9

Es ist fast drei Uhr nachmittags, als Graham ins Büro zurückkommt.

»Arbeitsessen«, erklärt er, und aus seiner lässigen Haltung schließe ich, dass es zum Essen mindestens ein paar Pints gab.

»Ist es okay, wenn ich eben zur Post gehe?«

»Ja, aber beeilen Sie sich. In einer Stunde habe ich eine Besichtigung.«

Auf meinem Schreibtisch liegt schon alles frankiert und ordentlich zusammengebündelt bereit. Ich stecke die Briefe in einen Stoffbeutel und ziehe meinen Mantel an, während Graham in seinem Büro verschwindet.

Draußen ist es so kalt, dass ich meinen Atem sehen kann, und ich balle die Fäuste in den Taschen, um meine Finger an den Handflächen zu reiben. Ein dumpfes Vibrieren kündigt eine Textnachricht an, aber das Smartphone ist in der Innentasche. Also muss es warten.

Als ich in der Post anstehe, öffne ich den Mantel und hole das Telefon hervor. Die Nachricht ist von PC Kelly Swift.

Können Sie mir bitte so bald wie möglich ein Foto von sich schicken?

Heißt das, sie hat mit Cathy Tanning geredet? Glaubt sie mir? Kaum habe ich die Nachricht gelesen, erscheint die nächste auf dem Display.

Ohne Brille.

Es sind sechs Leute vor mir in der Schlange und nochmal so viele hinter mir.

So bald wie möglich, steht in der SMS von PC Swift. Ich nehme meine Brille ab und suche nach der Kamera in meinem Handy. Es dauert einen Moment, bis mir wieder einfällt, wie ich sie auf mich richte, dann strecke ich den Arm so weit aus, wie ich es in der Schlange wage, ohne dass es zu offensichtlich ist. Der Aufwärtswinkel bewirkt, dass ich drei Kinne und Tränensäcke unter den Augen habe, aber ich knipse trotzdem und möchte im Boden versinken, als mich das laute Klicken verrät. Wie peinlich! Wer macht denn ein Selfie von sich bei der Post? Ich schicke das Bild an PC Swift, und sofort erscheint das Häkchen, dass sie es gesehen hat. Ich stelle mir vor, wie sie mein Foto neben die Anzeige in der London Gazette hält, und warte darauf, dass sie mir schreibt, ich würde mir die Ähnlichkeit einbilden. Doch es kommt nichts.

Also schreibe ich an Katie, wie das Vorsprechen war. Sie muss schon seit Stunden wieder draußen sein, und ich weiß, dass sie sich wegen dem, was ich heute Morgen zu ihr gesagt habe, nicht gemeldet hat. Nachdem ich den Text abgeschickt habe, stecke ich das Telefon wieder ein.

Als ich ins Büro zurückkomme, steht Graham an meinem Schreibtisch und wühlt in der obersten Schublade. Er richtet sich abrupt auf. Der Grund für die hässliche Rotfärbung seines Halses ist nicht etwa Schamgefühl, sondern Verärgerung, weil er ertappt wurde.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?« In der obersten Schublade sind nur Umschläge, Stifte und Gummibänder, und ich frage mich, ob er die anderen schon durchsucht hat. In der mittleren sind alte Notizblöcke, chronologisch geordnet, falls ich etwas nachschlagen muss. Die unterste Schublade ist eine Müllhalde: ein Paar Turnschuhe aus der Zeit, als ich dachte, ich könnte noch am Fluss walken, ehe ich zur Bahn gehe; Strumpfhose, Make-up, Tampax. Gern würde ich Graham sagen, dass er die Finger von meinen Sachen lassen soll, aber ich weiß schon, was er dann antworten wird: Es ist seine Firma und sein Schreibtisch mit seinen Schubladen. Wäre Graham Hallow Vermieter, dann der Typ, der ohne anzuklopfen hereinkommt, um die Wohnung zu inspizieren.

»Die Schlüssel zum Tenement House. Sie sind nicht im Kasten.«

Ich gehe hinüber zum Schlüsselkasten, einer Metallbox an der Wand im Korridor, gleich neben dem Aktenschrank. Tenement House ist ein Bürogebäude in einer größeren Anlage namens City Exchange; ich sehe zum »C«-Haken und finde die Schlüssel sofort.

»Ich dachte, Ronan ist für Exchange zuständig.« Ronan ist der neueste in einer langen Reihe von jungen Maklern. Sie sind immer männlich, denn Graham glaubt nicht, dass Frauen verhandeln können. Und alle ähneln sich derart, dass man glauben könnte, sie würden ihre Anzüge einfach an den jeweiligen Nachfolger weitergeben. Lange bleiben sie nie; die Guten verschwinden genauso schnell wie die Schlechten.

Entweder hört Graham mich nicht, oder er ignoriert mich. Jedenfalls nimmt er mir die Schlüssel ab und erinnert mich daran, dass die neuen Mieter vom Churchill Place später noch kommen, um den Vertrag zu unterschreiben. Die Glocke über der Tür bimmelt, als er geht. Er vertraut Ronan nicht, das ist das Problem. Er traut keinem von uns, deshalb sitzt er nicht im Büro, wo er sein sollte, sondern ist draußen unterwegs, kontrolliert jeden und ist allen im Weg.

In der U-Bahn-Station Cannon Street wimmelt es von Anzugträgern. Ich bahne mir meinen Weg über den vollen Bahnsteig, bis ich fast am Tunnel bin. Im ersten Wagen ist es immer leerer als in den anderen, und so steige ich in Whitechapel direkt am Ausgang aus.

Im Zug greife ich nach der Gazette von heute, die jemand auf der schmierigen Kante hinter meinem Sitz liegen gelassen hat. Ich blättere gleich zu den letzten Seiten mit den Kleinanzeigen und finde die mit der ungültigen Telefonnummer: 02553463-2478-38-643. Heute ist die Frau dunkelhaarig, und am unteren Bildrand ist die Andeutung eines großen Busens zu sehen. Die Frau zeigt lächelnd ebenmäßige weiße Zähne. Am Hals trägt sie eine zarte Kette mit einem kleinen silbernen Kreuz.

Weiß sie, dass ihr Foto in den Kleinanzeigen ist?

Ich habe nichts mehr von PC Swift gehört und sage mir, dass das ein gutes, kein beunruhigendes Zeichen ist. Sie hätte mich sofort angerufen, wenn es Grund zur Sorge gäbe. Wie ein Arzt, der einen wegen besorgniserregender Testergebnisse anruft. Keine Nachrichten sind gute Nachrichten, heißt es nicht so? Simon hatte bestimmt recht. Das in der Zeitung war gar nicht mein Foto.

In Whitechapel steige ich in die S-Bahn nach Crystal Palace um. Beim Gehen höre ich Schritte hinter mir. Das ist nicht ungewöhnlich, denn in den Bahnhöfen sind überall Schritte zu hören. Sie hallen von den Wänden wider, verstärkt und gedehnt, bis es klingt, als würden Dutzende Menschen gehen, laufen, mit den Füßen stampfen.

Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass an diesen Schritten etwas anders ist.

Dass sie mir folgen.

Mit achtzehn Jahren, ich war noch nicht lange mit Justin schwanger, folgte mir jemand vom Einkaufen nach Hause. Die Schwangerschaft machte mich hypersensibel, und ich vermutete an jeder Ecke Gefahr. Das rissige Pflaster, das mich zum Stolpern brachte; der Radfahrer, der mich ganz sicher anfahren würde. Ich fühlte mich so für das Leben in mir verantwortlich, dass es mir unmöglich schien, die Straße zu überqueren, ohne es in Gefahr zu bringen.

Gegenüber Matts Mum hatte ich darauf bestanden, dass mir Bewegung guttun würde, und war Milch holen gegangen. Ich wollte mich wenigstens ein bisschen nützlich machen – als kleiner Dank dafür, dass sie mich aufgenommen hatte. Es war dunkel, und als ich wieder nach Hause ging, bemerkte ich, dass mir jemand folgte. Da war kein Geräusch, kein Gefühl, nur die Gewissheit, dass jemand hinter mir war, und, schlimmer noch, dass er sich bemühte, nicht gehört zu werden.

Dieselbe Gewissheit empfinde ich jetzt.

Damals war ich nicht sicher, was ich tun sollte. Ich wechselte die Straßenseite, und die Person hinter mir tat es ebenfalls. Da hörte ich die Schritte, die näher kamen und nicht mehr absichtlich leise waren. Ich drehte mich um und sah einen Mann – eher noch einen Jungen –, nicht viel älter als Matt. Kapuzenjacke, die Hände tief in den Taschen vergraben, mit einem Schal, der den unteren Teil des Gesichts verdeckte.

Es gab eine Abkürzung zu Matts Haus, einen schmalen Weg, der hinter einer Häuserreihe verlief, kaum mehr als eine Gasse. Das geht schneller, beschloss ich. Ich konnte nicht klar denken und wollte einfach nur schnell zu Hause sein.

Als ich um die Ecke war, lief ich los, und der Junge hinter mir lief auch. Ich ließ die Einkaufstasche fallen, sodass der Plastikdeckel der Milchtüte aufplatzte und sich eine riesige weiße Fontäne auf die Pflastersteine ergoss. Sekunden später fiel ich hin, landete auf den Knien und hielt schützend einen Arm vor meinen Bauch.

Es ging alles ganz schnell. Er beugte sich über mich, nur die Augen unverhüllt, und wühlte grob durch meine Taschen. Dann rannte er mit meinem Portemonnaie weg und ließ mich dort zurück.

Die Schritte kommen näher.

Ich beschleunige mein Tempo. Zwar zwinge ich mich, nicht zu laufen, gehe aber so schnell, wie ich kann. Mein unnatürlicher Gang ist nicht richtig ausbalanciert, sodass meine Tasche seitlich schwingt und an meine Hüfte schlägt.

Ein Stück vor mir ist eine Gruppe Mädchen, und ich versuche, sie einzuholen. Unter Leuten bist du sicherer, denke ich. Die Mädchen machen Quatsch, laufen, springen und lachen, aber sie sind nicht bedrohlich. Nicht so wie die Schritte hinter mir, die sich laut und schwer nähern.

»Hey!«, höre ich.

Eine scharfe, raue Männerstimme. Ich ziehe meine Tasche vor mich und halte einen Arm über sie, sodass sie nicht geöffnet werden kann. Dann bekomme ich Panik, dass ich umgerissen werde, wenn mein Verfolger an der Tasche zerrt. Ich denke an den Rat, den ich meinen Kindern immer wieder gebe, dass sie sich lieber ausrauben als verletzen lassen sollen. Gebt den Leuten, was sie wollen, sage ich immer. Nichts ist es wert, dafür verletzt zu werden.

Jetzt werden die Schritte schneller. Mein Verfolger läuft.

Ich laufe auch, doch meine Panik macht mich tollpatschig, und ich knicke mit dem Fuß um, falle beinahe hin. Dieselbe Stimme ruft wieder, aber mein Puls rauscht so laut in meinen Ohren, dass ich die Worte nicht verstehe. Ich höre nur die Schritte und meinen angestrengten Atem.

Mein Knöchel tut weh. Ich kann nicht laufen, also gebe ich es auf.

Ich gebe auf und drehe mich um.

Es ist ein Junge, neunzehn oder zwanzig, weiß mit Schlabberjeans und Turnschuhen, die auf dem Pflaster wummern.

Ich gebe ihm mein Telefon. Darauf hat er es sicher abgesehen. Und Bargeld. Habe ich Bargeld bei mir?

Ich will den Taschenriemen über meinen Kopf ziehen, aber er verhakt sich in meiner Kapuze. Der Junge ist fast bei mir, grinst, als würde er meine Angst und die Tatsache genießen, dass ich zu sehr zittere, um mich aus dem Lederriemen meiner Tasche zu befreien. Ich kneife die Augen zu. Tu es einfach. Was du auch vorhast, mach es einfach!

Seine Turnschuhe knallen aufs Pflaster, schneller, lauter, näher.

An mir vorbei.

Ich öffne die Augen.

»Hey!«, ruft er erneut im Laufen. »Schlampen!« Der Tunnel macht einen Schwenk nach links, und er verschwindet. Das Echo seiner Schritte klingt, als käme er immer noch auf mich zu. Ich zittere weiter, denn mein Körper kann nicht gleich verarbeiten, dass das befürchtete Ereignis nicht eingetreten ist.

Ich höre Rufen. Mit pochendem Knöchel gehe ich weiter. Hinter der Biegung sehe ich ihn wieder. Er ist bei der Mädchengruppe, hat den Arm um eines von ihnen gelegt, und die anderen grinsen. Sie reden alle durcheinander. Ein aufgeregtes Plappern, das zu einem Crescendo hyänenhaften Lachens anschwillt.

Ich werde langsamer. Wegen meines Knöchels und weil ich – obwohl ich erkenne, dass keine Gefahr besteht – nicht an dieser Gang von Jugendlichen vorbeigehen will. Ihretwegen komme ich mir bescheuert vor.

Nicht jeder Schritt folgt dir, sage ich mir. Nicht jeder, der läuft, jagt dich.

Als ich in Crystal Palace aussteige, spricht Megan mich an, doch ich reagiere nicht gleich. Ich bin heilfroh, draußen an der Luft zu sein, und wütend auf mich, weil ich wegen nichts ausgeflippt bin. »Entschuldige«, sage ich. »Was hast du gesagt?«

»Ich sagte nur, dass du hoffentlich einen schönen Tag hattest.« Nicht mal ein Dutzend Münzen liegt in ihrem offenen Gitarrenkoffer. Sie hat mir mal erzählt, dass sie die Pfund- und Fünfzig-Pence-Münzen über den Tag immer wieder herausnimmt.

»Die Leute geben mir nichts mehr, wenn sie denken, dass ich genug bekomme«, hat sie erklärt.

»Ganz okay, danke«, antworte ich ihr jetzt. »Bis morgen.«

»Ich werde hier sein!«, sagt sie. Ich finde ihre Verlässlichkeit wohltuend.

Am Ende der Anerley Road gehe ich an unserer offenen Pforte vorbei und durch Melissas. Bevor ich noch klingeln kann, öffnet sich die Haustür, denn ich hatte Melissa auf dem Weg von der Bahn geschrieben.

Zeit für einen Tee?

»Der Wasserkocher ist an«, sagt sie, sobald sie mich sieht.

Auf den ersten Blick ist Melissas und Neils Haus wie meines: die kleine Diele mit der Tür zum Wohnzimmer auf einer Seite, die Treppe gegenüber. Aber da hören die Ähnlichkeiten auch schon auf. Hinten, wo bei mir eine winzige Küche ist, ist hier ein großer offener Anbau zur Seite und zum Garten. Zwei riesige Oberlichter lassen Licht hereinfluten, und doppelte Falttüren verlaufen über die gesamte Hausbreite.

Ich folge Melissa in die Küche, wo Neil am Frühstückstresen sitzt, einen aufgeklappten Laptop vor sich. Melissas Schreibtisch steht am Fenster, und obwohl Neil ein Arbeitszimmer oben hat, ist er oft hier unten bei ihr, wenn er nicht außer Haus arbeitet.

»Hi, Neil.«

»Hey, Zoe. Wie geht’s?«

»Nicht schlecht.« Ich zögere, weil ich nicht sicher bin, ob ich das mit den Fotos in der Gazette erzählen soll. Ich weiß nicht mal, wie ich es erklären kann. Aber vielleicht hilft es, darüber zu reden. »Allerdings ist etwas Komisches passiert. Ich habe ein Foto in der London Gazette gesehen, und die Frau sah aus wie ich.« Ich lache kurz, aber Melissa unterbricht das Teekochen und sieht mich aufmerksam an. Wir kennen uns zu gut, als dass ich irgendwas vor ihr verbergen könnte.

»Alles in Ordnung?«

»Mir geht es gut. Es war ja bloß ein Foto, sonst nichts. Eine Anzeige für eine Dating-Website oder so. Nur mit meinem Bild, oder zumindest dachte ich das.« Neil sieht verwirrt aus, was ich ihm nicht verdenken kann. Schließlich rede ich wirres Zeug. Ich denke an den Jugendlichen in dem U-Bahn-Tunnel, der seine Freunde einholen wollte, und bin froh, dass keiner meine lächerliche Überreaktion gesehen hat. Habe ich eine Art Midlife-Crisis, oder bekomme ich Panikattacken wegen eingebildeter Gefahren?

»Wann war das?«, fragt Neil.

»Freitagabend.« Ich sehe mich in der Küche um, aber natürlich liegt hier nirgends eine Gazette. Bei mir zu Hause ist die Altpapierkiste dauernd voller Zeitungen und Kartons, aber Melissas Altpapier steht nicht offen herum und wird regelmäßig weggebracht. »Es war in den Kleinanzeigen. Nur eine Telefonnummer, eine Webadresse und das Foto.«

»Ein Foto von dir«, sagt Melissa.

Ich zögere wieder. »Na ja, von jemandem, der aussieht wie ich. Simon sagt, dass ich wahrscheinlich eine Doppelgängerin habe.«

Neil lacht. »Aber du würdest doch wohl erkennen, wenn du es bist, oder?«

Ich setze mich zu ihm an den Frühstückstresen, und er klappt seinen Laptop zu und rückt ihn zur Seite, damit er nicht im Weg ist. »Das sollte man meinen, oder? Als ich das Foto in der U-Bahn sah, war ich überzeugt, dass ich das bin. Aber bis ich zu Hause ankam und es den anderen zeigte, war ich mir nicht mehr so sicher. Ich meine, warum sollte da ein Bild von mir sein?«

»Hast du die Nummer angerufen?«, fragt Melissa. Sie lehnt uns gegenüber an der Kücheninsel und hat den Tee völlig vergessen.

»Die ist nicht in Betrieb, genau wie die Website. Die heißt irgendwas wie ›findtheone.com‹, aber da erscheint nur ein leerer Bildschirm mit einem weißen Kasten in der Mitte.«

»Soll ich mir das mal ansehen?«

Neil macht etwas mit IT. Was genau, weiß ich nicht, obwohl er es mir schon mal sehr ausführlich erklärt hat. Ich schäme mich ein bisschen, weil ich es wieder vergessen habe.

»Nein, ist schon gut, ehrlich. Du hast sicher Wichtigeres zu erledigen.«

»Und wie«, bestätigt Melissa. »Morgen ist er in Cardiff und dann den Rest der Woche im Parlament. Ich kann von Glück reden, wenn wir uns einmal die Woche sehen.«

»Im Parlament? Wow! Wie ist es da?«

»Langweilig.« Neil grinst. »Auf jeden Fall in dem Teil, in dem ich bin. Ich richte ihnen eine neue Firewall ein, also werde ich eher nicht mit Politikern zu tun haben.«

»Sind deine Unterlagen für Oktober fertig?«, frage ich Melissa, denn plötzlich fällt mir wieder ein, warum ich bei ihr vorbeikommen wollte. Sie nickt.

»Auf dem Schreibtisch, gleich obenauf in dem orangenen Ordner.«

Melissas Schreibtisch ist glänzend weiß wie alles in der Küche. Ein riesiger iMac dominiert die Fläche, und auf einem Regal an der Wand sind die Akten für die Cafés. Auf dem Schreibtisch steht ein Stifthalter, den Katie im Werkunterricht in der Schule gemacht hat.

»Ich fasse nicht, dass du den immer noch hast.«

»Ja, selbstverständlich! Ich fand es so süß, dass sie mir den gebastelt hat.«

»Dafür hat sie eine Zwei bekommen«, erinnere ich mich. Als wir neben Melissa und Neil einzogen, waren wir schrecklich knapp bei Kasse. Ich hätte mehr bei Tesco arbeiten können, aber weil die Kinder um drei aus der Schule kamen, ging das schlicht nicht. Bis Melissa einsprang. Zu der Zeit hatte sie nur das eine Café, und das schloss sie nach dem Mittagsgeschäft. Sie holte die Kinder für mich von der Schule ab, nahm sie mit zu sich nach Hause, wo sie fernsahen, während Melissa die Bestellungen für den nächsten Tag machte. Melissa backte mit Katie, Neil zeigte Justin, wie man den Speicherplatz auf einem Mainboard vergrößerte, und ich konnte meine Hypothekenraten bezahlen.

Ich finde ein Bündel Quittungen oben in dem orangenen Ordner, darunter eine gefaltete U-Bahn-Karte und einen Notizblock voller kleiner Zettel, Post-its, mit Melissas sauberer Handschrift.

»Noch mehr Pläne für die Weltherrschaft?«, scherze ich und zeige zum Notizblock. Dabei bemerke ich, wie Neil und Melissa einen Blick wechseln. »Oh, tut mir leid. Nicht witzig?«

»Es ist wegen des neuen Cafés. Neil ist nicht ganz so euphorisch wie ich.«

»Ich habe nichts gegen das Café«, widerspricht Neil. »Aber ich bin nicht begeistert davon, pleite zu sein.«

Melissa verdreht die Augen. »Du bist so risikoscheu.«

»Hört mal, ich lasse den Tee vielleicht ausfallen«, sage ich und greife nach Melissas Unterlagen.

»Nein, bleib!«, erwidert Melissa. »Wir fangen jetzt keinen Ehekrach an, versprochen.«

Ich lache. »Nein, das ist es nicht.« Ist es doch ein bisschen. »Simon will mich heute Abend zum Essen einladen.«

»An einem Wochentag? Was ist der Anlass?«

»Es gibt keinen«, antworte ich grinsend. »Nur ein bisschen Montagabend-Romantik.«

»Ihr zwei seid wie die Teenager.«

»Sie sind noch frisch verliebt«, sagt Neil. »Wir waren auch mal so.« Er zwinkert Melissa zu.

»Ach ja?«

»Warte, bis sie das verflixte siebte Jahr erwischt, Mel. Dann sehen sie im Bett fern und zanken sich, wer die Zahnpastatube offen gelassen hat.«

»Oh, das tun wir schon«, sage ich lachend. »Bis dann.«

Die Haustür ist nicht verschlossen, als ich nach Hause komme, und Simons Jacke hängt unten über dem Treppengeländer. Ich gehe nach oben zum ausgebauten Dachboden und klopfe an die Tür. »Was machst du so früh schon zu Hause?«

»Hey, Schönheit, ich habe dich gar nicht kommen gehört. Wie war dein Tag? Ich konnte mich in der Redaktion nicht konzentrieren, also habe ich mir Arbeit mit nach Hause genommen.« Er steht auf, um mich zu küssen, wobei er achtgibt, sich den Kopf nicht an dem niedrigen Deckenbalken zu stoßen. Den Umbau haben die vorherigen Hausbesitzer gemacht und billig gehalten; sie ließen die ursprünglichen Dachbalken drin, sodass der Raum zwar groß ist, man aber nur in der Mitte aufrecht stehen kann.

Ich sehe zu dem Stapel Papiere, der mir am nächsten ist. Es ist eine getippte Liste mit Namen, unter denen jeweils eine Kurzbio steht.

»Interviews, die ich für einen Beitrag führen muss«, erklärt Simon, rafft die Papiere zusammen und hebt sie auf die andere Seite, damit ich mich auf die Schreibtischkante setzen kann. »Es ist ein Albtraum, die Leute zu erwischen.«

»Mir ist schleierhaft, wie du hier irgendwas findest.« Meine Schubladen bei der Arbeit mögen chaotisch sein, aber die Schreibtischplatte ist fast leer. Ein Foto von den Kindern und eine Grünpflanze stehen neben meinen Eingangskörben, und ich sorge immer dafür, dass alles andere weggeräumt ist, bevor ich gehe. Jeden Tag mache ich vor Feierabend eine Liste, was ich am nächsten Tag erledigen muss; auf der stehen auch Dinge, die ich quasi auf Autopilot tue, wenn ich zur Arbeit komme – die Post öffnen, die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abhören, Tee kochen.

»Geordnetes Chaos.« Er setzt sich auf den Drehstuhl am Schreibtisch und klopft auf sein Knie. Lachend setze ich mich auf seinen Schoß und lege einen Arm um ihn, damit ich nicht zur Seite kippe. Ich küsse ihn und lehne mich entspannt an ihn, bevor ich mich widerwillig von ihm löse.

»Ich habe einen Tisch im Bella Donna reserviert.«

»Fantastisch.«

Ich bin keine anspruchsvolle Frau, verschwende kein Geld für Kleidung und Make-up, und wenn die Kinder sich an meinen Geburtstag erinnern, genügt mir das schon vollkommen. Matt war nie der Herzchen- und Blumentyp, nicht mal, als wir jung waren, und dasselbe galt für mich. Simon lacht über meine zynische Einstellung und sagt, dass er nach und nach meine weichere Seite hervorkitzelt. Er verwöhnt mich, und mir gefällt es. Nach all den Jahren, in denen ich kämpfen musste, um Essen auf den Tisch zu bringen, kommt mir ein Restaurantbesuch immer noch wie purer Luxus vor, aber das Schönste daran ist die gemeinsame Zeit. Nur wir beide.

Ich dusche und wasche mir die Haare, sprühe mir Parfum auf die Handgelenke und reibe sie zusammen, sodass der Duft die Luft um mich herum erfüllt. Dann ziehe ich ein Kleid an, das ich schon länger nicht mehr getragen habe, und freue mich, dass es noch passt. Dazu ziehe ich ein Paar schwarze Wildleder-Pumps aus dem Schuhgewirr unten in meinem Schrank. Als Simon einzog, habe ich meine Sachen zusammengequetscht, um Platz für seine zu machen, trotzdem muss er bis heute einiges oben unterm Dach lagern. Das Haus hat drei Schlafzimmer, nur sind die alle winzig. In Justins steht ein Einzelbett, und in Katies Zimmer nimmt das Doppelbett so viel Platz ein, dass man kaum noch daran vorbeikommt.

Simon wartet im Wohnzimmer auf mich. Er trägt ein Jackett und eine Krawatte und sieht genauso aus wie an dem Tag, als ich ihn zum ersten Mal bei Hallow & Reed sah. Ich erinnere mich, dass er mein höfliches Lächeln sehr viel warmherziger erwiderte.

»Ich komme vom Telegraph«, sagte er. »Wir machen einen Beitrag über die steigenden Gewerbemieten, Einzelhändler und kleine Firmen, die durch die hohen Mieten aus den Bestlagen vertrieben werden, solche Sachen. Es wäre großartig, wenn Sie mir erzählen könnten, welche Gewerbeimmobilien Sie zurzeit anbieten.«

Er sah mir in die Augen, und ich verbarg mein Erröten im Aktenschrank, während ich mir mehr Zeit als nötig ließ, um die rund ein Dutzend Angebote zu finden.

»Dieses hier könnte interessant für Sie sein.« Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und hielt ein Blatt Papier zwischen uns. »Früher war dort ein kleiner Geschenkartikelladen, aber die Miete wurde erhöht, und nun steht der Laden seit sechs Monaten leer. Nächsten Monat zieht die British Heart Foundation ein.«

»Könnte ich mit dem Vermieter reden?«

»Dessen Kontaktdaten darf ich Ihnen nicht geben. Aber sagen Sie mir Ihre Nummer, und ich gebe sie an ihn weiter.« Wieder spürte ich, wie mir die Röte in die Wangen stieg, obwohl der Vorschlag vollkommen harmlos war. Zwischen uns lag ein Knistern in der Luft, und ich war sicher, dass ich es mir nicht nur einbildete.

Simon schrieb seine Telefonnummer auf, wobei er die Augen ein wenig zusammenkniff. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, ob er normalerweise eine Brille trug und sie aus Eitelkeit oder Vergesslichkeit nicht dabeihatte; da wusste ich ja noch nicht, dass er das immer tat, wenn er sich konzentrierte. Er hatte graues Haar, allerdings nicht ganz so dünn wie heute, vier Jahre später. Er war groß und schlank, sodass er leicht auf den schmalen Stuhl neben meinem Schreibtisch passte, die Beine lässig an den Knöcheln überkreuzt. Unten an den Ärmeln seines dunkelblauen Anzugs blitzten silberne Manschettenknöpfe hervor.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Er schien es nicht eilig zu haben, wieder zu gehen, und ich wollte auch nicht, dass er ging.

»Ganz und gar nicht. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.«

»Nun«, sagte er und sah mich an. »Sie haben meine Nummer … dürfte ich Ihre haben?«

In der Anerley Road winken wir ein Taxi heran, obwohl es nicht weit ist, und ich bemerke den flüchtigen Ausdruck von Erleichterung in Simons Gesicht, als das Taxi anhält und er das Gesicht des Fahrers sieht. Einmal, als wir uns noch nicht lange kannten, sprangen wir in ein Taxi, weil es draußen schüttete und wir uns die Mäntel über die Köpfe hielten. Erst als wir aufblickten, bemerkten wir Matts Gesicht im Rückspiegel. Für einen Moment dachte ich, dass Simon darauf bestehen würde, wieder auszusteigen, aber er blickte stattdessen starr aus dem Seitenfenster. Wir verbrachten die Fahrt schweigend. Nicht mal Matt, der sonst wirklich jedem ein Ohr abkauen konnte, versuchte Smalltalk zu machen.

In dem Restaurant waren wir schon einige Male, und der Besitzer begrüßt uns mit Namen, als wir hereinkommen. Er führt uns zu einer Fensternische und gibt jedem von uns eine Speisekarte, die wir schon auswendig kennen. Dicke Lametta-Strähnen sind an den Bilderrahmen und den Lampen drapiert.

Wir bestellen das Gleiche wie immer – Pizza für Simon, Pasta mit Meeresfrüchten für mich –, und das Essen kommt zu schnell, als dass es frisch zubereitet sein kann.

»Ich habe mir heute Morgen die Kleinanzeigen in der Gazette angesehen. Graham hatte einen ganzen Stapel in seinem Büro.«

»Sie haben dich nicht auf Seite drei befördert, oder?« Er schneidet in seine Pizza, und ein bisschen Öl rinnt von dem Belag auf den Teller.

Ich lache. »Dafür dürfte ich wohl kaum die nötigen Vorzüge mitbringen. Nein, die Sache ist die, dass ich die Frau in der Anzeige erkannt habe.«

»Sie erkannt? Heißt das, du kennst sie?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich habe nur ihr Foto in einer anderen Zeitung gesehen. Sie war in einem Artikel über U-Bahn-Kriminalität. Das habe ich der Polizei gesagt.« Auch wenn ich mich bemühe, es nicht zu dramatisieren, kippt meine Stimme. »Ich habe Angst, Simon. Was ist, wenn das auf dem Foto am Freitag wirklich ich war?«

»Du warst es wirklich nicht, Zoe.« Simon sieht besorgt aus, allerdings nicht, weil jemand mein Foto in die Zeitung gesetzt hat, sondern weil ich es glaube.

»Ich bilde mir das nicht ein.«

»Bist du gestresst? Ist es Graham?«

Er denkt, dass ich verrückt werde, und allmählich fange ich an, ihm zu glauben.

»Die Frau auf dem Bild sah aber wirklich wie ich aus«, sage ich leise.

»Ich weiß.« Er legt sein Besteck hin. »Na gut, sagen wir, das warst du auf dem Foto.«

So geht Simon Probleme an; er reduziert sie, bis nur noch der eigentliche Kern übrig ist. Vor ein paar Jahren gab es einen Einbruch in unserer Straße. Katie war überzeugt, dass sie als Nächstes bei uns einbrechen würden, und konnte nicht mehr schlafen. Und wenn sie einschlief, hatte sie Albträume, wachte schreiend auf und war sicher, dass jemand in ihrem Zimmer war. Ich wusste nicht mehr weiter. Alles hatte ich probiert, sogar bei ihr zu sitzen, bis sie einschlief, als wäre sie wieder ein Kleinkind. Simon wählte einen praktischeren Ansatz. Er fuhr mit ihr zum Baumarkt, wo sie Fensterschlösser, eine Alarmanlage und einen zusätzlichen Riegel für die Gartenpforte kauften. Gemeinsam brachten sie die Sicherungen überall am Haus an. Die Albträume hörten sofort auf.

»Okay«, sage ich. Das Spiel macht mich merkwürdigerweise zuversichtlicher. »Sagen wir, es war wirklich ein Foto von mir.«

»Woher ist es?«

»Weiß ich nicht. Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit.«

»Du würdest es doch merken, wenn dich jemand einfach so fotografiert, oder?«

»Vielleicht hat derjenige ein Teleobjektiv benutzt«, sage ich, und mir wird bewusst, wie lachhaft das klingt. Was kommt als Nächstes? Paparazzi vor dem Haus? Mopeds, die an mir vorbeirasen und auf denen sich ein Fotograf weit zur Seite lehnt, um das perfekte Bild für irgendein Revolverblatt zu kriegen? Simon lacht nicht, doch als ich mit einem verlegenen Grinsen andeute, wie absurd ich diese Idee finde, lächelt er.

»Jemand könnte es gestohlen haben«, sagt er ernster.

»Kann sein.« Das kommt mir nicht sehr wahrscheinlich vor.

»Okay, also nehmen wir an, jemand hat dein Foto benutzt, um für seine Firma zu werben.« So über die Anzeige zu reden, ganz vernünftig und sachlich, beruhigt mich, und genau das war Simons Absicht. »Das wäre Identitätsdiebstahl, richtig?«

Ich nicke. Dem Ganzen einen Namen zu geben – noch dazu solch einen vertrauten – macht es unpersönlicher. Bei Hallow & Reed müssen wir so vorsichtig sein, überprüfen alle Dokumente doppelt und akzeptieren nur Originale oder beglaubigte Kopien. Es ist beängstigend leicht, das Foto eines anderen zu nehmen und es als das eigene auszugeben.

Simon bleibt beim Thema. »Bedenke mal Folgendes: Könnte es dir tatsächlich schaden? Mehr als, sagen wir mal, wenn jemand in deinem Namen ein Konto eröffnen oder deine Bankkarte kopieren würde?«

»Es ist unheimlicher.«

Simon greift über den Tisch und legt seine Hände auf meine. »Erinnerst du dich, wie Katie in der Schule dieses Problem mit der Mädchengang hatte?« Ich nicke. Allein bei dem Gedanken werde ich schon wieder wütend. Katie war fünfzehn und wurde von drei Mädchen aus ihrem Jahrgang gemobbt. Sie legten einen Instagram-Account in ihrem Namen an, stellten Fotos von Katies Kopf ein, den sie per Photoshop in diverse Bilder montierten – nackte Frauen, nackte Männer, Comicfiguren. Es war kindischer, blödsinniger Kram, der schon vor Schuljahresende wieder aufhörte, dennoch war Katie verzweifelt.

»Was hast du ihr da gesagt?«

Schall und Rauch, hatte ich zu Katie gesagt. Ignorier die einfach. Sie können dir nichts tun.

»Ich würde sagen«, fährt Simon fort, »dass es zwei Möglichkeiten gibt. Entweder war das ein Foto von einer Frau, die dir sehr ähnlich sieht, auch wenn sie nicht annähernd so hübsch ist« – Ich grinse, obwohl das ein kitschiges Kompliment ist –, »oder es ist Identitätsdiebstahl, der zwar ärgerlich ist, aber dir nichts anhaben kann.«

Dagegen fällt mir kein schlüssiges Argument ein. Dann denke ich an Cathy Tanning, und ich ziehe sie wie ein Ass aus dem Ärmel. »Der Frau aus dem Zeitungsartikel wurden in der U-Bahn die Hausschlüssel gestohlen.«

Simon wartet auf eine Erklärung, und er sieht verwirrt aus.

»Das passierte gleich nachdem ihr Bild in der Anzeige auftauchte. Wie das Foto von mir.« Ich korrigiere mich: »Das Foto, das aussieht wie eins von mir.«

»Zufall! Wie viele Leute kennen wir, die in der U-Bahn schon Opfer von Taschendieben geworden sind? Mir ist das auch passiert. Das kommt täglich vor, Zoe.«

»Ja, vermutlich.« Ich weiß, was Simon denkt. Er will Beweise. Er ist Journalist und beschäftigt sich mit Fakten, nicht mit Mutmaßungen und Paranoia.

»Denkst du, die Zeitung würde da nachforschen?«

»Welche Zeitung?« Dann sieht er meinen Gesichtsausdruck. »Meine Zeitung? Der Telegraph? Oh nein, Zoe, das denke ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil es im Grunde keine Story ist. Ich meine, mir ist klar, dass du dich sorgst, und es ist schon eine seltsame Geschichte, aber sie ist nicht nachrichtenwürdig, falls du verstehst. Identitätsdiebstahl ist inzwischen ein alter Hut, um ehrlich zu sein.«

»Du könntest es aber aufgreifen, oder? Herausfinden, wer dahintersteckt?«

»Nein.« Sein strenger Ton beendet die Unterhaltung, und ich wünschte, ich hätte das Thema nie angesprochen. Ich habe die ganze Sache hoffnungslos aufgeblasen und mich selbst dabei halb in den Wahnsinn getrieben. Ich esse ein Stück Knoblauchbrot und schenke mir Wein nach – offenbar habe ich das erste Glas ausgetrunken, ohne es zu merken. Vielleicht sollte ich etwas gegen meine geringe Belastbarkeit tun. Achtsamkeit. Yoga. Ich werde neurotisch, und das Letzte, was ich will, ist, dass meine Beziehung zu Simon beeinträchtigt wird.

»Hat Katie dir von ihrem Vorsprechen erzählt?«, fragt Simon. Ich bin froh, dass er das Thema wechselt, und seinem sanften Tonfall nach nimmt er mir meinen Verfolgungswahn nicht übel.

»Sie hat nicht auf meine Nachrichten reagiert. Ich habe heute Morgen was Blödes gesagt.«

Simon sieht mich fragend an, doch ich gehe nicht näher darauf ein.

»Wann hast du mit ihr geredet?«, frage ich und bemühe mich, nicht verbittert zu klingen. Katies Schweigen ist ganz allein meine Schuld.

»Sie hat mir geschrieben.« Jetzt habe ich ihn in Verlegenheit gebracht, und das muss ich sofort abstellen.

»Ist doch klasse, dass sie es dir erzählen wollte. Ehrlich, ich finde das gut.« Und das meine ich ernst. Bevor Simon einzog, als es zwischen uns schon ernst war, habe ich versucht, ihn immer mal wieder mit den Kindern allein zu lassen. Ich gab vor, irgendwas oben vergessen zu haben, oder ging zur Toilette, obwohl ich nicht musste – immer in der Hoffnung, dass sie alle sich nett unterhalten würden, wenn ich zurückkam. Mich kränkt, dass Katie mir nicht geschrieben hat, aber ich bin froh, dass sie es Simon erzählen wollte.

»Und wie sieht es aus?«

»Viel weiß ich nicht. Die Agentur hat nicht angeboten, sie zu vertreten, aber sie konnte einen nützlichen Kontakt knüpfen. Wie es sich anhört, könnte eine Rolle dabei herausspringen.«

»Das ist großartig!« Ich möchte mein Telefon hervorholen und Katie schreiben, wie stolz ich auf sie bin, zwinge mich aber, noch zu warten. Lieber möchte ich ihr persönlich gratulieren. Also erzähle ich Simon stattdessen von Melissas neuem Café und Neils Vertrag mit dem Parlament. Bis die Nachspeise serviert wird, sind wir schon bei der zweiten Flasche Wein, und ich kichere über Simons Geschichten aus seiner Anfangszeit als Reporter.

Simon bezahlt und gibt ein großzügiges Trinkgeld. Draußen will er wieder ein Taxi heranwinken, doch ich bremse ihn.

»Lass uns zu Fuß gehen.«

»Es kostet keine zehn Pfund.«

»Ich möchte aber gerne gehen.«

Wir gehen los, ich bei Simon eingehakt. Die Taxikosten interessieren mich nicht, aber ich möchte den Abend ein wenig verlängern. An der Kreuzung küsst er mich, und es wird zu einem Kuss, bei dem wir beide nicht beachten, dass das grüne Männchen aufleuchtet und wieder erlischt, sodass wir erneut den Knopf drücken müssen.

Mein Kater weckt mich um sechs Uhr morgens. Ich gehe nach unten, um die Kopfschmerzen mit Wasser und Aspirin zu bekämpfen, und schalte Sky News an, während ich ein Glas aus dem Wasserhahn fülle und gierig trinke. Ich stürze direkt ein zweites Glas herunter und halte mich seitlich an der Spüle fest, weil ich das Gefühl habe zu schwanken. Unter der Woche trinke ich selten Alkohol, und jetzt werde ich auch wieder an den Grund erinnert.

Katies Handtasche liegt auf dem Tisch. Sie war schon im Bett, als Simon und ich gestern Abend nach Hause kamen. Wir mussten beide kichern, weil wir versuchten, die Kinder nicht zu wecken. Neben dem Wasserkocher liegt ein gefaltetes Blatt, auf dem außen »Mum« steht. Ich falte es auseinander. Vor Kopfschmerzen muss ich beim Lesen blinzeln.

Mein erster Job! Kann es nicht erwarten, dir alles zu erzählen. Hab dich lieb xxx

Trotz der Übelkeit lächle ich. Sie hat mir vergeben, und ich nehme mir vor, besonders begeistert zu sein, wenn sie mir alles erzählt. Keine Silbe vom Sekretärinnenkurs oder einer Ausbildung als Rückhalt! Ich frage mich, was für ein Job es ist, ob eine Statistenrolle oder eine richtige. Theater, vermute ich, auch wenn ich mir für einen Augenblick erlaube, von einer Rolle im Fernsehen zu träumen. Einer Rolle in irgendeiner richtig lange laufenden Soap, die jeder kennt.

Die Sky-News-Reporterin, Rachel Lovelock, berichtet von einem Mord: ein weibliches Opfer in Muswell Hill. Vielleicht könnte Katie Moderatorin sein, denke ich. Das Aussehen hat sie jedenfalls. Sie würde sicher nicht Nachrichten sprechen wollen, aber bei einem Musikkanal vielleicht oder einem dieser Magazinformate wie Loose Women oder The One Show. Ich fülle mir noch ein Glas Wasser ein und lehne mich an die Küchenschränke, um weiter fernzusehen.

Die Bilder wechseln zu Außenaufnahmen; Rachel Lovelock wird von einer Frau in einem dicken Mantel ersetzt, die ernst ins Mikro spricht. Während sie redet, wird ein Foto des Mordopfers eingeblendet. Ihr Name war Tania Beckett, und sie sieht nicht viel älter als Katie aus, obwohl es heißt, dass sie fünfundzwanzig war. Ihr Freund hat die Polizei alarmiert, als sie nach der Arbeit nicht nach Hause kam, und sie wurde spätabends in einem Park gefunden, keine hundert Meter von ihrem Zuhause entfernt.

Vielleicht liegt es an dem Kater und der Tatsache, dass ich noch halb schlafe, aber ich sehe das Foto auf dem Bildschirm eine geschlagene Minute an, ehe ich begreife. Ich sehe das dunkle Haar, das lächelnde Gesicht, die üppige Figur … und die Halskette mit dem schimmernden silbernen Kreuz.

Dann schnappe ich nach Luft.

Es ist die Frau aus der gestrigen Anzeige.