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Es bleibt keine Zeit mehr, irgendwas zu tun, außer dazustehen und zu warten, dass Simon die Treppe hinaufkommt.
Ich greife nach Katies Hand, als sie bereits meine umfasst. Ich drücke ihre fest, und sie drückt zurück. Das haben wir früher immer gemacht, als sie noch klein war und ich sie zur Schule brachte. Ich drückte einmal, und sie tat es auch. Sie drückte zweimal, und ich ebenfalls. Es war ein Mutter-Kind-Morsecode.
»Drei heißt ›Ich hab dich lieb‹«, sagte sie mir damals.
Ich tue es jetzt, auch wenn ich nicht weiß, ob sie sich daran erinnert. Dabei lausche ich den Schritten auf der Holztreppe. Katie antwortet umgehend, und ich merke, wie mir die Tränen kommen.
Es sind dreizehn Stufen nach oben.
Ich zähle mit, als die Schritte näherkommen. Elf, zehn, neun.
Meine Hand in Katies schwitzt, und mein Herz pocht so schnell, dass ich die einzelnen Schläge nicht mehr auseinanderhalten kann. Katie drückt meine Hand schmerzlich fest, doch das ist mir egal, denn ich drücke ihre genauso fest.
Fünf, vier, drei …
»Ich habe meinen Schlüssel benutzt; das ist hoffentlich in Ordnung.«
»Melissa!«
»Oh mein Gott, wir haben fast einen Herzanfall gekriegt!« Vor lauter Erleichterung lachen Katie und ich hysterisch.
Melissa sieht uns befremdet an. »Was treibt ihr zwei hier? Ich habe bei dir im Büro angerufen, und dein Chef sagte, dass du krank bist. Da wollte ich nach dir sehen, und ich habe mir Sorgen gemacht, als du nicht aufgemacht hast.«
»Wir haben die Klingel nicht gehört. Wir …« Katie bricht ab und sieht mich an. Sie ist unsicher, wie viel sie erzählen soll.
»Wir haben nach Beweisen gesucht«, sage ich zu Melissa. Schlagartig bin ich wieder ernst und sinke auf den Stuhl an Simons Schreibtisch. »Es hört sich verrückt an, aber wie es aussieht, war es Simon, der die Arbeitswege all dieser Frauen online gestellt hat – der meine Strecke online gestellt hat.«
»Simon?« Melissa wirkt ungläubig und verwirrt. Anders dürfte ich auch nicht aussehen. »Bist du sicher?«
Ich erzähle ihr alles über die Quittung von Espress Oh! und die E-Mail von PC Kelly Swift. »Simon hat im August seinen Job verloren – direkt bevor es mit den Anzeigen losging. Und er hat mich belogen.«
»Was zur Hölle macht ihr dann noch hier? Wo ist Simon gerade?«
»Bei einem Vorstellungsgespräch. Irgendwo in Olympia. Ich weiß nicht genau, wann das Gespräch stattfindet – am frühen Nachmittag, sagte er, glaube ich.«
Melissa sieht auf ihre Uhr. »Dann kann er jeden Moment hier sein. Kommt mit zu mir. Wir rufen die Polizei von da aus an. Hattest du eine Ahnung? Ich meine – mein Gott, Simon!« Mein Herz beschleunigt wieder, wummert in meinem Brustkorb, und mein Puls rauscht in meinen Ohren. Plötzlich bin ich sicher, dass wir es nicht aus dem Haus schaffen; dass Simon kommt, während wir noch auf dem Dachboden sind. Was wird er tun, wenn er begreift, dass er überführt wurde? Ich denke an Tania Beckett und Laura Keen, die Opfer seines kranken Online-Imperiums. Was würden ihm drei mehr ausmachen? Ich stehe auf und packe Katies Arm. »Melissa hat recht. Wir müssen hier raus.«
»Wo ist Justin?« Ich habe panische Angst und will meine Familie bei mir haben, damit ich weiß, dass beide Kinder in Sicherheit sind. Hat Simon erst mal bemerkt, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind, lässt sich unmöglich erahnen, wie er reagiert.
»Entspann dich, er ist im Café«, sagt Melissa. »Ich war eben bei ihm.«
Das beruhigt mich nur etwas. »Er darf da nicht bleiben. Simon wird wissen, wo er ihn findet. Jemand muss ihn ablösen.«
Melissa schaltet auf Geschäftsfrau um. Sie erinnert mich an eine Sanitäterin bei einem Katastropheneinsatz, die praktische Hilfe leistet und Ruhe ausstrahlt. »Ich rufe ihn an und sage ihm, dass er zumachen soll.«
»Bist du sicher? Er könnte …«
Melissa legt die Hände an meine Wangen und sieht mich an, damit ich mich auf ihre Worte konzentriere. »Wir müssen hier raus, Zoe, hast du verstanden? Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt.«
Mit lautem Gepolter laufen wir die Treppe hinunter, dann durch den mit Teppichboden ausgelegten Flur oben und die zweite Treppe hinab ins Erdgeschoss, ohne anzuhalten. Unten reißt Katie unsere Mäntel vom Treppengeländer. Ich will meine Handtasche suchen, aber Melissa zieht mich weiter.
»Keine Zeit! Ich hole sie, sobald du und Katie nebenan in Sicherheit seid.«
Wir knallen die Haustür zu, rennen den Weg entlang, ohne hinter uns abzuschließen, und biegen direkt in Melissas Vorgarten ab. Sie schließt auf und scheucht uns in die Küche.
»Wir müssen uns einschließen«, sagt Katie, die ängstlich abwechselnd Melissa und mich ansieht. Ihre Unterlippe bebt.
»Simon wird nicht versuchen, hier reinzukommen, Schatz. Er weiß ja nicht mal, dass wir hier sind.«
»Wenn er sieht, dass wir nicht zu Hause sind, wird er herkommen. Schließ die Tür ab, bitte!« Sie ist den Tränen nahe.
»Ich denke, sie hat recht«, sagt Melissa. Sie schließt die Haustür zweimal ab, und trotz meiner beruhigenden Worte zu Katie, bin ich froh, als ich höre, wie die Riegel einrasten.
»Was ist mit der Hintertür?«, fragt Katie. Sie zittert, und ich werde maßlos wütend. Wie kann Simon meiner Tochter das antun?
»Die ist immer abgeschlossen. Neil hat panische Angst vor Einbrechern – er lässt nicht mal den Schlüssel da, wo er vom Garten aus zu sehen ist.« Melissa legt einen Arm um Katie. »Du bist sicher, Süße, versprochen. Neil ist die ganze Woche geschäftlich unterwegs, also könnt ihr bleiben, solange ihr wollt. Wie wäre es, wenn du den Wasserkocher anstellst, und ich rufe diese PC Swift an und erzähle ihr von der Quittung, die ihr gefunden habt? Hast du ihre Nummer, Zoe?«
Ich nehme mein Telefon aus der Tasche und scrolle, bis ich Kelly Swifts Nummer gefunden habe. Dann reiche ich Melissa das Telefon. Sie sieht aufs Display.
»Oben habe ich besseren Empfang. Gebt mir zwei Minuten. Und sei so lieb und mach mir einen Kaffee, ja? Die Kapseln sind neben der Maschine.«
Ich schalte die Kaffeemaschine ein. Es ist so ein supermodernes Chromteil, das Milch schäumt und Cappuccinos mixt und wer weiß was sonst noch kann. Katie geht durch die Küche, sieht durch die Falttüren hinaus in den Garten und rüttelt am Griff.
»Abgeschlossen?«
»Abgeschlossen. Ich habe Angst, Mum.«
Ich versuche, ruhig zu sprechen und mir nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt ich bin. »Hier kann er uns nichts tun, Schatz. PC Swift kommt und redet mit uns, und sie werden Simon verhaften lassen. Er kann uns nichts tun.«
Ich stehe vor der Kaffeemaschine und stütze die Hände auf die Arbeitsplatte. Die Granitoberfläche fühlt sich kalt und glatt an. Jetzt, da wir sicher aus dem Haus sind, wird meine Angst zu Wut, und ich habe Mühe, sie vor Katie zu verbergen. Sie ist sowieso schon fast hysterisch. Ich denke an die Lügen, die Simon mir in den Monaten erzählt hat, als ich dachte, er würde noch arbeiten. Sein Beharren, dass nicht ich das auf dem Foto war, als ich vor Wochen die Gazette mit nach Hause brachte. Wie konnte ich nur so blöd sein?
Ich denke an die Schulden, die Simon angeblich angehäuft hat. Die Website muss ihm weit mehr einbringen, als er jemals beim Telegraph verdient hat. Kein Wunder, dass er keinen neuen Job gefunden hat – wozu die Mühe? Und die Stelle, für die er heute nochmal zum Gespräch gebeten wurde – ich bezweifle, dass die überhaupt existiert. Ich stelle mir Simon vor, der in einem Café sitzt, wo er sich nicht für sein Gespräch vorbereitet, sondern durch Fotos von Frauen auf seinem Handy scrollt, ihre Arbeitswege aus seinem Notizbuch kopiert, um sie auf die Website zu laden.
Katie ist rastlos, läuft zwischen dem Fenster und Melissas langem weißem Tisch hin und her und nimmt kunstvoll arrangierte Objekte von den Regalen. »Sei vorsichtig«, sage ich zu ihr. »Wahrscheinlich kosten die Dinger ein Vermögen.«
Ich höre Melissa oben sprechen und sie fragen: »Sind sie in Gefahr?«; sofort huste ich, weil ich nicht will, dass Katie noch mehr darüber nachdenkt. Sie hat die Vase wieder hingestellt und einen gläsernen Briefbeschwerer aufgenommen. Mit dem Daumen streicht sie über die glatte Oberfläche.
»Bitte, Schatz, du machst mich nervös.«
Sie stellt das Teil wieder hin und wandert quer durch die Küche zu Melissas Schreibtisch.
Das grüne Licht an der Kaffeemaschine blinkt, um mir zu sagen, dass das Wasser heiß ist. Ich drücke auf »Start« und beobachte, wie die dunkle Flüssigkeit fauchend in die bereitgestellte Tasse rinnt. Der Geruch ist stark, fast zu intensiv. Normalerweise trinke ich keinen Kaffee, aber heute denke ich, dass ich einen brauche. Ich nehme eine zweite Kapsel aus der Packung. »Möchtest du auch einen?«, frage ich Katie. Sie antwortet nicht. Als ich mich zu ihr umdrehe, starrt sie etwas auf dem Schreibtisch an. »Schatz, hör bitte auf, mit Melissas Sachen zu spielen.« Ich frage mich, wie lange es dauert, bis die Polizei kommt, und ob sie losfahren und Simon suchen oder warten, bis er nach Hause kommt.
»Mum, das musst du dir ansehen!«
»Was denn?« Ich höre Melissas Schritte oben an der Treppe und stelle ihren Kaffee auf die Kücheninsel hinter mir. Dann rühre ich Zucker in meinen, nehme einen Schluck und verbrühe mir die Zunge.
»Mum!«, beharrt Katie. Ich gehe zu ihr um nachzusehen, was sie so entsetzt. Es ist ein Londoner U-Bahn-Plan – der, den ich gesehen habe, als ich Melissas Buchungsbelege abholte. Katie hat ihn auseinandergefaltet und auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Die vertrauten Farben und Routen der U-Bahn sind mit diversen Pfeilen, Linien und Notizen versehen.
Ich starre den Plan an. Katie weint, aber ich tue nichts, um sie zu trösten. Ich suche nach einer bestimmten Route, die ich auswendig kenne: Tania Becketts Arbeitsweg.
Die Northern Line nach Highgate, dann den 43er-Bus nach Cranley Gardens.
Die Strecke ist mit einem gelben Textmarker nachgemalt, und am Ende ist etwas notiert.
Nicht mehr aktiv.