XIX

Acht Tage später stand Holtrop endlich, »Schönhausenoffensive Eins, die Erste!«, in der Haupthalle der großen Druckerei, von Arbeitern umringt, und Technikchef Katte erklärte die schallgedämpfe Riesendruckmaschine, an deren Kopfende die Delegation des Vorstandsvorsitzenden Holtrop sich versammelt hatte. An der Konstruktion der neuen Maschine hatten auch Ingenieure aus Asspergs Entwicklungsabteilung mitgearbeitet. Sie standen seitlich hinter Katte und schauten ihm beim Reden zu. Die Leistung der Druckmaschine bezeichnete Katte als sensationell, er nannte die entsprechenden Kennziffern für Geschwindigkeit des Drucks, das Papierformat, die Druckqualität und den Schallschutz, und Holtrop nickte und hatte keine Mühe, sich der Begeisterung seiner Leute zugeschaltet zu wissen.

Genau so hatte er sich seine Offensive in die Firma hinein vorgestellt. Nur wusste er seit dem Abend in Karlsruhe auch, dass diese Offensive nicht reichen würde. Sie war notwendig, aber noch wichtiger wäre es, den alten Assperg wieder für sich zu gewinnen. Es war für Holtrop nicht zu rekonstruieren, wann genau und wodurch die persönliche Beziehung zum alten Assperg, die anfangs fast überschwänglich herzlich gewesen war und sich dann ganz natürlich im Lauf der Jahre etwas abgekühlt hatte, so sehr in die Brüche gegangen war, wie es der alte Assperg an dem Abend für Lord Weyenfeldt in Karlsruhe vorgeführt hatte. Noch vergangenen Sommer hatte Holtrop mit seiner ganzen Familie gemeinsam mit Assperg und dessen Familie in den asspergschen Latifundien auf Mallorca zwei Wochen Sommerurlaub gemacht, wie in anderen Jahre zuvor auch. Im Herbst war eine Veränderung beim alten Assperg festzustellen gewesen, der Holtrop zunächst keine besondere Aufmerksamkeit zugewendet hatte, aber der Widerstand beim alten Assperg wurde immer größer, »er zieht nicht mehr richtig mit, was ist los?«, hatte Holtrop öfters gedacht und wiederholt zu Dirlmeier und Riethuys gesagt. Genauere Analysen dieser Problematik hatte Holtrop auf die Zeit verschieben wollen, wenn das Danahergeschäft in den USA abgeschlossen wäre. Aber gerade dort hatten sich durch die Eintrübung der Konjunktur, von KRISE wollte Holtrop nicht sprechen, weil er das Wort selber nicht hören wollte, die Schwierigkeiten derart summiert, dass der geplante Abschluss des Geschäfts, eine Übernahme von Danaher zu Asspergs Konditionen, sich immer wieder verzögerte, zuletzt tatsächlich sogar unwahrscheinlich geworden war. Außerdem hatte der Aufsichtsrat, aus einer unbegründeten Übellaunigkeit von Aufsichtsratschef Brosse heraus, auch noch eine eigenständige Überprüfung des beinahe fertigen Jahresabschlusses durch die KPMG veranlasst, eine firmenintern öffentliche Ohrfeige für Holtrop. Holtrop hatte von dieser Überprüfung nichts zu befürchten, umso mehr ärgerte er sich darüber, weil Energien, die der Vorstand dringend an so vielen anderen Stellen bräuchte, sinnlos dort, im Konflikt mit dem Aufsichtsrat, gebunden wurden.

Diese Gedanken hinderten Holtrop nicht daran, leer und zu oft in Kattes Gesicht und die von dorther kommende Erklärungsrede hineinzunicken. Dann redete er selbst. Er machte große Armbewegungen und große Worte. Er hatte einen gelbschwarz gestreiften Warnschutzhelm auf dem Kopf, das freute die begleitenden Fotographen, die ihre bösartig gedachten Aufnahmen von Holtrops Auftritt an der Basis machten. Mitten aus der Rede heraus war Holtrop in die Frage an die Belegschaft übergegangen, ob er mit dem, was er hier sage, ihre Fragen beantworte. Neugierig schaute Holtrop einen Augenblick lang, ohne etwas zu sagen, in die Gesichter der nicht so sehr zahlreich vor ihm angetretenen Mitarbeiter, vielleicht fünfzehn Leute waren da, die ihm und der Vorstandsdelegation gegenüberstanden. Sie trugen taubenblaue Arbeitsoveralls und weiße Schutzhelme und waren in dem Moment von dieser unerwarteten Frage sichtlich überfordert, dann sofort genervt. Holtrop redete auch schon selber weiter, beantwortete die von ihm selbst gestellte Frage in Vertretung der Befragten selbst, redete übertrieben auf die entspannt und locker vor ihm stehenden Druckfachkräfte ein. Die Leute waren zu höflich, um sich dagegen zu wehren oder auch nur ihre Verwunderung, vielleicht auch schon Verachtung spürbar werden zu lassen, und Holtrop war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit seinem Wunsch, von diesen Arbeitern gemocht zu werden, als dass er die Reserve der Arbeiter, die ursprünglich gar nicht unfreundlich gewesen war, eher ein sehr realistisches Wahrnehmen der Distanz, des Abgrundes vorallem an ZEIT zwischen Holtrop und ihnen, seinerseits auch nur hätte wahrnehmen können. Holtrop begeisterte sich an seiner eigenen Rede, die sich um die Begeisterung für Assperg drehte, die sie alle, die hier für Assperg arbeiteten, vereinen würde, umso mehr, je länger und sinnloser er die inexistente Gemeinsamkeit dieser Begeisterung feierte, von der auf den Gesichtern der so aggressiv Zugetexteten wenig, zuletzt gar nichts mehr zu sehen war. Statt dessen erschien über den Köpfen der Arbeiter groß und stumm das von ihnen gedachte, Holtrop zugedachte, zu ihm hinwandernde und jetzt über seinem Kopf schwebende Wort Reichensteuer. Denn nicht nur durch eine Distanz von Zeit, von Hektik und von dem Luxus, mit der eigenen Arbeit begeistert eins sein zu können, waren die Arbeiter vom Chef getrennt, sondern vorallem durch eine noch viel größere von GELD. Weil Holtrop diesen Unterschied zwischen sich und den Arbeitern absichtlich zu verwischen versuchte, trat er umso deutlicher hervor, noch mehr, als er ihn jetzt direkt ansprach. Ja, es sei richtig, auch Assperg habe im vergangenen Jahr Anpassungen vornehmen müssen, die genaueren Details der mit dem Betriebsrat und den Gewerkschaften ausgehandelten Vereinbarungen habe er jetzt natürlich nicht bis auf den letzten Pfennig und Cent im Kopf präsent, aber sollte das etwa gleich heißen müssen, dass man sich auch in einer Werkshalle von Assperg neuerdings nur noch unter den Vorzeichen von Klassenkampf und Vulgärökonomie begegnen könne? »Das kann es ja wohl nicht sein!« rief Holtrop zum Schluss, oder besser umgekehrt, das werde doch dem Für und Wider eines Miteinander, dem sich alle hier mit aller Kraft, und er selber ganz besonders, »dessen seien Sie versichert!«, mit seinem ganzen HERZ verschrieben habe, keinen Abbruch tun, im Gegenteil, rief Holtrop aus, »im Gegenteil!«

Die Arbeiter applaudierten, Holtrop strahlte, die Kameras klickten. Holtrop drehte sich um zu Katte, auch die Delegation von Führungskräften hinter Holtrop applaudierte, und Holtrop sagte in diese Chefrunde hinein und lachte: »Mehr Kapitalismus wagen! Was?« Da lachten alle und freuten sich. Dann zog die Delegation weiter in die Lagerhalle für Papier. Die Arbeiter blieben stehen und schauten den Managern und Nichtstuern mit Spott und Verachtung hinterher, was die Scham, die sie sofort über ihren eigenen Reflexapplaus auf Holtrops Schwachsinnsrede hin empfanden, ganz gut ausgleichen, abdämpfen und herunterdrücken konnte, bis, Verachtung gegen Scham im Nullausgleich verglichen, der Spott übrigblieb als relativ angenehmes Normalgefühl. Die Gruppe zerstreute sich. Jeder ging an seinen Arbeitsplatz zurück. Und jeder hatte eine zum Weitererzählen ganz gut geeignete Geschichte von ganz normalem Chefschwachsinn im Kopf und konnte deshalb, so bereichert, sagen: »Danke, Chef!«

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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