obwohl er für den Abend mit Holtrop verabredet war. »Kein Problem«, hatte Thewe gesagt, er sei ja sowieso zuhause. Und dann gewartet. Halb neun, viertel vor neun, neun, alle fünf Minuten schaute Thewe auf die Uhr, alle drei Minuten, er wurde immer verrückter, immer unruhiger. Thewe hatte gehadert mit seiner Einladung, es wäre besser gewesen, wenn sie sich in der Stadt verabredet hätten, anstatt bei ihm zuhause, »das war falsch!« dachte Thewe, und dann hatte er weiter gewartet, sinnlos aufgeräumt im Haus, die Zeitungen durchgeblättert, aber er konnte nicht lesen, er war nervös, er wartete auf Leffers, Leffers war, je länger Thewe auf ihn warten musste, umso mehr, zu Thewes letzter Hoffnung geworden, obwohl auch dieser Gedanke Unsinn war, das Treffen überhaupt eine falsche Idee. »Bei dir«, rief Leffers ins Telefon, »alles okay?« Mit gepresster Stimme versicherte Thewe, dass bei ihm alles bestens sei. »Wann kommst du?« fragte Thewe. »Ja, schwierig«, antwortete Leffers, »wir haben hier Notfall, ginge bei dir auch morgen?« Morgen sei schlecht, meinte Thewe, er habe ihm doch schon gesagt, dass er morgen nach Schönhausen fahre. »Richtig, richtig!« sagte Leffers, »dann komm ich heute noch, klar! Wie lange bist du wach?« Thewe zögerte. Die Aussicht, hier weiter auf Leffers zu warten, war fürchterlich. Er wollte die Verabredung absagen, aber die richtigen Worte kamen ihm nicht, es fehlte die Kraft. »Bist du noch dran?« fragte Leffers. »Ja.« »Gut, hör zu, bis halb elf, elf Uhr spätestens bin ich da, wenn sich nochmal was ändern sollte, sag ich rechtzeitig bescheid, okay?« Dieses »okay« sendete Zeitdruck mit, Thewe nickte, sagte: »Sehr gut, ja.« »Wunderbar, bis später also!« rief Leffers, und Thewe wusste, dass es mit dieser Verabredung heute nichts mehr werden würde. Er stand da und schaute nach draußen.
Irgendeine fundamental falsche Bewegung hatte ihn hierher gebracht. Er überlegte, wie es dazu gekommen war, dass kein einziger anderer Mensch mehr für ihn erreichbar war in diesem Moment. Er hatte zu viele Gesetze des Überlebens in Gesellschaft zu oft missachtet. Er hatte sich als Einzelkämpfer in der Firma gesehen, weil er frei sein wollte von den üblichen taktischen Bindungen, den Lügen und Seilschaften. Das hatte ihm keinen Erfolg gebracht. Er war auf den Chefposten in Krölpa berufen, dorthin abgeschoben worden, eine Stelle ohne Mandat und ohne Zukunft. Trotzdem hatte er dort seine Arbeit ordentlich gemacht und sich nebenher mit anderen Dingen beschäftigt, dieses Haus hier bei Berlin gekauft, Reisen gemacht. Kochen, Essen gehen, Wein, Kultur. Durch den Alltag der Arbeit, sein inneres Stillstehen darin und die Dauer der Jahre hatte er das eigene Altern nicht bemerkt, aber plötzlich war es so: er war alt. Er war inzwischen älter als alle seine Chefs, älter auch als die Kollegen, die ihm gleichgestellt waren. Thewe war machtlos, unwichtig, alt und ohne Rückhalt von weiter oben. Er hatte gern für Assperg gearbeitet, es aber abgelehnt, beim alten Assperg oder dessen Frau um Anerkennung dafür nachzusuchen. Es war ihm gegen die Ehre gegangen, sich an den erniedrigenden Untertanenritualen, die am Hof Assperg üblich waren, zu beteiligen. »Es muss doch auch ohne diese Schleimereien gehen«, hatte Thewe gedacht, sich damit aber geirrt. Sein Hochmut war falsch gewesen. Überflüssig war Thewe schon lange, dann wurde er auch noch lästig, weil er Holtrop bei der neuesten Compliancereorganisation im Weg war. Daraus folgte, dass man ihn als jemanden, der lästig war, beseitigte. Da gab es, aus Sicht der Firma, keine Sentimentalitäten. Auch hatte niemand Angst, Thewe zu entfernen, im Knopfdruckmodus: Freund entfernen, denn er hatte keine Drohmittel aufgebaut, mit denen er sich wehren konnte. Man hatte ihn abgeschafft, so einfach war das, und der Irrsinn war, er war selber auch noch schuld daran. Er fühlte all das unklar, ganz richtig denken konnte er es nicht, dazu war er geistig zu lasch. Die Bilanz war klar erkennbar: Er war allein. Thewe wollte vom Fenster weggehen, wusste aber nicht, wohin.
Auf der anderen Seite des Sees, wo auf einer schmalen Landzunge eine Kleingartenkolonie angelegt war, die noch aus Vorwendezeiten stammte, waren zwischen Büschen und Bäumen vereinzelt Lichter in den Hütten zu sehen, obwohl es eigentlich verboten war, dort zu übernachten.