XI

2003. Die Vitalität der Szene im Nachtclub funktionierte, Holtrop wippte mit der Musik mit wie die anderen Männer, vorne tanzten zwei Frauen im roten Licht auf der Bühne, dann wechselte der stampfende Beat von Techno auf sleazy House, das Licht wurde heruntergedimmt, die beiden fast unbekleideten Frauen machten sich gegenseitig ganz nackt, und das Licht wurde wieder heller. In der kaltweißen Bühnenbeleuchtung tanzten die nackten Frauen, küssten und berührten sich, und die nahe vor ihnen sitzenden Männer in dem Londoner Kellertheater off Oxford Street, in das Holtrop von Mack mitgenommen worden war, sollten die Details genau erkennen können, die schimmernde Haut am inneren Oberschenkel bei der großen schwarzen Frau, die prall vorspringenden Brustwarzen bei der anderen, einer Asiatin, an denen die große Frau saugte und die sie leckte, dabei die Rosette ihres Anus dem Publikum entgegenhielt. Unter dem Venushügel erschien das Gesicht der Asiatin, mit ihrem Mund nahm sie die äußeren Schamlippen, denen ein glitzerndes Kurzhaarfell gelassen war, in sich hinein auf, atmete, leckte, blies und schmatzte das Genital der schwarzen Frau hellrosa feucht und nass und rieb dabei zugleich mit ihrem Mittelfinger ihre eigene, auch dem Publikum entgegengehaltene Scheide, steckte den Finger in die Vagina, bewegte ihn da im Inneren vor und zurück, befeuchtete auch das nackt rasierte Äußere ihrer Spalte, drückte ihre Schamlippen, die dadurch größer und noch schöner wurden, auseinander und zusammen, spreizte weit die Beine und betupfte mit ihren Fingern die Spitze ihrer Klitoris von hinten und von vorne und immer heftiger und schrie zuletzt mit ihrem Mund in die nass wogende Fotze der Schwarzen hinein einen tierischen Lustschrei gellend aus sich heraus. Danach fiel sie zurück, lag am Boden, schnaufte schwer und lachte mit geschlossenen Augen in sich hinein. Die Männer applaudierten, johlten, freuten sich unglaublich am egal wie abgefuckt fingierten Realismus dieses Schauspiels. »Da kommen Sie nicht gegen an«, sagte Mack und schaute Holtrop, dessen Unsicherheit er registriert hatte, von der Seite lauernd an. Mack war einer von drei Leuten, die Holtrop nach dem Asspergdesaster geblieben waren: Maschinger, Bodenhausen, Mack. Man musste nicht gleich von Freundschaft reden, aber an Macks handfester Normalität hatte Holtrop im Nachhinein die Marionettenhaftigkeit der Figuren erkannt, die ihn in seiner Zeit als Mega-CEO gar nicht genug umschmeicheln konnten, danach aber in einer wirklich unvorstellbaren Weise fallengelassen hatten. Wie ferngesteuert war Holtrop von all diesen früheren Bekannten, Kollegen und vermeintlichen Freunden ignoriert, geschnitten, übergangen worden, mit einem Schlag regelrecht ausgestoßen aus der Gesellschaft derer ganz oben, der er sein ganzes Berufsleben lang angehört hatte. Als Nichtchef und Freier war er für diese jetzt nicht nur Paria, Untermensch und Loser geworden, sondern wirklich ein GEFÄHRDER, weil er das System der Privilegien der ganz oben angestellten Manager kannte, aber nicht mehr selber davon profitierte. Wer mitmachte bei der systematisch organisierten Chefkorruption im oberen und obersten Management der großen Wirtschaftsunternehmen, war akzeptiert, weil er sich durch eigene Vorteilsnahme mit dem System einverstanden erklärte und damit selber genügend korrumpierte. Kein Nichtkorrumpierter sollte in ihren Kreisen verkehren, darüber wachte ängstlich die Gesellschaft der Feiglinge ganz oben. Das war der Mechanismus, dessen Opfer Holtrop nach seinem Sturz geworden war. »Das muss man realistisch sehen«, hatte Mack dazu gesagt, »nicht moralisch.« Und dann hatte Mack aus dem angestellten Topmanager Holtrop, der ohne eigenes Verschulden in den Abgrund gestürzt worden war, den freien Unternehmer, den Dealer, den Entrepreneur und Investmentabenteurer Holtrop gemacht. Vierzig Millionen Euro hatte Holtrop von Assperg direkt mitgenommen, zwanzig Millionen würden in den nächsten fünf Jahren von dort noch dazukommen. »Das ist ja nicht viel«, hatte Mack gesagt, aber mehr als nichts sei es natürlich schon. »Mit vierzig Millionen können Sie kleine Brötchen backen oder ein bisschen größere«, hatte Mack bei dem legendären ersten Treffen in Holtrops Wohnzimmer erklärt und Holtrop dann dazu animiert, ihn zu beauftragen, diese in Aussicht gestellten etwas größeren Brötchen für Holtrop backen zu dürfen, mit Holtrops Geld, gegen später von Holtrop zu zahlende Provision. Gerade hatte Holtrop sich mit dem frisch von Assperg herübergespülten Schweigegeld ein bisschen reich gefühlt, nach den Besprechungen mit Mack fühlte er sich jedesmal schuldig, weil er Mack nur Peanuts, nicht ein vernünftiges Vermögen zur Verwaltung übertragen konnte. »Große Sprünge macht man damit nicht, das ist klar.« Aber dann hatte Mack Holtrop den Winter der Genesung über stark dazu gedrängt, mit diesem Geld möglichst schnell nach London zu gehen. Durch eine richtige Steuergesetzgebung laufe der heimliche Boom dort in der City schon seit Monaten, noch seien die Kurse am Fallen, noch könne man überall sehr günstig einsteigen dort. Alle warteten nur auf den Startschuss. Und wenn der Krieg gegen den Irak komme, und dieser Krieg werde kommen, egal was in Washington und Bagdad oder Berlin an Lügen und taktischen Nichtwahrheiten dazu in diesen Tagen vermeldet worden sei, könnte eben dies, der Beginn des Krieges, sehr gut der von allen erwartete Startschuss sein. Im Januar war Holtrop noch nicht so weit. Im Februar auch nicht. Holtrop wollte nicht nach London gehen. London kam ihm alt und langweilig vor. Lieber wäre er nach New York gegangen, auch in den USA war die Rede von einem neuen Finanzboom, der bald richtig anspringen sollte. Dort ging es um Kredite. Nie waren die Zinsen günstiger, nie war das Geld billiger. Aber um am Refinanzierungsgeschäft selber mit Gewinnaussicht teilzunehmen, war Holtrop zu wenig Banker. Dann vielleicht also die Westküste? Dort saßen die einstigen Stars der New Economy verwirrt in ihren mehrfach geschrumpften Restbüros, ratlos. Und die Freunde von früher hatten auch hier für Holtrop, den Nichtmehrchef, nur ganz kurz Zeit. »It’s so great to see you!« Zehn Minuten später war der Termin beendet. Und so war Holtrop jetzt also doch, wie von Mack empfohlen, innerhalb von zwei Wochen dreimal in London gewesen, um mit allen möglichen hier wichtigen Leuten die von Mack vorbereiteten Gespräche zu führen. Mack hatte es zum Ritual erklärt, dass jeder Neuanfänger in der City einen solchen Abend in einem Sextheaterclub wie diesem hier über sich ergehen lassen müsse. Die Frauen vorne auf der Bühne standen auf und verbeugten sich, sie bedeckten Brüste und Scham jetzt mit ihren Händen, spielten fröhlich beschämte Kinder, was von den Männern nach der Hardcorevorführung nicht ungern gesehen wurde, die Männer applaudierten, und die Frauen hüpften seitlich nach hinten weg von der Bühne herunter. Mack rief: »Ich gebe noch einen aus!«, dabei drehte er sich nach dem Kellner um, winkte, gestikulierte mit beiden Armen und bestellte beim so endlich alarmierten und herbeigeeilten Kellner zur Feier des Tages noch eine dritte Flasche Champagner für ein paar hundert Pfund. Dann schaute er Holtrop wie der Krösus von Cremona an, als wäre dieser Coup, dass er hier Champagner ausgibt, schier nicht zu glauben, und lachte und haute sich immer wieder auf die Oberschenkel, dass sein ganzer Kopf und seine Schneckelhaare nur so wackelten.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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