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»Kaffee.«
»Nein danke.« Kelly hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, glaubte jedoch nicht, dass sie irgendwas vertragen könnte. Diggers war nach dem Gespräch mit ihr noch eine halbe Stunde geblieben, bevor er wieder verschwand. Er hatte nicht noch einmal mit ihr geredet, war allerdings auf dem Weg nach draußen bei Nicks Schreibtisch stehen geblieben und hatte leise mit ihm gesprochen. Kelly war sicher gewesen, dass es um sie ging.
»Das war kein Vorschlag«, sagte Nick jetzt. »Schnappen Sie sich Ihren Mantel. Wir gehen über die Straße.«
Das Starbucks in der Balfour Road war eher ein Takeaway als ein Café, aber es hatte immerhin zwei Barhocker am Fenster, die Kelly besetzte, während Nick die Getränke holte. Kelly bat um eine heiße Schokolade, weil sie sich plötzlich nach etwas Süßem verzehrte. Die Schokolade kam mit Schlagsahne und Schokoladenraspeln, womit sie sich beschämend üppig neben Nicks schlichtem Milchkaffee ausnahm.
»Danke«, sagte Kelly, als klar wurde, dass der DI nichts sagen würde.
»Sie können die nächste Runde ausgeben«, entgegnete er.
»Dafür, dass Sie mich gerettet haben, meine ich.«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Er sah sie ernst an. »In Zukunft, wenn Sie Mist bauen, etwas Blödes machen oder aus irgendeinem anderen Grund gerettet werden müssen, sagen Sie es mir um Himmels willen. Warten Sie nicht, bis wir im Büro des DCI sitzen.«
»Es tut mir ehrlich leid.«
»Ja, sicher.«
»Und ich bin Ihnen sehr dankbar. Ich hatte nicht von Ihnen erwartet, dass Sie das tun.«
Nick trank einen Schluck von seinem Kaffee und grinste. »Offen gesagt hatte ich das auch nicht. Aber ich konnte nicht dasitzen und zusehen, wie eine hervorragende Ermittlerin« – Kelly sah verlegen hinunter zu ihrer Schokolade – »wegen so etwas ungeheuer Dämlichem gefeuert wird, wie ihre Stellung für einen privaten Feldzug zu missbrauchen. Was genau haben Sie gemacht?«
Schlagartig verpuffte ihre Freude über das Kompliment.
»Ich denke, dass Sie mir zumindest eine Erklärung schulden.«
Kelly löffelte etwas warme Schlagsahne auf und fühlte, wie sie auf ihrer Zunge zerging. Sie überlegte, wie sie es erklären sollte. »Meine Schwester wurde in ihrem ersten Jahr an der Durham University vergewaltigt.«
»So viel habe ich auch schon mitbekommen. Und der Täter wurde nie gefasst?«
»Nein. Vor der Vergewaltigung gab es mehrere verdächtige Zwischenfälle; Lexi fand Karten in ihrem Postfach, auf denen sie gebeten wurde, bestimmte Sachen zu tragen – Sachen, die sie in ihrem Kleiderschrank hatte –, und einmal legte ihr jemand einen toten Distelfink vor die Tür.«
»Hatte sie es gemeldet?«
Kelly nickte. »Die Polizei war nicht interessiert. Sogar als sie ihnen erzählte, dass sie verfolgt wurde, sagten sie bloß, sie würden es vermerken. An einem Donnerstag hatte sie eine späte Vorlesung, und niemand sonst ging denselben Weg zurück wie sie, deshalb war sie allein. An dem Abend, an dem es passierte, rief sie mich an. Sie sagte, dass sie nervös wäre und wieder Schritte hinter sich hörte.«
»Was haben Sie getan?«
Kelly spürte, dass ihre Augen zu brennen begannen, und schluckte. »Ich habe ihr gesagt, dass sie es sich einbildet.« Bis heute konnte sie Lexis Stimme hören, atemlos, als sie zum Wohnheim ging.
»Da ist jemand hinter mir, Kelly, ich schwöre es. Genau wie letzte Woche.«
»Lex, es gibt siebzehntausend Studenten in Durham – da ist dauernd jemand hinter dir.«
»Das hier ist anders. Er versucht, nicht gesehen zu werden.« Lexi hatte geflüstert, sodass Kelly sich anstrengen musste, sie zu verstehen. »Als ich mich eben umgedreht habe, war keiner zu sehen, aber es ist jemand da, das weiß ich.«
»Du machst dich bloß verrückt. Ruf mich an, wenn du im Wohnheim bist, ja?«
An diesem Abend hatte sie ausgehen wollen, das wusste Kelly noch. Sie hatte die Musik lauter gedreht, als sie sich frisierte, noch ein Kleid auf den Stapel am Fußende ihres Betts geworfen. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass Lexi nicht noch einmal angerufen hatte, bis ihr Handy geklingelt und eine unbekannte Nummer aufgeleuchtet hatte.
»Kelly Swift? Hier ist DC Barrow-Grint von der Polizei Durham. Ich habe Ihre Schwester bei mir.«
»Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Nick ruhig. Kelly schüttelte den Kopf.
»Er hätte sie nicht überfallen, wenn ich am Telefon geblieben wäre.«
»Das können Sie nicht wissen.«
»Falls doch, hätte ich es gehört und sofort die Polizei rufen können. Zwei Stunden vergingen, bis Lexi gefunden wurde. Sie war so übel zusammengeschlagen worden, dass sie kaum sehen konnte. Und bis dahin war der Täter längst weg.«
Nick widersprach ihr nicht. Er drehte seine Kaffeetasse auf der Untertasse, bis der Henkel von ihm weg zeigte, und umfing die Tasse mit beiden Händen. »Gibt Lexi Ihnen die Schuld?«
»Weiß ich nicht. Muss sie aber.«
»Haben Sie sie nicht gefragt?«
»Sie will nicht darüber reden und hasst es, wenn ich es anspreche. Ich dachte, dass sie lange damit kämpfen würde – für immer vielleicht –, doch es war, als hätte sie einfach einen Strich unter die ganze Geschichte gezogen. Als sie ihren Mann kennenlernte, setzte sie sich mit ihm hin und sagte: ›Es gibt etwas, das du wissen musst.‹ Sie erzählte ihm alles, und dann musste er ihr versprechen, es nie wieder zu erwähnen.«
»Sie ist eine starke Frau.«
»Denken Sie? Ich glaube, dass es nicht gesund ist. So zu tun, als sei etwas nicht geschehen, ist keine Art, mit einem traumatischen Erlebnis fertig zu werden.«
»Sie meinen, es ist nicht die Art, wie Sie mit traumatischen Erlebnissen umgehen würden«, entgegnete Nick.
Kelly sah ihn verärgert an. »Hier geht es nicht um mich.«
Nick trank seinen Kaffee aus und stellte den Kaffee behutsam ab, bevor er sie wieder ansah. »Genau.«
Kellys Telefon klingelte, als sie zur Arbeit zurückkehrten. Sie blieb oben an der Treppe stehen, um nicht im lauten Büro reden zu müssen. Es war Craig von der Kameraüberwachung.
»Kelly, hast du das interne Briefing von der BTP heute gesehen?«
Hatte sie nicht. Es war schon schwer genug, mit den Massen an E-Mails mitzuhalten, die zu diesem Fall eingingen, da konnte sie nicht auch noch auf dem Laufenden bleiben, was ihre eigentliche Dienststelle betraf.
»Es wurde auf die Sicherheitskameras zugegriffen, und nach dem, was du mir neulich von deinem Job bei der Met erzählt hast, dachte ich, ich ruf dich lieber an.«
»Ein Einbruch?«
»Schlimmer. Wir wurden gehackt.«
»Ich dachte, das ist unmöglich.«
»Nichts ist unmöglich, Kelly, das solltest du doch wissen. Das System ist schon seit einigen Wochen langsam, deshalb hatten wir einen Techniker gerufen, und als er es sich ansah, entdeckte er eine Schadsoftware. Wir haben eine Firewall, die es fast unmöglich macht, dass wir über das Internet gehackt werden, aber sie verhindert nicht, dass jemand direkt einen Virus ins System pflanzt.«
»Also ein Insider-Job?«
»Alle Mitarbeiter wurden heute Morgen vom Superintendent befragt, und eine der Putzkräfte knickte ein. Sie sagte, dass jemand ihr Geld gegeben habe, damit sie einen USB-Stick in den Hauptrechner steckt. Natürlich behauptet sie, keine Ahnung gehabt zu haben, was sie tat.«
»Wer hat ihr das Geld gegeben?«
»Sie kennt seinen Namen nicht, und praktischerweise erinnert sie sich auch nicht, wie er aussah. Sie sagt, dass er sie eines Tages auf dem Weg zur Arbeit angesprochen hat und ihr mehr als ein Monatsgehalt für wenige Minuten Arbeit anbot.«
»Wie schlimm ist das Hacking?«
»Die Software hat das System so programmiert, dass es mit dem Computer des Hackers kommuniziert. Sie kann die Kameraausrichtung nicht steuern, aber letztlich kann der Hacker alles sehen, was wir in unserem Kontrollraum sehen.«
»Oh mein Gott!«
»Passt das zu eurem Fall?«
»Das ist gut möglich.« Trotz ihres guten Verhältnisses zu Craig dachte Kelly daran, was Diggers sagen würde, wenn sie mehr Informationen als nötig herausgab. Das Letzte, was sie brauchte, war noch eine Gardinenpredigt, auch wenn sie nicht im Mindesten bezweifelte, dass die beiden Fälle zusammenhingen.
»Unser Täter benutzt die Sicherheitskameras der Londoner U-Bahn, um Frauen zu stalken«, verkündete Kelly, als sie ins Büro kam, und unterbrach Nick, der sich gerade mit Lucinda unterhielt. Sie erzählte ihnen von Craigs Anruf. »Die BTP-Einheit für Cyber Crime ist jetzt dran. Wobei sie die Schadsoftware zwar erkannt haben, sie aber nicht ohne Weiteres löschen können.«
»Ist es nicht möglich, das ganze System abzuschalten?«, fragte Lucinda.
»Das könnten sie, aber dann wäre möglicherweise die ganze Stadt in Gefahr, anstatt …«
»Anstatt einiger Frauen, die definitiv in Gefahr sind«, beendete Nick den Satz. »Wir sitzen zwischen Baum und Borke.« Er sprang auf, und Kelly erkannte mal wieder, wie sehr ihn das Adrenalin einer aufregenden Ermittlung belebte. »Also, wir brauchen eine Aussage von Ihrem Kontaktmann, und ich will, dass diese Putzkraft wegen widerrechtlichen Zugriffs auf ein Computersystem drankommt.« Er blickte sich nach dem HOLMES-Bearbeiter um, der bereits alles in den Laptop vor sich eingab. »Und holt Andrew Robinson her. Ich will wissen, wohin diese Kameraaufzeichnungen kopiert werden, und das sofort.«