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Die kleinen Gesellschaften, die Kate Assperg auf Schloss Redecke am Bokersee, dem Landsitz der Asspergs etwas außerhalb von Schönhausen, einmal im Monat gab, Samstagmittag, als sogenanntes kleines Frühstück, waren für die Schönhausener Gesellschaft der wichtigste monatliche Termin, das einzige regelmäßige Sozialevent von Interesse für alle. Niemand sonst in der Stadt hatte eine so starke Ausstrahlung auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen von Politik, Kultur und Wirtschaft zugleich wie die Asspergs. Und Kate Assperg beherrschte zwar nicht wirklich die höhere Kunst der Geselligkeit, aber die Fähigkeit, ihre Einladungen mit einer diffus generalisierten Leuchtkraft aufzuladen, hatte sie sich beigebracht. Sie wusste genau, wen sie wann einladen musste, wer zu wem passen könnte, wer mit wem in Verbindung gebracht werden wollte oder sollte, und natürlich auch, wen sie, zumindest temporär, von ihren Einladungen ausschließen musste, um die Attraktivität ihres Frühstücks zu steigern. Manchmal gab es ein kurzes Konzert als Beigabe, manchmal ein Kurzreferat zu theologischen oder philosophischen Themen, und immer gab es Frühstück, Sekt, Kaffee und Gespräche im Stehen und Herumgehen, Informationen und Begegnungen, ein höchstkonzentriertes Schönhausen der Arrivierten und Kommenden, auf zwei, drei Stunden zusammengedrängt. Aus der Firma wurden als Sondergäste jedesmal auch Hilfsarbeiter, Packerinnen und LKW-Fahrer dazugebeten, das gefühllos Volkserzieherische daran hatte einen Hau ins Plumpe, Asoziale, wie Kate Assperg auch. Für die regelmäßig eingeladenen Manager aus dem Führungskreis der Firma bestand selbstverständlich Anwesenheitspflicht, das Frühstück war für sie ein nicht unbeliebter, aber auch gefürchteter Termin, weil dort der aktuelle Kurswert eines jeden an der Gunstkursbörse von Kate Assperg öffentlich und überdeutlich vorgeführt wurde.
Die Ankunft der Gäste war offiziell für ab elf Uhr vorgesehen. Aber weil der betont informelle Charakter des Frühstücks der Gastgeberin umso wichtiger geworden war, je offiziöser er sich in Wirklichkeit entwickelt hatte, wurde erwartet, dass die Eingeladenen mit dem Zeitpunkt ihres Eintreffens ein ausreichendes Maß an Lockerheit demonstrieren würden. Es galt als unüblich, vor zehn nach elf zum Frühstück bei Kate Assperg zu erscheinen. Wer pünktlich um elf Uhr kam, stand, vom Personal kühl hereingebeten, unbegrüßt und einsam mit dem Drink in der Hand da, und die kitschtosenden Wände um ihn herum sagten: »Stell dich in die Mitte dieses Saals und warte hier.« Ab fünf, sechs, sieben Minuten nach elf Uhr kamen die Autos dann vorgefahren. Das asspergsche Anwesen lag in den Hügeln über dem Bokersee am Rand von Redecke. Die kleinen Straßen, die vom See nach Redecke hochführten, waren eng gewunden und an diesem Samstag von schmutzigem Schneematsch bedeckt. Nachts hatte es geschneit, jetzt regnete es.
Zwischen Bokel und Redecke war eine Senke, deren Rand Holtrops Ehefrau Pia Holtrop in dem Moment erreichte, als Salger, der heute zum ersten Mal eingeladen war, mit seinem Auto dort gerade stecken geblieben war. Sie hielt an, ließ die Fensterscheibe nach unten fahren und setzte ihre Sonnenbrille auf. Salger stand am Heck seines Autos im Matsch. Die Reifen hatten hochtourig durchgedreht und dabei tief in den Boden eingeschnitten, so dass es Salger kaum mehr möglich war, den Wagen aus eigener Kraft dort wieder herauszufahren. »Kann ich Ihnen helfen?« sagte Pia Holtrop. »Vielleicht. Haben Sie ein Seil da?« antwortete Salger. »Eventuell im Kofferraum.« Salger nickte. Hinter Salgers silbernem Audi TT turbo und dem hochhackigen schwarzen BMW X5, in dem Pia Holtrop saß, hatten sich schon einige andere Wagen gestaut, alles Gäste, die zum Frühstück bei Kate Assperg fuhren. Die Wagenkolonne setzte zurück. Pia Holtrop erklärte Salger, wo in ihrem Wagen das Seil sein müsste, Salger ging zur hinteren Klappe, öffnete sie, nahm das dort liegende Seil heraus und hängte es zuerst an seinem, dann an ihrem Wagen an. Er setzte sich in sein Auto und schaute nach hinten. Mit Gefühl und Kraft schleppte der Wagen von Pia Holtrop den kleinen von Salger nach hinten heraus frei. Salger ließ den Motor laufen, stieg aus, hängte das Seil aus und gab es Pia Holtrop durchs Fenster zurück. Dann setzte er sich wieder in seinen Sport-Audi und fuhr mit Schwung durch die zermatschte Senke vor Redecke, dahinter waren die Wege geräumt.
Beim Eintreffen der Wagenkolonne vor der Auffahrt zum Schloss war es schon fast halb zwölf. Kate Assperg stand im Turmzimmer hinter einem Vorhang am Fenster und beobachtete von dort oben die Ankunft ihrer Gäste. In gelben Gummistiefeln ging Richter vorneweg, blond gelockt, breit grinsend, die riesige Gestalt federte bei jedem Schritt energisch hoch und vorwärts, und an der Hand zog er ein kleines Mädchen hinter sich her, seine demnächst dritte oder vierte Frau. Kate Assperg machte eine vernichtende Bemerkung über das Paar, gerichtet an den zwei Schritte hinter ihr stehenden Schnur, ohne ihren Blick von der Auffahrt zu wenden. Schnur nickte wortlos. Ein Kommentar von ihm zu der Bemerkung seiner Chefin war in dieser Situation, wie auch sonst meistens, nicht vorgesehen. Der Regen hatte aufgehört. Richters Gummistiefel stapften grellgelb über die hellgrau glitzernden, noch nassen Steine des Gehwegs hoch zum Schloss. Hinter Richter ging der etwas schlankere, aber ähnlich hochgewachsene und von sich selbst mindestens genauso eingenommene Dornach, neben Dornach Zehrer, dahinter im Pulk noch einige andere Asspergianer, Oehnke, Köhler, Mikolaiczyk. Alles Männer in ihren mittleren und späten Vierzigern, Brecher, Macher, schwach talentierte Manager der oberen Ebene im Zenit ihrer Karriere, die sich schon vor Jahren von äußersten, illusorischen Ambitionen verabschieden hatten müssen, einen Sitz im Vorstand etwa zu erreichen, und sich statt dessen den angeblich schöneren Dingen des Lebens zugewendet hatten, dem Essen, dem Reisen, dem Sport, natürlich auch der Sexualität, dem Körper also und der dabei insgesamt lustvoll und planmäßig betriebenen Vergröberung ihrer Existenz. Mit abgestumpftem Geist wanderten sie bestens gelaunt dem Frühstück im Haus Assperg entgegen, den dort sie erwartenden Herausforderungen geselliger Art, für sie: Dröhnen, Witzeln, dumme Sprüche Reißen, bellend Lachen usw. Zuletzt gingen Pia Holtrop und Salger, miteinander im Gespräch, den Gehweg hoch. Zum Fernbleiben von Holtrop äußerte sich Kate Assperg verärgert mit der Bemerkung: »Er hat es ja wohl nicht mehr nötig.« Schnur nickte wieder zustimmend, weil er wusste, dass es sinnlos war, sie auf Holtrops aktuelle Asienreise hinzuweisen. Und sie sagte, wobei sie sich vom Fenster ab- und in den Raum hineinwendete: »Meint er.« Dann ging sie noch für einige Minuten ins Bad, um die Gäste keinesfalls zu kurz warten zu lassen. »Geh du schon mal runter!«, sagte sie im Hinausgehen zu Schnur, »ich komme gleich.«
Kate Assperg war als junge Frau sehr gutaussehend gewesen. Das Theater der Männer um sie herum hatte sie mit scharfem Intellekt beobachtet. Aber weil an der Seelenstelle bei ihr Leere war, hatte die Erfahrung der Macht, die durch jede ihrer Willkürbewegungen gegenüber einem Mann, jedes Verstoßen oder Erhören, in ihr vermehrt worden war, sie nicht erstaunt, verwirrt, vertieft und ernst gemacht, sondern im Gegenteil hart und stolz und dabei unschön triumphalisiert. Schon mit achtzehn bediente sie die Mechanik der von ihr gesteuerten Sozialspiele perfekt, zog einen vergifteten Genuss aus dieser Mechanizität und Perfektion, und es amüsierte sie, wie leicht sie selbst dabei war und sich fühlte, wie hell und herrscherlich, wie böse und freiwillig dumm. All das wusste sie. Und genau so wollte sie sein, und so sollte es sein: Leben ohne Liebe, Glück. Nur eines wusste sie noch nicht, wie weit sie es damit bringen konnte. Das war das Projekt ihres Aufstiegs: Wie weit würde sie es bringen, wie hoch hinaus könnte sie auf diese Art kommen? Dem Experiment, dies zu ermitteln, hatte sie ihr Leben gewidmet. Als Herrin von Redecke bei Schönhausen hielt sie jetzt Hof, vorerst, die Ehefrau des Besitzers der Assperg AG. Aber das Ende war das nach ihrer Überzeugung noch nicht. Sie war sechzig, sie war jung, sie fühlte sich gut. Offen lag die Zukunft vor ihr.
Die meisten Gäste waren dann angekommen, und Kate Assperg ging hinaus. Sie stand kurz an der Balustrade des Innenbalkons und schaute nach unten, etwa vierzig, fünfzig Leute hatten sich versammelt. Mit langsamen Schritten kam sie die Freitreppe, die in die Mitte des Saals führte, nach unten geschwebt. Als sie auf halber Höhe stehengeblieben war, war es unter den Gästen schon leiser geworden, und Schnur klopfte an sein Glas, dann wurde applaudiert. Kate Assperg lächelte spöttisch, sie hatte ein fuchsrotes Kleid an. »Bitte!« sagte sie und wehrte den Applaus ab. Dann begrüßte sie die Gäste und wünschte unterhaltsame Stunden, »ganz besonders freue ich mich«, sagte sie zum Schluss, »dass wir einen jungen Mann heute zum ersten Mal unter uns haben, das Finanzgenie Mathias Salger, der mit seiner Firma im Januar zu uns gekommen ist und jetzt in unserer großen Asspergfamilie mit dabei ist und hier mitmacht, herzlich willkommen, Herr Salger!« Salger hatte sich gestrafft und nahm die unerwartet herausgehobene Exposition, auf die ihn niemand vorbereitet hatte, mit Missbehagen hin, aber natürlich gefasst. Die älteren Asspergianer kannten das Spiel. Vom Fuß der Freitreppe aus befahl Kate Assperg mit der lockenden Bewegung des Zeigefingers der rechten Hand, die sie vor ihr Gesicht in seine Richtung gehaltenen hatte, Salger zu sich her wie einen kleinen Jungen. Diese Geste war natürlich ironisch gemeint, das machte sie, als er auf sie zuging, mit einem aufflammenden Blick, der »brav so!« sagte, deutlich. Das starre Lächeln ihres Mundes zeigte dabei kein mitbeteiligtes Gefühl.
Dann stellte sie Salger, den zwar Holtrop, nicht sie, eingestellt hatte, im Kreis der sie umstehenden mittleren Asspergchefs trotzdem und noch einmal als ihre eigene neueste Trophäe vor. Wie klug, wie jung, wie abenteuerlich erfolgreich er schon gewesen sei, immer wieder forderte sie ihn auf, den Älteren von den bisherigen Stationen seiner beruflichen Laufbahn zu erzählen, und nachdem sie diese viel weniger erfolgreicheren Älteren auf die Art genügend erniedrigt hatte, warf sie ihnen Salger zum Fraß vor. Ging einfach weg, lächelnd wie immer. Aber Salger war noch zu wenig Apparatschik, um den Spott der Älteren, mit dem er nun gepiesackt und aufgespießt wurde, wirklich ernst zu nehmen. Er sah diese Älteren, die ihn lärmend mit ihren Witzen in die Luft zu schießen und zu zerreißen versuchten, kaum, alte Säcke waren das für ihn, arme Deppen, Zurückgebliebene, Verlorene, die in ihrer auftrumpfend vorgeführten Überzeugung, die Größten zu sein, für Salger auch völlig ununterscheidbar waren, lauter gleiche, sinnlos laute Männer, im Volltrottelmodus ihrer Großmännlichkeit. Von diesen Menschen war er sehr weit weg. Und anstatt eingeschüchtert zu sein, hatte Salger sich in dem Moment auf seine Arbeit bei Assperg gefreut, weil er nicht für diese Trottel, sondern für Holtrop arbeiten würde. Ein junger Mann, der sich mit dem Namen Schmidt vorstellte, holte Salger mit der Frage aus der Gruppe der Asspergmanager heraus, ob er für das Schönhausener Tagblatt, für das er, Schmidt, einen kleinen Bericht über das heutige Frühstück zu schreiben habe, ihm eventuell ein Interview geben würde. »Ein Interview?« fragte Salger erstaunt. »Ja.« »Wieso denn das? Worüber? Wozu?« Auf diese Frage hin schaute Schmidt Salger mit einer so freundlichen Offenheit an, sagte dazu, »geht auch ganz schnell«, dass Salger selbst innerlich aufging und dem Kurzinterview zustimmte. »Kommen Sie mit«, sagte Schmidt, »gehen wir eben dort in diese Ecke, da ist es etwas ruhiger.«