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Espress Oh! sah von außen wenig einladend aus, was die Ankündigung »Der beste Kaffee in London« im Fenster ziemlich unglaubwürdig erscheinen ließ. Die Tür klemmte ein bisschen, gab letztlich aber nach, und Kelly trat mit solchem Schwung ein, dass sie beinahe der Länge nach hinschlug.
»Sicherheitskameras«, sagte sie triumphierend zu Nick und zeigte auf einen Aufkleber an der Wand – Lächelt, ihr werdet gefilmt! Innen war das Café weit größer, als man auf den ersten Blick gedacht hätte. Schilder informierten die Kunden, dass es oben weitere Tische gab, und eine Wendeltreppe führte nach unten, zu den Toiletten, wie Kelly aus dem steten Strom von Leuten schloss, der sich in diese Richtung und zurückbewegte. Es war sehr laut, denn die Unterhaltungen konkurrierten mit dem Zischen und Fauchen der riesigen silbernen Espressomaschine hinter dem Tresen.
»Wir würden gern den Manager sprechen.«
»Da können Sie lange warten?« Die junge Frau an der Kasse war Australierin, und ihr Akzent verwandelte alles, was sie sagte, in eine Frage. »Falls Sie sich beschweren wollen, haben wir dafür ein Formular, ja?«
»Wer ist heute hier zuständig?«, fragte Kelly und klappte ihren Dienstausweis so auf, dass die Marke zu sehen war.
Die junge Frau wirkte unbeeindruckt. Betont langsam blickte sie sich im Café um. Es gab zwei Baristas, von denen einer die Tische abwischte, während der andere Kaffeetassen so schnell und grob in einen Industrie-Geschirrspüler lud, dass Kelly staunte, wie die Tassen das überlebten. »Das wäre wohl ich? Ich bin Dana.« Sie wischte sich die Hände in ihrer Schürze ab. »Jase, übernimmst du mal kurz die Kasse? Wir können nach oben gehen.«
Im ersten Stock von Espress Oh! standen Ledersofas, die gemütlich aussahen, sich jedoch als so hart und glatt erwiesen, dass man dort ungern länger sitzen wollte. Dana sah erwartungsvoll Nick und Kelly an. »Was kann ich für Sie tun?«
»Haben Sie hier WLAN?«, fragte Nick.
»Klar. Wollen Sie den Code?«
»Im Moment nicht, danke. Können Ihre Gäste es gratis nutzen?«
Dana nickte. »Wir sollen den Code eigentlich ab und zu ändern, aber seit ich hier bin, ist er gleich. Die Stammkunden mögen es so. Es ist nervig für die, wenn die immer wieder nach dem Code fragen müssen, und für die Mitarbeiter macht es nur mehr Arbeit, nicht?«
»Wir suchen nach jemandem, der sich hier mehrmals in Ihr Netzwerk eingeloggt hat«, sagte Kelly. »Er wird im Zusammenhang mit einem schweren Verbrechen gesucht.«
Dana machte große Augen. »Müssen wir Angst haben?«
»Ich glaube nicht, dass Sie in Gefahr sind, aber es ist wichtig, dass wir denjenigen so schnell wie möglich finden. Mir ist aufgefallen, dass Sie Sicherheitskameras haben. Können wir uns mal die Aufzeichnungen ansehen?«
»Klar doch. Kommen Sie mit ins Büro.« Sie folgten ihr durch eine Tür auf der anderen Seite des Raums, wo sie schnell eine Zahlenfolge in ein Keypad im Türrahmen eintippte. Der Raum dahinter war kaum größer als ein Besenschrank und beherbergte einen Schreibtisch mit einem Computer, einen eingestaubten Drucker und einen Ablagekorb mit Rechnungen und Lieferscheinen. Auf einem Regal über dem Computer war ein Schwarzweißmonitor, der ein flackerndes Kamerabild zeigte. Kelly erkannte den Tresen, den sie unten gesehen hatten, und die blanke Kaffeemaschine.
»Wie viele Kameras haben Sie?«, fragte Kelly. »Können wir einen anderen Winkel bekommen?«
»Es gibt nur die eine, nicht?«, sagte Dana.
Während sie hinsahen, war Jase zu sehen, an den Dana übergeben hatte. Er stellte einen dampfenden Latte auf ein schwarzes Tablett. Von seinem Kunden war nichts als ein seitlicher Teilausschnitt auszumachen, bevor er sich wegdrehte. »Die einzige Kamera ist auf die Kasse gerichtet?«, fragte Kelly.
Dana wurde verlegen. »Die Geschäftsführung denkt, dass wir alle in die Kasse langen. Letztes Jahr hatten wir Probleme mit asozialem Verhalten und richteten die Kamera auf die Eingangstür. Unser Boss ist ausgerastet. Jetzt lassen wir sie so. Schlafende Hunde, nicht?«
Nick und Kelly wechselten einen grimmigen Blick.
»Ich muss alles mitnehmen, was Sie an Aufzeichnungen vom letzten Monat haben«, sagte Kelly und wandte sich zum DI. »Observieren?« Er nickte.
»Wir ermitteln im Zusammenhang mit einer sehr schweren Straftat«, sagte Nick zu Dana, »und es könnte sein, dass wir für einige Wochen zusätzliche Kameras anbringen müssen. Falls ja, dürfen Ihre Gäste nichts davon erfahren. Das heißt«, er sah Dana streng an, »je weniger Mitarbeiter es wissen, desto besser.«
Dana sah erschrocken aus. »Ich sage es keinem.«
»Danke, damit helfen Sie uns wirklich«, sagte Kelly, obwohl sie bitter enttäuscht war. Jedes Mal, wenn sie dachte, es gäbe eine Spur zum Betreiber der Website, verlief sich diese Spur im Sand. Sie wussten, wann der Täter das WLAN hier genutzt hatte, und konnten sich die entsprechenden Aufnahmen ansehen. Da die Kamera aber hauptsächlich die Mitarbeiter und die Kasse zeigte, waren die Chancen, ihn zu identifizieren, verschwindend gering.
Als sie das Café verließen, piepte Kellys Telefon. »Das ist eine Nachricht von Zoe Walker«, sagte sie und las den Text. »Sie arbeitet bis auf weiteres von zu Hause und sagt mir nur Bescheid, dass sie nicht unter der Büronummer zu erreichen ist.«
Nick warf ihr einen warnenden Blick zu. »Falls sie fragt, es gibt keine wesentlichen Entwicklungen, okay?«
Kelly holte tief Luft und bemühte sich, ruhig zu antworten: »Ich habe Zoe erzählt, wie sie auf die Website kommt, weil ich dachte, dass sie ein Recht hat, ihren dort beschriebenen Arbeitsweg zu sehen.«
Nick ging voraus zum Wagen und sagte über seine Schulter: »Sie denken zu viel, PC Swift.«
In der Balfour Street brachte Kelly die CD mit den Kameraaufzeichnungen von Espress Oh! zum Beweismittel-Officer. Tony Broadstairs konnte auf über fünfundzwanzig Jahre beim CID und MIT zurückblicken und gab Kelly gerne Ratschläge, die sie weder wollte noch brauchte. Heute belehrte er sie zum Thema Beweismittelkette.
»Jetzt müssen Sie unterschreiben, dass Sie mir das Beweisstück geben«, sagte er und machte mit seinem Kuli einen Luftkringel über dem entsprechenden Feld auf dem Beweismitteletikett, »und ich unterschreibe, dass ich es erhalten habe.«
»Verstanden«, sagte Kelly, die seit neun Jahren Beweismittel beschlagnahmte und ablieferte. »Danke.«
»Denn wenn eine dieser Unterschriften fehlt, können Sie Ihre Anklage vergessen. Da können Sie den Schuldigsten aller Schuldigen haben, aber sowie die Verteidigung Wind von einem Formfehler bekommt, fällt die Anklage schneller in sich zusammen als ein Soufflé, das zu früh aus dem Ofen genommen wird.«
»Kelly.«
Als sie sich umdrehte, sah sie DCI Digby auf sie zukommen, noch im Mantel.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie da sind, Sir«, sagte Tony. »Ich dachte, Sie bummeln noch die ganzen Überstunden ab, die Sie angesammelt haben. Heute keine Lust auf Golf?«
»Glauben Sie mir, Tony, ich bin nicht freiwillig hier.« Er sah Kelly ernst an. »In mein Büro, jetzt gleich.« Dann rief er den DI: »Nick, Sie auch.«
Kellys Freude, Tonys Belehrungen zu entkommen, wurde durch den Gesichtsausdruck des DCI empfindlich getrübt. Sie folgte ihm durch den großen Raum zu seinem Büro, wo er die Tür aufstieß und ihr befahl, sich zu setzen. Kelly gehorchte. Sie bekam Angst. Nervös überlegte sie, welchen Grund es geben könnte, warum der DCI sie so streng in sein Büro zitierte – sogar eigens dafür herkam –, doch ihr fiel nur der eine ein.
Durham.
Diesmal hatte sie es richtig versaut.
»Ich habe mich für Sie ins Zeug gelegt, Kelly.« Diggers war stehen geblieben, und nun ging er in dem kleinen Raum auf und ab, sodass Kelly unsicher war, ob sie ihn ansehen oder starr geradeaus blicken sollte wie ein Angeklagter vor Gericht. »Ich habe dieser temporären Versetzung zugestimmt, weil ich an Sie geglaubt und Sie mich überzeugt haben, dass ich Ihnen vertrauen kann. Ich habe verdammt nochmal für Sie gekämpft, Kelly!«
Kellys Bauch verkrampfte sich vor Furcht und Scham. Wie hatte sie nur so blöd sein können? Das letzte Mal hatte ihr Job schon am seidenen Faden gehangen; der Verdächtige, auf den sie losgegangen war, hatte sich nur gegen eine Anzeige entschieden, weil Diggers ihn besucht und ihm klargemacht hatte, dass er sonst noch mehr im Scheinwerferlicht stehen würde als ohnehin bereits. Selbst die Disziplinaranhörung war zu ihren Gunsten verlaufen, da Diggers noch ein Gespräch unter vier Augen mit dem Superintendent geführt hatte. Mildernde Umstände aufgrund der Familiengeschichte, hatte im Bericht gestanden; allerdings war ihr auch ganz deutlich zu verstehen gegeben worden, dass sie diese Karte kein zweites Mal ausspielen konnte.
»Ich bekam gestern Abend einen Anruf.« Endlich setzte der DCI sich und lehnte sich auf den breiten Eichenschreibtisch. »Ein DS von der Durham Constabulary hatte mitbekommen, dass wir uns nach alten Vergewaltigungsfällen erkundigen. Und er wollte wissen, ob er uns noch anderweitig helfen könne.«
Kelly konnte ihn nicht ansehen. Sie spürte, dass Nick zu ihr blickte.
»Natürlich kam das ziemlich überraschend. Ich mag die Tage bis zu meiner Pensionierung zählen, Kelly, aber ich rede mir gern ein, dass ich immer noch weiß, welche Fälle diese Abteilung bearbeitet. Und keiner von ihnen«, hier wurde er langsamer, um jedes einzelne Wort wirken zu lassen, »hat mit der Durham University zu tun. Möchten Sie mir erklären, was zum Teufel Sie gemacht haben?«
Zögerlich sah Kelly auf. Diggers rasende Wut schien ein wenig verdampft zu sein, und er wirkte weniger beängstigend als eben noch. Trotzdem zitterte ihre Stimme, und sie musste schlucken, um sich zu fangen.
»Ich wollte wissen, ob es irgendwelche Entwicklungen im Fall meiner Schwester gibt.«
Diggers schüttelte den Kopf. »Gewiss muss ich Ihnen nicht erzählen, dass Ihr Handeln ein schweres disziplinarisches Vergehen darstellt. Ganz abgesehen von einem strafbaren Verstoß gegen den Datenschutz, ist der Missbrauch Ihrer Stellung als Police Officer ein Entlassungsgrund.«
»Das weiß ich, Sir.«
»Und warum zum Teufel …?« Diggers breitete die Arme aus und zeigte völlige Verständnislosigkeit, wurde dann aber wieder ruhiger. »Gab es irgendwelche Entwicklungen im Fall Ihrer Schwester?«
»Sozusagen. Nur nicht die Sorte, die ich erwartet hatte, Sir.« Wieder schluckte Kelly und wünschte, der Kloß in ihrem Hals würde verschwinden. »Meine Schwester … sie hat jede Unterstützung der Ermittlungsarbeit abgelehnt. Mehr noch: Sie hat ausdrücklich gebeten, keine weiteren Informationen zu erhalten, auch dann nicht, wenn der Täter festgenommen werden sollte.«
»Ich nehme an, das war Ihnen neu?«
Kelly nickte.
Zunächst herrschte Schweigen.
Dann sagte Diggers: »Ich denke, dass ich die Antwort bereits kenne, aber ich muss Sie fragen: Gibt es irgendeinen dienstlichen Grund, aus dem Sie solch eine Anfrage an eine andere Dienststelle richteten?«
»Ich habe sie darum gebeten«, sagte Nick. Kelly sah zu ihm und versuchte, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen.
»Sie baten Kelly, Durham wegen einer Jahre alten Vergewaltigung zu kontaktieren, bei der das Opfer ihre Schwester war?«
»Ja.«
Diggers starrte Nick an. Kelly glaubte, einen Anflug von Belustigung in seinen Augen zu erkennen, doch ansonsten blieb seine Miene streng, weshalb sie zu dem Schluss kam, dass sie sich getäuscht haben musste. »Möchten Sie mir vielleicht erklären, warum?«
»Operation FURNISS erweist sich als viel weitreichender, als zunächst gedacht, Sir. Die Maidstone-Vergewaltigung zeigte uns, dass sich die Taten nicht auf den Bereich innerhalb der M25 beschränken. Und obwohl die Anzeigen erst ab September geschaltet wurden, ist das volle Ausmaß bisher unklar. Daher hielt ich es für eine gute Idee, in einem größeren Umkreis alle Vergewaltigungen zu untersuchen, denen Stalking vorausging.«
»Vor zehn Jahren?«
»Ja, Sir.«
Diggers nahm seine Brille ab und betrachtete erst Nick nachdenklich, dann Kelly. »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«
»Ich … ich weiß nicht, Sir.«
»Ich nehme an, Sie konnten keine Verbindung zwischen der Operation FURNISS und Durham herstellen?« Die Frage war an Kelly gerichtet, trotzdem antwortete Nick.
»Die habe ich ausgeschlossen«, sagte er, ohne zu zögern.
»Dachte ich mir.« Diggers sah von Kelly zu Nick und zurück. Kelly hielt den Atem an. »Darf ich vorschlagen, dass wir die Hintergrundrecherche zu ähnlichen Taten als abgeschlossen betrachten?«
»Ja, Sir.«
»Gehen Sie wieder an die Arbeit, alle beide.«
Sie waren an der Tür, als Diggers Kelly zurückrief. »Eines noch …«
»Sir?«
»Täter, Polizisten, Zeugen, Opfer … sie alle zeichnet eine Gemeinsamkeit aus, Kelly, und die ist, dass zwei Leute nie genau gleich sind. Jedes Opfer geht anders mit dem um, was ihm zugestoßen ist. Einige sind auf Rache versessen, andere wollen Gerechtigkeit und manche«, er sah ihr in die Augen, »wollen einfach nur nach vorn sehen.«
Kelly dachte an Lexi und an Cathy Tannings Wunsch, neu anzufangen in einem Haus, zu dem niemand außer ihr die Schlüssel hatte. »Ja, Sir.«
»Fixieren Sie sich nicht auf Opfer, die etwas anderes wollen als wir. Diese Leute müssen deshalb nicht unrecht haben. Konzentrieren Sie Ihren Antrieb – Ihr nicht unbeachtliches Talent – auf den Fall als Ganzes. Irgendwo da draußen ist ein Serientäter verantwortlich für Vergewaltigungen, Morde und Stalking. Finden Sie ihn.«