14

Vierundzwanzig Stunden bleibe ich im Bett und schlafe viel zwischen kurzen Wachphasen. Am Mittwochnachmittag quäle ich mich zum Arzt, um dort zu erfahren, was ich bereits weiß: Ich habe die Grippe und kann nichts tun, außer Wasser zu trinken, rezeptfreie Mittel zur Linderung der Beschwerden zu nehmen und zu warten, dass es vorübergeht. Simon ist fantastisch. Er kocht für die Kinder, bringt mir Essen, das ich nicht anrühre, und geht Eis kaufen, als ich beschließe, dass es das Einzige ist, was ich überhaupt schlucken kann. Er wäre ein guter werdender Vater, denke ich, als ich mich an meine Schwangerschaft mit Justin erinnere. Damals scheuchte ich einen mürrischen Matt raus in den Schnee, um mir Nachos und Weingummi zu besorgen.

Ich rufe im Büro an und sage Graham, dass ich im Bett bleiben muss. Er ist verblüffend mitfühlend, bis ich ihm erzähle, dass ich die ganze Woche krankgeschrieben bin.

»Können Sie nicht wenigstens morgen kommen? Jo hat frei, und ich brauche hier jemanden am Telefon.«

»Ich versuche es«, sage ich. Am nächsten Morgen schicke ich ihm eine Nachricht. »Tut mir leid, immer noch nicht besser.« Dann schalte ich mein Telefon ab. Es ist Mittag, bevor ich mir zutraue, etwas zu essen. Melissa bringt mir Hühnersuppe aus dem Café, und kaum fange ich zu löffeln an, stelle ich fest, dass ich vollkommen ausgehungert bin.

»Die ist köstlich.« Wir sitzen in meiner Küche an dem winzigen Tisch, der nur für zwei Leute reicht. »Entschuldige die Unordnung.« Der Geschirrspüler muss dringend ausgeräumt werden, was alle anderen bisher ignoriert haben, um stattdessen ihr schmutziges Frühstücksgeschirr in der Spüle zu stapeln. Ein Haufen leerer Verpackungen um den Mülleimer herum sagt mir, dass der gleichfalls voll ist. An dem Kühlschrank sind lauter Familienfotos mit Magneten befestigt, die wir traditionell auf Reisen kaufen; es ist ein fortlaufender Wettbewerb um das kitschigste Souvenir. Derzeit liegt Katie mit einem nickenden Esel aus Benidorm vorne, dessen Sombrero jedes Mal wippt, wenn jemand die Kühlschranktür öffnet.

»Ich finde es gemütlich«, sagt Melissa und lacht, als sie meinen ungläubigen Blick sieht. »Im Ernst! Hier wirkt alles warm und voller Liebe und gemeinsamer Erinnerungen – genau so, wie es bei einer Familie zu Hause sein soll.« Ich suche nach einer Andeutung von Bedauern, kann aber keine erkennen.

Melissa war vierzig, als wir uns kennenlernten – immer noch jung genug, um eine Familie zu gründen –, und ich habe sie damals gefragt, ob Neil und sie Kinder planen würden.

»Kann er nicht.« Sie korrigierte sich sofort. »Nein, das ist unfair. Wir können keine bekommen.«

»Das muss hart sein.« Ich war schon so lange Mutter, dass ich mir ein Leben ohne Kinder gar nicht vorstellen konnte.

»Eigentlich nicht. Ich habe es ja immer gewusst. Neil hatte als Kind Leukämie, und durch die Chemo wurde er steril. Also war das in unserem gemeinsamen Leben nie ein Thema. Wir haben andere Dinge gemacht, hatten andere Projekte.« Arbeiten, vermutete ich. Das Geschäft, Urlaubsreisen, ein schönes Haus.

»Für Neil war es schlimmer als für mich«, sagte sie. »Früher hat es ihn regelrecht wütend gemacht – Warum ich? und so –, aber heute denken wir kaum noch daran.«

»Wohingegen ich sehr gerne so ein Haus wie eures hätte«, sage ich jetzt. »Nur saubere Flächen und weit und breit keine dreckige Socke in Sicht!«

Sie grinst. »Tja, die Kirschen in Nachbars Garten, nicht wahr? Nicht mehr lange, dann sind Katie und Justin weg, und du putzt in einem leeren Haus herum und wünschst dir, sie wären noch hier.«

»Kann sein. Ah, dabei fällt mir ein, was hast du bloß mit meinem Sohn angestellt?«

Melissa sieht prompt besorgt aus, und ich bereue, einen Scherz versucht zu haben. Deshalb erkläre ich hastig: »Er hat mir am Dienstag Geld für die Miete gegeben, ohne dass ich darum gebeten habe. Wie er sagt, hast du ihn befördert.«

»Ah, das meinst du! Er hat es verdient. Justin leistet tolle Arbeit, und ich brauche einen Manager. Es klappt bestens.«

Dennoch belastet sie etwas. Ich sehe sie an, bis sie den Blick abwendet und durchs Fenster in den ungepflegten Garten sieht.

»Die Gehaltserhöhung«, sagt sie schließlich und dreht den Kopf wieder zu mir. »Die zahle ich bar auf die Hand.« Ich sehe sie verwundert an. Ich bin ihre Freundin, aber ich bin auch Buchhalterin. Vermutlich hätte sie mir gar nichts gesagt, hätte ich nicht Justins Gehaltserhöhung angesprochen.

»Wenn Kunden bar zahlen, wandert das nicht immer durch die Bücher. Ich behalte einen Teil als Notgroschen ein. Der deckt hier und da mal Rechnungen, ohne dass ich zu viel Geld aus dem Geschäft ziehen muss.«

»Verstehe.« Wahrscheinlich sollte ich mit meinem Gewissen ringen, jetzt zum Beispiel, aber so wie ich es sehe, schadet sie damit niemandem. Sie ist kein weltweit agierender Großhändler, der mittels Offshore-Konten Gewerbesteuern umgeht, sondern eine kleine Geschäftsfrau, die sich ebenso abmüht, ihre Brötchen zu verdienen, wie wir anderen auch.

»Übrigens mache ich das nicht aus purem Eigennutz.« Ich sehe ihr an, dass sie bereut, es mir erzählt zu haben. Und jetzt fürchtet sie, dass ich sie deshalb verurteile. »Es bedeutet auch für Justin, dass er nicht gleich über die Hälfte an das Finanzamt verliert. Er kann anfangen, sich etwas beiseitezulegen.«

Mich rührt, dass sie das bedacht hat. »Dann habe ich dir zu verdanken, dass er mir etwas von seiner Gehaltserhöhung als Miete weitergibt?«

»Es kann sein, dass wir das mal kurz angesprochen haben …« Sie blickt so unschuldig drein, dass ich lachen muss.

»Ah, vielen Dank! Mich freut, dass er endlich ein bisschen erwachsen wird. Hast du Angst, dich könnte jemand bei der Steuerbehörde anschwärzen?«, füge ich hinzu. Für einen Moment spricht die Buchhalterin aus mir. Und darum sollte sich nicht nur Melissa sorgen, denn wenn sie erwischt wird, bin ich mit dran.

»Du bist die Einzige, die es weiß.«

»Was weiß?« Ich grinse. »Okay, ich ziehe mich mal lieber an, denn ich stinke garantiert.« Ich bin immer noch in der Jogginghose und dem T-Shirt, in denen ich letzte Nacht geschlafen habe, und jetzt nehme ich den abgestandenen Geruch von Krankheit wahr. »Nachher lerne ich Katies neuen Freund, Schrägstrich Regisseur kennen. Er holt sie zur Probe ab.«

»Freund?«

»Na ja, sie nennt ihn bisher nicht so, aber ich kenne doch meine Tochter. Obwohl sie ihn erst am Montag kennengelernt hat, schwöre ich, dass ich seither kein Gespräch mit ihr geführt habe, in dem sein Name nicht fiel. Isaac dies, Isaac das. Sie ist ganz schlimm verliebt.« Ich höre die Treppe knarren und verstumme abrupt, bevor Katie in die Küche kommt.

»Wow, was für ein Anblick!«, sagt Melissa, springt auf und umarmt Katie. Meine Tochter trägt eine graue Jeans, die so eng ist, dass sie ebenso gut aufgemalt sein könnte, und ein goldenes Sweatshirt mit Paillettenbesatz, das nach oben rutscht, als sie Melissa umarmt.

»Ist das deine berühmte Hühnersuppe? Gibt es noch etwas davon?«

»Massenhaft. Übrigens habe ich gerade von Isaac gehört …« Sie betont die Vokale in seinem Namen, und Katie sieht misstrauisch zu mir. Ich schweige.

»Er ist ein fantastischer Regisseur«, sagt Katie nur, und obwohl wir beide warten, rückt sie nicht mehr heraus.

»Und darf ich nach der Bezahlung fragen?« Melissa ist und bleibt Geschäftsfrau. »Mir ist klar, dass Schauspielerei nicht zu den lukrativsten Berufen gehört, aber deckt es wenigstens deine Ausgaben?«

Dass Katie stumm bleibt, sagt mir alles, was ich wissen muss.

»Ach, Katie, ich dachte, dass ist ein richtiger Job!«

»Ist es auch. Wir werden nach der Tour bezahlt, wenn alle Kartenverkäufe abgerechnet und die Ausgaben beglichen sind.«

»Also eine Gewinnbeteiligung?«, fragt Melissa.

»Genau.«

»Und wenn es keinen Gewinn gibt?«, frage ich.

Katie dreht sich zu mir. »Jetzt fängst du wieder an! Warum sagst du mir nicht einfach, dass ich scheiße bin, Mum? Dass keiner kommen wird, um das Stück zu sehen, und wir alle unser Geld verlieren …« Sie bricht ab, doch es ist zu spät.

»Welches Geld verlieren? Eine Gewinnbeteiligung verstehe ich ja noch – bis zu einem gewissen Grad –, aber sag mir bitte, dass du einem Typen, den du eben erst kennengelernt hast, kein Geld gegeben hast!«

Melissa steht auf. »Ich schätze, das ist mein Stichwort zu verschwinden. Aber Glückwunsch zu der Rolle, Katie.« Sie bedenkt mich mit einem strengen Blick, der heißen soll: Sei nett zu ihr, bevor sie geht.

»Welches Geld, Katie?«, hake ich nach.

Sie stellt eine Schale mit Suppe in die Mikrowelle und schaltet sie ein. »Wir teilen uns die Kosten für den Probenraum, sonst nichts. Wir sind eine Kooperative.«

»Nein, das ist Abzocke.«

»Du hast keine Ahnung vom Theater, Mum!«

Inzwischen sind wir beide laut und so darauf versessen, die andere zur Vernunft zu bringen, dass wir nicht hören, wie die Haustür aufgeschlossen wird. Simon kommt früher als sonst zurück, wie schon die ganze Woche, seit ich krank bin.

»Ah, dann geht es dir also besser?«, fragt er, als ich bemerke, dass er im Türrahmen lehnt. Er wirkt auf resignierte Weise amüsiert.

»Ein bisschen«, antworte ich verlegen. Katie stellt ihre Suppenschale auf ein Tablett, um sie mit auf ihr Zimmer zu nehmen. »Wann holt Isaac dich ab?«

»Um fünf. Ich bitte ihn nicht herein, wenn du die Gewinnbeteiligung mit ihm diskutierst.«

»Werde ich nicht, versprochen. Ich möchte ihn nur kennenlernen.«

»Ich habe etwas für dich«, sagt Simon und reicht Katie eine Plastiktüte, in der etwas Kleines, Eckiges ist. Katie stellt ihr Tablett ab. Es ist ein Angriffsalarm – eines dieser Dinger, die ein sirenenartiges Heulen von sich geben, wenn man den Stift herauszieht. »Die hatten sie in dem Eckladen. Ich habe keinen Schimmer, ob sie was taugen, aber ich dachte, du könntest so ein Ding bei dir haben, wenn du von der Bahn nach Hause gehst.«

»Danke«, sage ich. Ich weiß, dass er es gekauft hat, um mich zu beruhigen. Damit ich nicht so nervös bin, wenn Katie spät noch unterwegs ist. Ich versuche, meinen Ausbruch wiedergutzumachen. »Wann geht der Kartenverkauf für Was ihr wollt los, Schatz? Denn wir wollen unbedingt in der ersten Reihe sitzen, nicht wahr, Simon?«

»Unbedingt!«, bestätigt er.

Er meint es ernst, und das nicht bloß wegen Katie. Simon mag klassische Musik, Theater und Jazzkonzerte in finsteren Hinterhöfen. Er war verblüfft, dass ich noch nie The Mousetrap gesehen hatte, ging mit mir hin und warf mir immer wieder Blicke zu, um zu überprüfen, ob es mir auch Spaß macht. Es war okay, schätze ich, auch wenn mir Mamma Mia besser gefallen hat.

»Weiß ich nicht genau. Ich frage mal. Danke.« Das Letzte galt Simon, in dem sie wohl so etwas wie eine verwandte Seele sieht. Gestern Abend hat er mit ihr ihren Text geübt, und die beiden haben über die Symbolik des Stücks diskutiert.

»Siehst du, wie sie ›Verkleidung‹ darstellt und es ›Schalkheit‹ nennt?«, hat Simon gefragt.

»Ja! Und nicht mal am Ende ist die Identität von allen richtig klar.«

Ich sah zu Justin, und es ergab sich ein seltener Moment der gemeinsamen Verständnislosigkeit zwischen uns.

Bei unserer ersten Verabredung hat Simon mir von seinem Plan erzählt, Schriftsteller zu werden.

»Aber das bist du doch schon, oder nicht?« Ich war verwirrt, denn er hatte sich mir ja als Journalist vorgestellt.

Auf meine Frage schüttelte er den Kopf. »Das ist kein richtiges Schreiben. Ich möchte Bücher verfassen.«

»Dann mach das doch.«

»Werde ich auch irgendwann. Wenn ich Zeit habe.«

Also kaufte ich ihm zu Weihnachten ein Moleskine-Notizbuch, dicke, cremeweiße Seiten, in weiches braunes Leder gebunden. »Für dein Buch«, sagte ich verlegen. Wir waren erst seit wenigen Wochen zusammen, und ich hatte qualvolle Tage damit verbracht, zu überlegen, was ich ihm schenken könnte. Er sah mich an, als hätte ich ihm den Mond überreicht.

»Es war nicht das Notizbuch an sich«, erklärte er mir über ein Jahr später, als er eingezogen war und den ersten Entwurf seines Buches zur Hälfte fertig hatte. »Es war die Tatsache, dass du an mich glaubst.«

Katie ist rastlos. Sie hat immer noch die hautenge Jeans und das Pailletten-Sweatshirt an, in denen es ihr irgendwie gelingt, lässig und schillernd zugleich auszusehen. Inzwischen hat sie allerdings noch dunkelroten Lippenstift und schwarzen Eyeliner aufgetragen, der sich an ihren äußeren Augenwinkeln flügelähnlich nach oben zieht.

»Eine Viertelstunde«, zischt sie mir zu, als es klingelt, »dann sind wir weg.« Justin ist noch im Café, und Simon und ich sind im Wohnzimmer, das wir hastig aufgeräumt haben.

Ich höre leise Stimmen im Flur und frage mich, was Katie ihrem neuen Freund, Schrägstrich Regisseur erzählt. Tut mir leid wegen meiner Mum, wahrscheinlich. Sie kommen ins Wohnzimmer, und Simon steht auf. Ich sehe auf Anhieb, was Katie so fasziniert: Isaac ist groß und hat pechschwarzes Haar, das oben länger ist als an den Seiten. Der warme Braunton seiner Augen wird durch den etwas dunkleren Teint noch betont. Und das T-Shirt mit V-Ausschnitt unter seiner Lederjacke deutet eine sehr durchtrainierte Brustmuskulatur an. Mit anderen Worten: Isaac ist umwerfend.

Außerdem ist er mindestens dreißig.

Mir wird bewusst, dass mein Mund offen steht, und ich verwandle es in ein »Hallo«.

»Schön, Sie kennenzulernen, Mrs. Walker. Sie haben eine sehr begabte Tochter.«

»Mum meint, dass ich Sekretärin werden soll.«

Ich sehe sie verärgert an. »Ich habe nur vorgeschlagen, dass du einen Kurs machst, für alle Fälle.«

»Ein kluger Rat«, sagt Isaac.

»Meinst du?«, fragt Katie ungläubig.

»Es ist eine harte Branche, und die Kürzungen im Kulturbereich bedeuten, dass es noch heftiger wird.«

»Tja, vielleicht denke ich mal drüber nach.«

Ich überspiele mein überraschtes Schnauben mit Gehüstel, und Katie wirft mir einen vernichtenden Blick zu.

Isaac schüttelt Simon die Hand, der ihm ein Bier anbietet. Doch Isaac sagt, dass er noch fahren muss, und lehnt daher das Angebot dankend ab – immerhin, das muss ich ihm zugutehalten. Er und Katie setzen sich auf die Couch, wobei sie einen gewissen Abstand wahren. Ich suche nach Anzeichen dafür, dass die beiden seit ihrem Treffen vor wenigen Tagen schon mehr als Regisseur und Schauspielerin geworden sind. Aber da sind keine unabsichtlich-absichtlichen Berührungen, und ich überlege, ob Katies Heldenverehrung womöglich eine einseitige Schwärmerei ist. Hoffentlich wird ihr nicht wehgetan.

»Als ich Katie bei der Agentur sah, wusste ich sofort, dass sie ideal für die Viola ist«, erklärt Isaac. »Also habe ich ein Bild von ihr an den Typen geschickt, der den Sebastian spielt. Um zu hören, was er denkt.«

»Du hast ein Foto von mir gemacht? Das hast du gar nicht gesagt! Wie hinterhältig!«

»Mit dem Smartphone. Er hat mir zurückgeschrieben, dass du perfekt aussiehst. Ich hatte dich ja schon sprechen gehört – du hast dich mit dem Mädchen neben dir unterhalten, weißt du noch? Jedenfalls hat mir mein Gefühl ganz klar gesagt, dass du ideal für die Shakespeare-Hauptrolle bist, die ich noch besetzen musste.«

»Ende gut, alles gut«, sagt Simon grinsend.

»Sehr gut!«, sagt Isaac. Er und Katie lachen. Ich ringe mir ein Grinsen ab. Dann sieht Katie auf ihre Uhr.

»Wir müssen los.«

»Nach der Probe bringe ich sie nach Hause, Mrs. Walker. Ich verstehe, dass Sie ein bisschen in Sorge sind, wenn Katie nachts U-Bahn fährt.«

»Das ist sehr nett von Ihnen.«

»Nicht der Rede wert. London ist nicht der sicherste Ort für eine Frau, die alleine unterwegs ist.«

Ich mag ihn nicht.

Matt lachte früher immer, weil ich so schnell über Leute urteilte, aber der erste Eindruck macht eine Menge aus. Ich beobachte Isaac und Katie vom Wohnzimmerfenster aus, als sie die hundert Meter die Straße hinunter zu der Stelle gehen, an der Isaac einen Parkplatz gefunden hatte. Er legt eine Hand unten an Katies Rücken, als sie beim Wagen sind, und lehnt sich vor, um ihr die Beifahrertür zu öffnen. Ich kann nicht mal genau sagen, was ich an ihm nicht mag, doch mein ganzer Körper ist in Alarmbereitschaft.

Vor wenigen Tagen erst hatte ich beschlossen, Katie mehr bei der Erfüllung ihres Traums zu unterstützen; wenn ich jetzt irgendwas gegen Isaac sage, wird sie es als weitere Kritik an ihrer Berufswahl auffassen. Ich kann gar nicht gewinnen. Wenigstens bringt er sie nach Hause. Heute Morgen habe ich im Radio einen Bericht über einen sexuellen Übergriff gehört und mich unweigerlich gefragt, ob das Foto des Opfers vorher in den Kleinanzeigen war. Eigentlich bringt Simon die Gazette von der Arbeit mit, aber seit Anfang der Woche tut er das nicht mehr. Natürlich will er, dass ich die Anzeigen vergesse, aber das werde ich nicht. Ich kann es nicht.

Am Freitag begleitet Simon mich zur Arbeit. »Nur für den Fall, dass du noch ein bisschen wacklig auf den Beinen bist«, sagt er, als wir aufwachen. Auf dem ganzen Weg hält er meine Hand. In der District Line entdecke ich eine liegengelassene Ausgabe der Gazette, die ich entschlossen ignoriere. Stattdessen lehne ich mich an Simon, das Gesicht an sein Hemd gedrückt, und halte mich an ihm fest, sodass er uns beide ausbalancieren muss, wenn die Bahn vor den Haltestellen abbremst. Wir reden nicht, aber ich höre seinen Herzschlag an meinem Gesicht. Stark und regelmäßig.

Vor Hallow & Reed küsst er mich.

»Jetzt kommst du meinetwegen zu spät zur Arbeit.«

»Ist egal.«

»Gibt es keinen Ärger?«

»Lass das meine Sorge sein. Ist es okay, wenn ich jetzt gehe? Ich kann bleiben, falls du möchtest.« Er zeigt zu dem Coffee-Shop gegenüber, und ich muss grinsen bei der Vorstellung, dass Simon dort den ganzen Tag auf mich wartet – wie der Bodyguard eines Promis.

»Ist schon gut. Ich rufe dich nachher an.«

Wir küssen uns nochmals, und er wartet, bis ich sicher drinnen bin. Dann winkt er mir zu und geht weg in Richtung U-Bahn.

Sobald Graham zu einer Besichtigung verschwindet, schließe ich die »Rightmove«-Liste, die ich aktualisiert habe, und öffne Google. Ich tippe »London Kriminalität« in die Suchmaske ein und klicke den ersten Link an: eine Website, die sich »London 24« nennt und verspricht, stets die neuesten Meldungen über Verbrechen in der Hauptstadt zu bringen.

Teenager in West Dulwich erschossen.

Lebensgefährlich verletzter Mann mit rätselhaften Verbrennungen in Finsbury Park gefunden.

Deshalb lese ich keine Zeitungen. Normalerweise nicht. Ich weiß, dass all diese Sachen passieren, aber ich will nicht darüber nachdenken. Ich will nicht daran denken, dass Justin und Katie in einer Stadt leben, in der eine Messerstecherei kaum noch ein Wimpernzucken auslöst.

Ex-Premier-League-Spieler gesteht Fahren unter Alkohol in Islington.

»Widerwärtiger« Überfall auf Rentnerin, 84, in Enfield.

Ich zucke zusammen, als ich das Foto der vierundachtzigjährigen Margaret Price sehe, die ihre Rente abholen wollte und nie wieder nach Hause zurückkehrte. Dann suche ich nach Tania Beckett. Einer der Zeitungsartikel erwähnt eine Facebook-Seite für Beileidsbekundungen, und ich klicke sie an. Tania Beckett RIP, steht dort, und die Seite ist voller emotionaler Nachrichten von Freunden und Angehörigen. In einigen der Beiträge ist Tanias Name hervorgehoben, und mir wird klar, dass das Links zu ihrer Facebook-Seite sind. Ohne nachzudenken, klicke ich ihren Namen an und schnappe nach Luft, als die Seite auf dem Bildschirm erscheint, gefüllt mit Status-Updates.

Noch 135 Tage! lautet Tanias letztes Update, gepostet am Morgen vor ihrem Tod. 135 Tage bis was?

Die Antwort finde ich einige Einträge weiter unten in einem Post mit der Überschrift Was sagt ihr dazu, Mädels? Das Foto ist ein Screenshot von einem Mobiltelefon. Oben sehe ich die Batterieanzeige. Auf dem Bild ist ein Modellkleid für Brautjungfern zu sehen. Drei Frauennamen sind verlinkt.

Tania Beckett starb 135 Tage vor ihrer Hochzeit.

Ich sehe mir Tanias Freundesliste an: Miniaturbilder von jungen Frauen, alle blond und mit weißen Zähnen. Mir fällt eine ältere Frau mit demselben Nachnamen auf.

Alison Becketts Website ist genauso öffentlich wie Tanias, und auf dem Foto erkenne ich gleich, dass sie Tanias Mutter ist. Ihr letzter Facebook-Eintrag ist zwei Tage alt.

Der Himmel hat einen neuen Engel bekommen. Ruhe in Frieden, mein bezauberndes Mädchen. Ruhe sanft.

Ich schließe die Facebook-Seite, weil ich mir wie ein Eindringling vorkomme, und denke an Alison und Tania Beckett. Ich stelle mir vor, wie sie gemeinsam die Hochzeit geplant haben, Kleider ausgesucht, Einladungen verschickt. Ich sehe Alison vor mir, zu Hause auf dem dunkelroten Sofa von ihrem Profilbild. Sie nimmt das Telefon auf, hört dem Police Officer zu, begreift aber nicht, was er sagt. Nicht ihre Tochter, nicht Tania. Jetzt fühle ich einen Schmerz in der Brust und weine, auch wenn ich nicht weiß, ob ich um eine junge Frau weine, die mir nie begegnet ist, oder um meine eigene Tochter. Es hätte ebenso gut Katie treffen können.

Mein Blick fällt auf die Visitenkarte, die mit einer Klemme seitlich an meinem schwarzen Brett steckt.

PC Kelly Swift, British Transport Police.

Zumindest hat sie mir zugehört. Ich putze meine Nase, atme tief durch und greife nach dem Telefon.

»PC Swift.«

Im Hintergrund ist Verkehrslärm zu hören und das verklingende Martinshorn eines Krankenwagens. »Hier ist Zoe Walker. Die Kleinanzeigen in der London Gazette?«

»Ja, ich erinnere mich. Ich habe leider noch nicht mehr herausgefunden, aber …«

»Ich schon«, unterbreche ich sie. »Eine Frau aus den Kleinanzeigen wurde ermordet, und es scheint keinen zu interessieren, dass ich die Nächste sein könnte.«

Es folgt eine Pause, dann sagt sie: »Mich interessiert es. Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«