37

»Sie haben mir ein Bein gestellt!«, sagt Isaac und sieht zu Megan auf. Er stemmt eine Hand auf den Boden, um sich aufzurichten. Die kleine Menge, die sich versammelt hat, beginnt sich aufzulösen.

»Ja«, sagt Megan, bückt sich und hebt die verstreuten Münzen auf. Ich helfe ihr, allein schon, damit ich Isaac nicht mehr anstarre. Er wirkt ein bisschen beleidigt und zugleich amüsiert. »Sie haben sie verfolgt«, ergänzt Megan achselzuckend, als hätte sie keine andere Wahl gehabt.

»Ich wollte sie einholen«, sagt Isaac. »Das ist etwas anderes.« Er steht auf.

»Megan, das ist der …« Ich breche ab, weil ich nicht weiß, als was ich ihn bezeichnen soll. »Wir kennen uns.«

Megan scheint nicht verlegen. Vielleicht bedeutet die Tatsache, dass Isaac und ich uns kennen, in ihrer Welt rein gar nichts. Er könnte mich trotzdem verfolgt haben.

Er könnte mich trotzdem verfolgt haben.

Ich verdränge diesen lächerlichen Gedanken, ehe er sich festsetzen kann. Natürlich hat Isaac mich nicht verfolgt!

Ich drehe mich zu ihm. »Warum sind Sie hier?«

»Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war es noch ein freies Land«, sagt er grinsend, dennoch werde ich sauer. Ich vermute, dass mir das anzusehen ist, denn er wird ernst. »Ich bin auf dem Weg zu Katie.«

»Warum sind Sie gerannt?« Dass Megan dabei ist, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Zwar ist sie auf Abstand gegangen, beobachtet uns aber interessiert. Ihre Gitarre hängt an ihrer Seite.

»Weil Sie gerannt sind«, antwortet Isaac. Es ist so logisch, dass ich nicht mehr weiß, wie ich mich fühle. In der Ferne sind Polizeisirenen zu hören. »Ich wusste, dass Sie nervös sind wegen der Anzeigen in der Gazette, und dann hat Katie mir von der Website erzählt. Als ich Sie rennen sah, dachte ich, dass Ihnen jemand Angst gemacht hat.«

»Ja, Sie!« Mein Herz rast immer noch, und mir ist ein bisschen schwindlig von dem Adrenalinrausch. Die Sirenen werden lauter. Isaac streckt beide Hände in einer Ich-kann-unmöglich-gewinnen-Geste nach oben, was mich erst recht wütend macht. Wer ist dieser Mann? Das Sirenengeheul ist mittlerweile ohrenbetäubend. Ich sehe die Anerley Road hinauf. Ein Streifenwagen kommt mit blinkenden Lichtern auf uns zu und hält zehn Meter vor uns. Die Sirene verstummt mitten im Aufheulen.

Wird Isaac weglaufen? Tatsächlich wünsche ich es mir. Ich möchte, dass es das hier war: das Ende der Anzeigen, der Website, der Angst. Aber er steckt die Hände in die Taschen und sieht mich kopfschüttelnd an, als würde ich mich völlig absurd verhalten. Dann geht er auf die Officers zu.

»Diese Dame hatte sich ein bisschen erschrocken«, erklärt er, und ich bin so wütend, dass ich keinen Ton herausbringe. Wie kann er es wagen, sich zu benehmen, als hätte er hier das Sagen? Und dann noch alles damit abzutun, ich hätte mich ein bisschen erschrocken?

»Ihr Name, Sir?« Der Polizist holt einen Notizblock hervor, während seine Kollegin zu mir kommt.

»Er hat mich verfolgt«, sage ich zu ihr, und dadurch, dass ich es ausspreche, wird es zur Realität für mich. Ich will ihr von den Anzeigen erzählen, doch sie weiß schon Bescheid. »Er kam schon in Cannon Street hinter mir her, und als wir in Crystal Palace ankamen, fing er an, mir nachzurennen.« Er war derjenige, der zuerst rannte, oder war ich das? Spielt es eine Rolle? Die Polizistin macht sich Notizen, scheint sich aber nicht für die Einzelheiten zu interessieren.

Noch ein Wagen hält hinter dem Streifenwagen, und ich erkenne DI Rampello hinter dem Steuer. PC Swift ist bei ihm. Schlagartig bin ich erleichtert, denn die beiden werde ich nicht von dem überzeugen müssen, was gerade passiert ist. DI Rampello spricht mit der Polizistin, die ihr Notizbuch einsteckt und zu ihrem Kollegen geht.

»Alles okay?«, fragt Kelly.

»Mir geht es gut. Außer dass Isaac mich zu Tode erschreckt hat.«

»Kennen Sie ihn?«

»Es ist Isaac Gunn, der Freund meiner Tochter. Sie tritt zurzeit in einem Stück auf, und er ist der Regisseur. Er muss sich meine Fahrdaten von der Website heruntergeladen haben.« Ich bemerke, wie die beiden einen Blick wechseln, und weiß genau, was sie sagen werden.

»Die Website liefert den Nutzern Daten, um Fremde zu verfolgen«, sagt PC Swift. »Warum sollte jemand, der Sie kennt, die nutzen?«

DI Rampello sieht auf seine Uhr. »Es ist noch nicht mal Mittag. Ihr Fahrplan besagt, dass Sie bis halb sechs arbeiten.«

»Mein Chef hat mich nach Hause geschickt. Das ist ja wohl kein Verbrechen.«

Trotz meines Tonfalls bleibt er geduldig.«Selbstverständlich nicht. Aber hätte Isaac Gunn Ihre Bahndaten heruntergeladen, um Ihnen zu folgen, hätte er heute keinen Erfolg damit gehabt, nicht wahr?«

Ich schweige und denke an die Schritte, die ich in der Cannon Street gehört habe, an den flüchtigen Blick auf einen Mantel in der District Line. War es Isaac, den ich da gesehen habe? Oder jemand anders? Habe ich mir eingebildet, verfolgt zu werden?

»Sie sollten ihn wenigstens befragen und herausfinden, warum er mir gefolgt ist. Warum hat er nicht nach mir gerufen, als er mich sah?«

»Hören Sie«, sagt DI Rampello ruhig. »Wir nehmen Gunn zu einer freiwilligen Vernehmung mit und prüfen, ob es irgendeine Verbindung von ihm zu der Website gibt.«

»Und sagen Sie mir, was Sie herausfinden?«

»Sobald wir können.«

Ich sehe, wie Isaac in den Streifenwagen steigt.

»Können wir Sie nach Hause fahren?«, fragt PC Swift.

»Nein danke, ich gehe zu Fuß.«

Als DI Rampello und PC Swift wegfahren, kommt Megan zu mir, und erst jetzt wird mir bewusst, dass sie in dem Moment verschwunden war, in dem die Polizei eintraf. »Ist alles in Ordnung?«

»Alles gut. Danke, dass du heute auf mich aufgepasst hast.«

»Danke, dass du jeden Tag auf mich aufpasst«, entgegnet sie lächelnd.

Ich werfe eine Münze in ihren Gitarrenkoffer, während sie die ersten Takte eines Bob-Marley-Stücks anstimmt.

Es ist ein knackig kalter Tag. Seit Tagen kündigt der Wetterbericht Schnee an, und ich glaube, heute kommt er wirklich. Dicke weiße Wolken hängen über mir, und Frost glitzert auf der Straße. In Gedanken gehe ich meinen Heimweg durch und versuche, mich an den genauen Moment zu erinnern, in dem ich wusste, dass mir jemand folgte; den Moment, in dem ich zu rennen begann. Das Erinnern lenkt mich von dem ab, was mir echte Sorge bereitet: Was zur Hölle sage ich zu Katie? Dass ihr Freund mich gestalkt hat? Je näher ich meinem Haus komme, desto mehr zweifle ich an mir selbst.

Als ich die Tür aufschließe, höre ich das Radio in der Küche und Simons unmelodisches Mitsingen, das mal lauter, mal leiser wird, je nachdem wie sicher er den Text beherrscht. Ich habe ihn schon lange nicht singen gehört.

Die Haustür knallt hinter mir zu, und das Singen verstummt.

»Ich bin hier!«, ruft Simon überflüssigerweise. Als ich in die Küche komme, sehe ich, dass er den Tisch zum Mittagessen gedeckt hat. »Ich dachte, dass du vielleicht etwas Warmes möchtest«, sagt er. Auf dem Herd schmort ein Garnelen-Risotto mit Spargel und Zitrone. Es riecht köstlich.

»Woher wusstest du, dass ich früher nach Hause komme?«

»Ich hatte bei dir im Büro angerufen, und dein Chef hat mir erzählt, dass er dich nach Hause geschickt hat.«

Unweigerlich denke ich, dass ich gut ohne Leute auskommen kann, die jeden meiner Schritte überwachen, komme mir aber sogleich undankbar vor. Die Polizei, Graham, Simon, sie alle versuchen doch nur, für meine Sicherheit zu sorgen, sonst nichts.

»Ich dachte schon, dass er mich feuert.«

»Soll er mal versuchen. Wir hätten ihn vors Arbeitsgericht gezerrt, bevor er ›Immobilienboom‹ sagen kann.« Er grinst über seinen Scherz.

»Du bist ja sehr munter. Gehe ich recht in der Annahme, dass das Vorstellungsgespräch gut lief?«

»Die haben mich schon angerufen, ehe ich bei der U-Bahn war, um mich zu einem zweiten Gespräch morgen einzuladen.«

»Das ist ja fantastisch! Mochtest du die Leute? Klingt der Job gut?« Ich setze mich, und Simon stellt zwei dampfende Schalen mit Risotto auf den Tisch. Plötzlich überfällt mich der Hunger, der typischerweise einem Adrenalinschub folgt. Trotzdem verwandelt sich der erste Happen zu Säure in meinem Mund. Ich muss mit Katie reden. Sie wird auf Isaac warten und sich fragen, was los ist. Sich womöglich Sorgen machen.

»Alle sind ungefähr zwölf Jahre alt«, sagt Simon, »und die Auflage liegt bei mickrigen Achtzigtausend. Ich könnte den Job mit verbundenen Augen machen.« Ich öffne den Mund, um nach Katie zu fragen, doch er deutet es falsch und lässt mich nicht zu Wort kommen. »Aber wie du gestern schon sagtest, ist es ein Job, und die Arbeitszeiten wären besser als beim Telegraph. Keine Wochenendschichten, keine Spätschichten in der Nachrichtenredaktion. Ich könnte nebenbei an meinem Buch arbeiten.«

»Das sind tolle Neuigkeiten. Ich wusste doch, dass sich etwas ergeben würde.« Eine Weile lang essen wir schweigend. »Wo ist Katie?«, frage ich, als sei es mir gerade erst eingefallen.

»In ihrem Zimmer, glaube ich.« Er sieht mich an. »Stimmt etwas nicht?«

Und in dem Moment beschließe ich, ihm nichts zu erzählen.

Besser er konzentriert sich auf das Gespräch morgen, ohne sich meinetwegen Gedanken zu machen; ohne sich zu sorgen, dass Katie mit einem potenziellen Stalker zusammen ist. Ich ignoriere die Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, dass ich es ihm nicht erzählen will, weil ich nicht sicher bin, ob ich recht habe.

Die Treppe knarrt, und ich höre Katies Schritte, die sich der Küche nähern. Sie kommt herein, sieht aber auf ihr Telefon. »Hey, Mum. Du bist ja früh zu Hause.«

Ich blicke von ihr zu Simon und zurück wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht, das sich fragt, zu welcher Straßenseite es fliehen soll. Katie stellt den Wasserkocher an und sieht stirnrunzelnd auf ihr Handydisplay.

»Alles okay, Schatz?«

Simon beäugt mich neugierig, sagt aber nichts. Falls er meinen ängstlichen Unterton bemerkt, schreibt er ihn fraglos dem »Stress« zu, wegen dem Graham mich freigestellt hat.

»Isaac wollte herkommen, aber er schreibt, dass ihm etwas dazwischengekommen ist«, antwortet Katie. Sie scheint eher überrascht als verärgert, was natürlich daran liegt, dass sie es nicht gewohnt ist, versetzt zu werden. Ich hasse mich dafür, dass ich ihr das antue.

Eigentlich dachte ich, dass die Polizei ihm sofort das Telefon abnehmen würde, aber das hat sie offenbar nicht. Ich stelle mir das Gespräch in dem Streifenwagen oder auf dem Revier vor.

Ich muss meiner Freundin Bescheid geben.

Eine Textnachricht, dann geben Sie uns das Telefon.

Vielleicht war es auch ganz anders. Vielleicht haben sie sich auf Anhieb prima verstanden: Isaac entwaffnet die Polizistin mit seinem Charme und ist supernett zu ihrem Kollegen.

Ich muss unbedingt meiner Freundin sagen, was passiert ist. Sie wird sich Sorgen machen. Sie haben ihre Mutter ja gesehen, die ich ziemlich labil …

»Hat er gesagt, was ihm dazwischengekommen ist?«, frage ich Katie.

»Nein. Es wird wohl irgendwas mit dem Stück zu tun haben. Er arbeitet ununterbrochen. Muss man wohl, wenn man selbstständig ist. Ich hoffe aber, dass alles in Ordnung ist, denn um sieben geht der Vorhang hoch!« Sie nimmt sich eine Fertignudelsuppe mit nach oben, und ich lege meine Gabel auf den Schalenrand. Heute ist Premiere, wie konnte ich das vergessen? Was ist, wenn Isaac dann immer noch bei der Polizei ist?

»Hast du keinen Hunger?«, fragt Simon.

»Entschuldige.«

Ich habe mich in einen riesigen Schlamassel geritten und weiß nicht, wie ich da wieder rauskomme. Für den Rest des Tages tigere ich durchs Haus, biete Katie immer wieder Tee an, den sie nicht will, und wappne mich für den Moment, in dem sie mir sagt, dass sie weiß, warum Isaac in einem Streifenwagen weggebracht wurde.

Eine freiwillige Vernehmung, erinnere ich mich. Er wurde nicht festgenommen.

Dieser Unterschied dürfte Isaac jedoch um nichts friedlicher stimmen. Oder Katie. Kurz vor fünf kommt Matt, um sie zum Theater zu fahren.

»Sie holt nur ihre Sachen«, sage ich. Matt steht vor der Tür, und ich fühle die Kälte ins Haus wehen. »Ich würde dich ja reinbitten, aber … du weißt ja, es ist nicht so günstig.«

»Ich warte im Taxi.«

Katie kommt die Treppe hinuntergelaufen und zieht ihre Jacke an. Sie küsst mich.

»Hals- und Beinbruch, Schatz. Sagt ihr das nicht?«

»Danke, Mum.«

Als Matt losfährt, klingelt mein Handy; PC Swifts Nummer leuchtet auf dem Display. Ich gehe mit dem Telefon nach oben und dränge mich mit einem gehetzten Entschuldige an Justin vorbei. Dann gehe ich in Simons Arbeitszimmer und schließe die Tür hinter mir.

Kelly Swift hält sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf. »Wir haben ihn gehen lassen.«

»Was hat er gesagt?«

»Dasselbe wie zu Ihnen. Dass er Sie in der Bahn sah und fand, Sie hätten ängstlich gewirkt. Er sagte, dass Sie sich immer wieder umgesehen hätten und schreckhaft gewesen wären.«

»Hat er zugegeben, mir gefolgt zu sein?«

»Er sagte, dass er zu Ihrer Tochter wollte, also natürlich in dieselbe Richtung ging. Als Sie losliefen, hat er sich Sorgen gemacht und ist Ihnen gefolgt.«

»Warum hat er mich nicht vorher angesprochen?«, frage ich. »Als er mich in der Bahn sah? Da hätte er schon zu mir kommen und etwas sagen können.«

PC Swift zögert. »Anscheinend denkt er, dass Sie ihn nicht mögen.« Ein Post-it an Simons Computer löst sich, und ich drücke es mit dem Daumen wieder fest. »Wir haben sein Telefon und seinen Laptop, Zoe – er überließ uns beides ohne Protest –, und auf den ersten Blick bringt ihn nichts mit findtheone.com in Verbindung. Die Leute vom Cyber Crime sehen sich alles nochmal gründlicher an, und natürlich sage ich Ihnen Bescheid, sollten die etwas finden.« Wieder zögert sie und spricht dann sehr viel ruhiger. »Zoe, ich glaube nicht, dass er mit der Website zu tun hat.«

»O Gott, was habe ich getan?« Ich schließe die Augen, als könnte das helfen, den Mist auszublenden, den ich angerichtet habe. »Das wird meine Tochter mir nie verzeihen.«

»Isaac war sehr verständnisvoll«, sagt PC Swift. »Er weiß, dass Sie gerade eine Menge Stress haben, und ich hatte den Eindruck, dass er die Sache für sich behalten wird.«

»Er will Katie nichts sagen? Warum nicht?«

Sie atmet aus, und ich glaube, einen Anflug von Erschöpfung zu hören. »Vielleicht ist er schlicht einer von den Guten, Zoe.«

Am nächsten Morgen ist es still im Haus, als ich aufwache. Im Schlafzimmer ist es eigenartig hell. Ich ziehe die Vorhänge auf und sehe, dass der versprochene Schnee da ist. Die Straße ist bereits geräumt – Streugut und Verkehr haben dem nächtlichen Schneefall schnell den Garaus gemacht –, aber die Gehwege und Gärten, die Dächer und die parkenden Autos sind unter fünf Zentimetern weißen Pulverschnees vergraben. Neue Flocken treiben am Fenster vorbei und bedecken die Fußspuren vorn auf dem Weg.

Ich küsse Simon auf den Mund. »Es schneit!«, flüstere ich wie ein Kind, das zum Spielen rausgehen möchte. Er lächelt, ohne die Augen zu öffnen, und zieht mich zurück ins Bett.

Als ich das nächste Mal aufstehe, hat es aufgehört zu schneien. Justin hat wieder eine lange Schicht im Café, und Katie schläft nach dem Premierenabend aus.

Wir hatten volles Haus! Das beste Publikum aller Zeiten, sagt Isaac! x

Er hat ihr nichts erzählt. Ich atme langsam aus.

Natürlich muss ich mit ihm reden und mich entschuldigen, aber nicht heute.

»Wann ist dein Gespräch?«, frage ich Simon.

»Erst um zwei, aber ich dachte, ich fahre schon früher hin und sehe mir einige ältere Ausgaben an, um mich noch genauer zu informieren. Es macht dir doch nichts aus, oder? Kommst du hier klar?«

»Ja, ich komme klar. Außerdem ist Katie zu Hause. Ich denke, ich sollte mal gründlicher durchputzen.« Das Haus ist ein einziges Chaos. Der Esstisch, an dem wir erst vor zwei Wochen saßen, ist schon wieder vollkommen zugemüllt. Gestern habe ich die Belege und Rechnungen ausgekippt, die Graham mir mitgegeben hat, aber bevor ich an seine Buchhaltung gehe, muss ich aufräumen.

Simon küsst mich zum Abschied, und ich wünsche ihm Glück. Ich höre ihn pfeifen, als er die Haustür aufschließt, und muss lächeln.

Katie taucht gegen elf auf. Trotz der Augenringe und des verschmierten Kajalrestes, den sie beim Abschminken übersehen haben musste, strahlt sie.

»Es war sagenhaft, Mum.« Sie nimmt den Tee, den ich ihr reiche, und folgt mir ins Esszimmer, wo sie sich auf einen Stuhl setzt und die Arme um ihre angewinkelten Knie schlingt. Ihre Füße stecken in riesigen Flauschstiefeln. »Ich habe kein einziges Mal Texthilfe gebraucht, und am Ende ist sogar jemand aufgestanden zum Klatschen! Ich denke, das war ein Bekannter von Isaac, aber trotzdem.«

»Dann kommt also ein bisschen Geld rein?«

»Das wird es. Wir müssen vorher allerdings die Miete fürs Theater, den Kartenvorverkauf und so bezahlen.« Ich sage nichts, frage mich aber, ob Isaac sich schon seinen Anteil genommen hat. Plötzlich sieht Katie mich verwundert an.

»Warum bist du nicht bei der Arbeit?«

»Krankheitsbedingt freigestellt.«

»Mum, warum hast du nichts gesagt? Dann darfst du das hier nicht machen. Warte, lass mich.« Sie springt auf und nimmt mir einen Stapel Akten ab, blickt sich um und legt ihn schließlich wieder zurück auf den Tisch, wo er war. Ein Beleg rutscht vom Tisch und segelt zu Boden.

»Ich bin nicht so krank. Graham hat mir nur eine Zeit lang freigegeben. Bis die Polizei diesen Quatsch mit der Website geklärt hat.« Es fühlt sich gut an, das als Quatsch abzutun. Ermutigend, würde Melissa sagen. Ich bücke mich, um den Beleg aufzuheben, der unter den Tisch geflogen ist.

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Ich weiß nicht, ob er aus Grahams Stapel kommt oder einer von den vielen Kassenbons ist, die wir alle zusammenknüllen und auf den Tisch werfen.

Er stammt aus einem Lokal namens »Espress OH!« Ein furchtbarer Name für ein Café, denke ich. Er ist zu bemüht und diese angestrengte Art Wortspiel, bei der es einen schüttelt, ähnlich wie Friseurnamen à la »Haare der Dinge« oder Salatbars mit Namen wie »Wir sind uns grün!« Ich drehe die Quittung um und sehe die Zahlen »0364« in einer Handschrift notiert, die ich nicht erkenne. Eine PIN vielleicht?

Ich lege den Zettel beiseite. »Lass ruhig, Schatz«, sage ich zu Katie, die immer noch hilfsbereit enthusiastisch, aber wenig sinnvoll Papiere hin und her schiebt. »Es ist einfacher, wenn ich es mache. So kommt nichts durcheinander.« Dann lasse ich sie von der Premiere erzählen – von der Vier-Sterne-Kritik in Time Out und dem Applaus, den sie beim zweiten Vorhang bekam – während ich die Papiere auf dem Esstisch sortiere. Die Arbeit beruhigt mich, als könnte ich alleine durchs Aufräumen wieder etwas Kontrolle über mein Leben gewinnen.

Ich hätte Graham niemals um freie Tage gebeten, und ich bin froh, dass er mich von sich aus beurlaubt hat. Wenigstens kann ich so zu Hause bleiben, solange die Polizei was auch immer macht, um den Fall aufzuklären. Ich bin durch mit der Geschichte. Sollen sie die Risiken übernehmen; ich bleibe hier, wo es sicher ist.