32
»Bist du nervös, Schatz?«
»Ein bisschen.«
Es ist ein Uhr am Samstag, und wir sind in der Küche, wo wir die Reste der Suppe wegräumen, die ich gekocht habe. Ich wollte, dass Katie vor ihrer Probe etwas Warmes in den Bauch bekommt, aber sie zupfte nur an ihrem Brötchen und hat die Suppe kaum angerührt.
»Ich bin auch nervös«, sage ich zu ihr und lächle, um mich solidarisch zu zeigen, doch Katie wirkt gekränkt.
»Denkst du, ich schaff das nicht?«
»Oh Schatz, das meinte ich doch gar nicht!« Ich möchte mich ohrfeigen, weil ich schon wieder das Falsche gesagt habe. »Ich bin nicht so nervös, sondern aufgeregt. Schmetterlinge im Bauch, du weißt schon.« Ich umarme sie, aber es klingelt an der Tür, und Katie weicht zurück.
»Das ist sicher Isaac.«
Ich folge ihr hinaus in die Diele und wische meine Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie machen zuerst eine technische Probe, und danach kommen wir alle zur Kostümprobe nach. Ich möchte es dringend gut finden. Um Katies willen. Also ringe ich mir ein Lächeln ab, als Katie sich von Isaac löst und er mich begrüßt.
»Danke, dass Sie sie abholen.« Das meine ich ernst. Isaac Gunn ist nicht der Mann, den ich mir für meine Tochter aussuchen würde – für meinen Geschmack ist er zu schmierig und zu alt –, aber ich kann nicht leugnen, dass er auf sie aufpasst. Sie ist kein einziges Mal nach einer Probe allein zurückgefahren, und er bringt sie sogar nach ihren Restaurantschichten nach Hause.
PC Swift hatte versprochen, mich anzurufen, wenn sie Luke Friedland gefunden haben, und dass sie sich bisher nicht gemeldet hat, beunruhigt mich. Heute habe ich mich zweimal auf der Website eingeloggt und mir die anderen Frauen angesehen, diejenigen heruntergeladen, die als »an den Wochenenden verfügbar« gekennzeichnet waren, und mich gefragt, ob sie in diesem Moment verfolgt werden.
Justin kommt nach unten. Er nickt Isaac zu. »Alles klar, Alter? Mum, ich geh weg. Kann sein, dass ich die Nacht nicht nach Hause komme.«
»Nein, du gehst nicht. Wir wollen uns Katies Stück ansehen.«
»Ich nicht.« Er dreht sich zu Katie und Isaac um. »Ist nicht böse gemeint, Leute, aber das ist echt nicht mein Ding.«
Katie lacht. »Schon gut.«
»Nein, ist es nicht«, sage ich streng. »Wir gehen als Familie hin, um Katie in ihrem ersten richtigen Stück zu sehen. Keine Diskussion.«
»Hören Sie, das ist wirklich kein Grund zu streiten«, sagt Isaac. »Wenn Justin nicht kommen will, ist das völlig okay für uns, stimmt’s, Kate?« Beim Sprechen legt er einen Arm um ihre Taille, und sie blickt kopfnickend zu ihm auf.
Kate?
Mich trennen nur wenige Schritte von meiner Tochter, dennoch scheint zwischen uns ein riesiger Abgrund zu klaffen. Vor wenigen Wochen noch wären es Katie und ich gegen den Rest der Welt gewesen; jetzt sind es Katie und Isaac. Kate und Isaac.
»Es ist bloß eine Kostümprobe«, sagt sie.
»Umso mehr Grund, dass wir dich anfeuern, damit du bereit bist für die Premiere.«
Sogar Justin weiß, wann ich eisern bleibe.
»Na gut.«
Isaac hüstelt. »Wir sollten lieber …«
»Wir sehen uns dort, Mum. Weißt du, wie ihr zum Theater kommt?«
»Ja, ja. Hals- und Beinbruch!« Vom Lächeln tun mir die Wangen weh. Ich stehe an der offenen Tür, sehe ihnen nach und winke, als Katie sich umblickt. Dann schließe ich die Tür. In der Diele ist es kalt von der eisigen Luft draußen.
»Ihr ist übrigens egal, ob ich da bin oder nicht.«
»Aber mir nicht.«
Justin lehnt am Treppengeländer und sieht mich nachdenklich an. »Ist es nicht? Oder willst du Katie nur glauben lassen, du würdest ihre Schauspielerei ernst nehmen?«
Ich werde rot. »Ich nehme sie ernst.«
Justin stellt einen Fuß auf die unterste Stufe, merklich angeödet von diesem Gespräch. »Und alle anderen müssen irgendeinen Shakespeare-Scheiß aussitzen, damit du es beweisen kannst. Tausend Dank, Mum.«
Ich habe mit Matt vereinbart, dass er uns um drei abholt. Er klingelt pünktlich, doch als ich aufmache, ist er schon nebenan und klingelt bei Melissa.
»Ich warte im Taxi«, sagt er.
Bis ich Justin und Simon rausgescheucht und meinen Mantel angezogen habe, sind Melissa und Neil schon im Taxi. Neil sitzt vorn, Melissa hinten. Ich rücke neben sie und lasse Platz für Justin. Simon setzt sich auf den Klappsitz hinter Matt.
»Na, das hat doch was, oder?«, sagt Melissa. »Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal im Theater war.«
»Ja, richtig nett.« Ich lächle ihr dankbar zu. Simon starrt aus dem Fenster. Ich schiebe meinen Fuß ein Stück vor, sodass ich seinen anstupse, aber er beachtet es nicht und lehnt seine Beine weg von mir.
Er wollte nicht, dass Matt uns abholt.
»Wir können die Bahn nehmen«, hat er gesagt, als ich ihm erzählte, dass Matt es angeboten hatte.
»Sei nicht albern. Das ist sehr nett von ihm, und du musst dich allmählich mal mit ihm abfinden.«
»Wie würde es dir denn gefallen, wäre es andersrum? Würde meine Ex uns durch die Gegend kutschieren …«
»Es wäre mir völlig egal.«
»Dann fahrt ihr mit dem Taxi, und ich treffe euch da.«
»Damit jeder sieht, wie lächerlich du dich machst? Und weiß, dass wir uns gestritten haben?«
Wenn es eines gibt, was Simon hasst, ist es, dass andere über ihn reden.
Matt ruft mir über die Schulter zu: »Rupert Street, nicht?«
»Stimmt. Anscheinend ist es neben einem Pub.«
Simon dreht sich auf seinem Sitz um, und das Display seines Mobiltelefons beleuchtet sein Gesicht. »Waterloo Bridge, vorbei am Somerset House und links in die Drury Lane«, sagt er.
Matt lacht. »An einem Sonnabend? Keine Chance. Vauxhall Bridge, Millbank bis Whitehall und ab Charing Cross sehen wir mal weiter.«
»Über Waterloo geht es laut Navi zehn Minuten schneller.«
»Ich brauche kein Navi. Ist alles hier drin.« Er tippt sich seitlich an den Kopf, und Simons Schultern spannen sich an. Als Matt den Taxi-Kurs machte, ist er mit dem Rad durch die Innenstadt gefahren und hat sich jede Seitenstraße, jede Einbahnstraße gemerkt. Es gibt kein Navi, das einen verlässlicher durch die Stadt bringt als mein Exmann.
Aber darum geht es hier nicht. Ich sehe zu Simon, der wieder aus dem Fenster blickt. Seine Verärgerung äußert sich einzig darin, wie seine Finger an seinem Oberschenkel trommeln. »Ich glaube doch, dass Waterloo schneller sein könnte, Matt«, sage ich. Er sieht mich im Rückspiegel an, und ich halte seinen Blick, bitte ihn stumm, es für mich zu tun. Mir ist klar, dass er zwar allzu gern Simon übertrumpfen, aber nie mich willentlich verletzen würde.
»Dann also Waterloo. Und von da die Drury Lane?«
Simon sieht wieder auf sein Telefon. »Stimmt. Ruf einfach, wenn du Hilfe brauchst.« Er sieht nicht siegesgewiss oder erleichtert aus, aber seine Finger hören auf zu trommeln, und er entspannt sich.
Matt blickt wieder zu mir, und ich bewege die Lippen zu einem winzigen Dankeschön. Er schüttelt den Kopf, wobei ich nicht weiß, ob er meinen Dank abwinkt oder es furchtbar findet, dass ich das für nötig halte. Simon blickt zur Sitzbank, und ich fühle etwas an meinem Fuß; als ich nach unten sehe, ist Simons Fuß an meinen gedrückt.
Keiner sagt ein Wort, als wir fünfzehn Minuten später im sehr stockenden Verkehr von Waterloo stehen. Ich überlege angestrengt, was ich sagen könnte, doch Melissa ist schneller als ich.
»Hat die Polizei sich schon bei dir gemeldet?«
»Nein, keine Neuigkeiten«, sage ich sehr leise, um das Thema abzuwimmeln, aber Simon beugt sich vor.
»Neuigkeiten? Wegen der Fotos in der Gazette?«
Ich sehe Melissa an, die verlegen mit den Schultern zuckt. »Ich dachte, dass du es erzählt hast.«
Die Scheiben sind von innen beschlagen. Ich ziehe den Ärmel über meine Hand und wische damit das Fenster neben mir ab. Draußen stehen die Wagen Stoßstange an Stoßstange, und ihre Lichter werden zu rotweißen Schlieren im Regen.
»Was erzählt?«
Matt lehnt sich vor und sieht mich im Rückspiegel an. Sogar Neil hat sich umgedreht und wartet, dass ich etwas sage.
»Ach, um Gottes willen, es ist nichts!«
»Es ist nicht nichts, Zoe«, sagt Melissa.
Ich seufze. »Okay, ist es nicht. Die Anzeigen in der Gazette werben für eine Website, die ›findtheone.com‹ heißt. Es ist eine Art Dating-Portal.«
»Und da bist du drauf?«, fragt Matt mit ungläubigem Lachen.
Ich rede weiter, schon allein um meinetwillen. Mit jedem Mal, das ich über das rede, was passiert ist, fühle ich mich stärker. Jede Heimlichkeit ist gefährlich. Wenn jede Frau wüsste, dass sie beobachtet wird – dass sie verfolgt wird –, kann doch keiner etwas getan werden, oder? »Die Website verkauft Informationen über die Arbeitswege von Frauen, die mit Bussen und Bahnen fahren; welche Bahn sie nehmen, in welchem Wagen sie sitzen, solche Sachen. Die Polizei hat Verbindungen der Seite zu mindestens zwei Morden gefunden, und zu einer Reihe anderer Verbrechen an Frauen.« Ich erzähle ihnen nicht von Luke Friedland, denn Simon soll sich nicht noch mehr um mich sorgen als ohnehin schon.
»Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Oh Mann, Zoe!«
»Mum, alles okay mit dir?«
»Weiß die Polizei, wer hinter der Website steckt?«
Ich halte die Hände vors Gesicht, um die Fragen abzuwehren. »Mir geht es gut, und, nein, sie wissen es nicht.« Ich sehe Simon an. »Ich habe dir nichts erzählt, weil ich fand, dass du schon genug Stress hast.« Von der Entlassung sage ich nichts – nicht vor den anderen –, doch sein Nicken verrät mir, dass er es versteht.
»Du hättest es mir trotzdem sagen müssen«, murmelt er.
»Was macht die Polizei denn eigentlich?«, fragt Melissa.
»Anscheinend lässt sich die Website praktisch nicht zurückverfolgen. Irgendwas mit einem Proxy oder so …«
»Ein Proxyserver«, sagt Neil. »Das leuchtet ein. Er loggt sich über den Server von jemand anderem ein, damit er selbst nicht gefunden wird. Mich würde wundern, sollte die Polizei da weit kommen. Entschuldige, das ist sicher nicht das, was du hören möchtest.«
Ist es nicht, doch ich gewöhne mich langsam daran. Ich sehe aus dem Fenster, als wir die Waterloo Bridge überqueren, und lasse die anderen weiter über die Website reden, als sei ich gar nicht da. Sie stellen dieselben Fragen, die ich der Polizei schon gestellt habe, bewegen sich genauso im Kreis wie ich. Meine Ängste werden herausgekramt und untersucht, zur Unterhaltung analysiert, wie ein Seriendrehbuch für EastEnders.
»Woher haben sie überhaupt die Daten, welche Frau wann welche Bahn nimmt?«
»Sicher sind sie ihnen gefolgt.«
»Aber die können die doch nicht alle verfolgt haben, oder?«
»Können wir bitte das Thema wechseln?«, frage ich, und alle verstummen. Simon sieht mich an, und ich bedeute ihm mit einem Nicken, dass es mir gut geht. Justin starrt geradeaus, die Fäuste auf den Knien geballt, und ich könnte mich treten, dass ich so unbedacht über die Website gesprochen habe. Ich hätte mich mit meinen Kindern allein hinsetzen und ihnen erklären müssen, was los ist. Sie hätten eine Chance bekommen sollen, mir zu sagen, wie es ihnen damit geht. Ich strecke meine Hand zu Justin aus, doch er dreht sich weg von mir. Später, nach dem Stück, muss ich unbedingt einen ruhigen Moment mit ihm erwischen. Draußen gehen Leute in Paaren und allein, halten Regenschirme oder zurren ihre Kapuzen über das windgepeitschte Haar. Keiner blickt sich nach hinten um; keiner sieht nach, wer sie beobachtet, also tue ich es für sie.
Wie viele von euch werden verfolgt?
Ahnt ihr es überhaupt?
Das Haus in der Rupert Street wirkt von außen nicht wie ein Theater. In dem Pub nebenan ist es laut und voller junger Leute, doch das Theater selbst hat keine Fenster zur Straße. Die Backsteinfassade ist schwarz gestrichen, und ein einzelnes Plakat an der Tür führt die Daten für Was ihr wollt auf.
»Katherine Walker!«, quiekt Melissa und zeigt auf die winzige Schrift unten auf dem Plakat.
»Unsere Katie, eine richtige Schauspielerin.« Matt grinst. Für einen Moment fürchte ich, dass er seinen Arm um mich legen will, und trete einen Schritt zur Seite. Stattdessen knufft er mich linkisch in die Schulter, als würde er einen anderen Taxifahrer begrüßen.
»Sie hat das toll gemacht, nicht?«, sage ich. Denn obwohl sie nicht bezahlt wird und das Theater eigentlich ein altes Lagerhaus mit einer Bretterbühne und Reihen von Plastikstühlen ist, tut Katie genau das, was sie sich immer erträumt hat. Darum beneide ich sie. Nicht um ihre Jugend oder ihr Aussehen – wie es die meisten Leute bei Müttern erwarten – sondern um ihre Leidenschaft. Ich überlege, was ich wohl geschafft hätte, welchen großen Leidenschaften ich hätte folgen wollen.
»Hatte ich einen Traum, als ich in ihrem Alter war?«, frage ich Matt so leise, dass es niemand außer ihm hört.
»Was?« Wir gehen schon nach unten, aber ich muss es wissen. Ich habe das Gefühl, dass mir meine Identität entgleitet und ich auf eine Pendlerin auf einer Website reduziert bin, die jedermann kaufen kann. Ich ziehe an Matts Arm, sodass er hinter den anderen zurückfällt, und wir stehen in einer Treppenbiegung, während ich versuche, es zu erklären.
»So etwas wie Katies Schauspielerei. Sie ist so voller Leben, wenn sie darüber redet, so voller Antrieb. Hatte ich so etwas?«
Er zuckt mit den Schultern, weil er nicht sicher ist, was ich meine, warum es plötzlich wichtig ist. »Du bist gerne ins Kino gegangen. Wir haben unglaublich viele Filme gesehen, als du mit Jus schwanger warst.«
»Das meine ich nicht – das ist ja nicht mal ein richtiges Hobby.« Ich bin überzeugt, dass ich es einfach vergessen habe, dass tief in mir eine Leidenschaft schlummert, die mich bestimmt. »Erinnerst du dich, wie verrückt du nach Motocross warst? Du hast das ganze Wochenende auf der Bahn verbracht oder an Maschinen geschraubt. Du hast es richtig geliebt. Hatte ich so etwas nicht? Nichts, das ich mehr als alles andere geliebt habe?«
Matt kommt näher, und sein Geruch nach Zigaretten und extrastarkem Pfefferminz ist wohltuend vertraut. »Mich«, sagt er leise. »Du hast mich geliebt.«
»Wo bleibt ihr zwei?« Melissa kommt die Treppe hinauf und bleibt stehen, eine Hand am Geländer. Sie sieht uns verwundert an.
»Entschuldige«, sagt Matt. »Wir hingen nur gerade Erinnerungen nach. Es wird dich nicht überraschen zu hören, dass unsere Katie schon immer gerne im Rampenlicht stand.« Sie gehen nach unten, und Matt erzählt, wie Katie mit fünf Jahren mal bei unseren Haven-Urlaub auf die Bühne des Wohnwagenparks gestiegen war und »Somewhere over the Rainbow« gesungen hat. Ich folge ihnen und warte, dass sich mein Herzschlag wieder normalisiert.
Unten macht Isaac ein gewaltiges Trara darum, uns zu unseren Plätzen zu führen, und auf einmal sind wir umgeben von 17-Jährigen mit zerlesenen Ausgaben des Stücks, aus denen Post-its ragen.
»Wir laden immer die örtlichen Schulen ein, wenn wir Publikum für die Kostümprobe brauchen«, sagt Isaac, als er bemerkt, dass ich mich umblicke. »Es hilft den Schauspielern, ein richtiges Publikum zu haben, und Was ihr wollt wird immer gerade irgendwo durchgenommen.«
»Wo warst du denn?«, fragt Simon, als ich mich neben ihn setze.
»Ich habe das Klo gesucht.«
Simon zeigt zur Tür seitlich vom Zuschauerraum, auf der dick und fett Toiletten steht.
»Ich gehe nachher. Es fängt gleich an.« Mir ist bewusst, dass Matt sich neben mich setzt, und ich spüre die Wärme, die er ausstrahlt, auch ohne ihn zu berühren. Ich lehne mich zu Simon und lege meine Hand in seine. »Was ist, wenn ich es nicht verstehe?«, flüstere ich. »In der Schule hatte ich nie Shakespeare, und ich verstehe kein Wort von dem, worüber du und Katie redet.«
Er drückt meine Hand. »Genieß es einfach. Katie wird dich nicht nach einzelnen Themen fragen. Sie möchte nur von dir hören, dass sie großartig war.«
Das ist leicht. Ich weiß ja, dass sie es sein wird. Das will ich Simon sagen, als das Licht gedimmt wird und alle verstummen. Der Vorhang geht auf.
Wenn Musik die Nahrung der Liebe ist, so spielt fort.
Es ist nur ein Mann auf der Bühne. Ich hatte mir elisabethanische Rüschen und Spitzen vorgestellt, doch er trägt enge schwarze Jeans, ein graues T-Shirt und rotweiße Converse. Ich lasse seine Worte auf mich einrieseln wie Musik. Auch wenn ich nicht jede Zeile verstehe, genieße ich ihren Klang. Als Katie auftritt, begleitet von zwei Seeleuten, rufe ich vor lauter Aufregung fast ihren Namen. Sie sieht sensationell aus, das Haar zu einem eleganten seitlichen Zopf geflochten und in einem engen silbernen Top. Ihr Rock ist infolge des Schiffbruchs zerrissen, der eben mittels blitzender Lichter und krachender Sound-Effekte dargestellt wurde.
Mein Bruder ist ja in Elysium. Doch wär’ es möglich, dass er nicht ertrank: Was denkt ihr, Schiffer?
Ich kann nicht glauben, dass das da oben Katie ist. Sie verpasst keinen Einsatz und füllt den Raum mit ihrer Präsenz aus, selbst wenn sie nichts sagt. Ich will nur sie ansehen, werde jedoch von der Handlung mitgerissen, von den anderen Schauspielern, die sich ihre Sätze zuwerfen, als ginge es um einen Wettstreit, bei dem der gewinnt, der das letzte Wort hat. Und ich ertappe mich dabei, wie ich mal lache, mal zu Tränen gerührt bin.
Ich baut’ an Eurer Tür ein Weidenhüttchen. Ihre Stimme schwebt über das stumme Publikum hinweg, und ich bemerke, dass ich die Luft anhalte. Ich habe Katie in Schulaufführungen erlebt, beim Üben für Vorsprechen und singend bei Talentwettbewerben in Ferienparks, aber dies hier ist anders. Sie ist atemberaubend.
Oh, Ihr solltet mir nicht Ruh’ genießen zwischen Erd’ und Himmel, bevor Ihr Euch erbarmt!
Ich drücke Simons Hand und blicke nach links, wo Matt bis über beide Ohren grinst. Sieht er sie so wie ich? Praktisch erwachsen, sage ich oft, wenn ich anderen von Katie erzähle, doch jetzt wird mir klar, dass daran nichts »praktisch« ist. Sie ist eine erwachsene Frau. Ob sie die richtigen Entscheidungen im Leben trifft oder die falschen, es sind ihre, die sie allein fällen muss.
Wir klatschen wie verrückt, als Isaac auf die Bühne tritt und sagt: »Hier wäre dann die Pause.« Wir lachen an den passenden Stellen und warten mitfühlend stumm, als der Beleuchter ein Stichwort verpasst und Olivia und Sebastian in Dunkelheit versenkt. Als der letzte Vorhang fällt, kann ich es nicht erwarten aufzuspringen und zu Katie zu laufen. Ich frage mich, ob Isaac uns zur Umkleide bringt, da kommt Katie wieder auf die Bühne gelaufen und springt herunter zu uns in den Zuschauerraum.
»Du warst fantastisch!« Ich bemerke, dass ich Tränen in den Augen habe, blinzle sie weg und lache und weine gleichzeitig. Mit beiden Händen halte ich sie fest und wiederhole: »Du warst fantastisch!« Sie umarmt mich, und ich rieche Fettschminke und Puder.
»Kein Sekretärinnenkurs?«, fragt sie. Sie spielt mit mir, aber ich umfange ihr Gesicht, sehe die leuchtenden Augen und finde, dass sie noch nie so wunderschön ausgesehen hat. Mit einem Daumen wische ich etwas verschmiertes Make-up weg.
»Nicht, wenn du das nicht willst.«
Sie ist sichtlich verwundert, doch jetzt ist keine Zeit zu reden. Ich gehe beiseite, damit die anderen ihr sagen können, wie genial sie war, und sich in ihrem Strahlen sonnen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Isaac sie beobachtet. Er bemerkt meinen Blick und kommt zu mir.
»War sie nicht brillant?«, frage ich.
Isaac nickt bedächtig, und als hätte sie seinen Blick gefühlt, sieht Katie lächelnd auf.
»Der Star des Stücks«, sagt er.