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Ich ziehe die graue Decke um meine Schultern. Sie ist aus Wolle und sieht hübsch aus, wenn sie auf dem Sofa liegt, aber jetzt kratzt sie unangenehm im Nacken. Die Lampe gibt ein Brummen von sich, das man bis ins obere Stockwerk hören kann – noch etwas, das dringend repariert werden muss –, und obwohl ich weiß, dass Simon und die Kinder tief und fest schlafen, habe ich sie nicht eingeschaltet. Das Licht von meinem iPad lässt den Rest des Wohnzimmers noch dunkler erscheinen, als er wirklich ist. Draußen pfeift der Wind, und irgendwo klappert eine Gartenpforte. Ich habe versucht zu schlafen, doch bei jedem Geräusch zuckte ich zusammen, also habe ich es schließlich aufgegeben und bin nach unten gegangen.
Jemand hat mich fotografiert und mein Bild in eine Anzeige gestellt.
Es ist alles, was ich an Fakten habe. Aber genau dieser eine Satz geht mir in einer Endlosschleife durch den Kopf.
Jemand hat mich fotografiert.
PC Swift glaubt auch, dass es mein Foto ist. Sie hat gesagt, sie würde sich darum kümmern. Ich wünschte, dass ich ihr vertrauen könnte, aber leider teile ich Simons romantisch verklärtes Bild von den Jungs und Mädchen in Blau nicht. Das Leben war hart, als ich aufgewachsen bin, und bei uns war ein Streifenwagen etwas, vor dem man weglief, selbst wenn wir alle eigentlich nicht wussten, warum.
Ich tippe auf den Bildschirm vor mir. Tania Becketts Facebook-Seite hat einen Link zu einem Blog. Es ist ein Online-Tagebuch, dass Tania und ihre Mutter zusammen geführt haben, eine Art Doku zu den Hochzeitsvorbereitungen. Tania hat viel über praktische Dinge geschrieben: Sollen wir Mini-Ginflaschen als Gastgeschenke nehmen oder Herzen mit den Namen drauf? Weiße oder gelbe Rosen? Von Alison gibt es bloß eine Hand voll Einträge, von denen jeder wie ein Brief an ihre Tochter verfasst ist.
Liebes,
noch zehn Monate bis zum großen Tag! Ich kann es kaum glauben.
Heute war ich auf dem Dachboden, um nach meinem Schleier zu suchen.
Ich erwarte nicht, dass du ihn trägst – die Mode hat sich sehr
verändert –, aber ich dachte, dass du vielleicht ein kleines Stück
davon in deinen Kleidersaum einnähen lassen möchtest. Etwas
Geliehenes. Oben fand ich einen Karton mit all deinen Schulheften,
Geburtstagskarten und kleinen Kunstwerken. Früher hast du gelacht,
weil ich alles aufbewahre, aber das wirst du verstehen, wenn du
selbst Kinder hast. Auch du wirst das erste Paar Schuhe aufheben,
damit du eines Tages auf den Dachboden gehen kannst, um deinen
Brautschleier zu suchen und darüber zu staunen, dass deine
erwachsene Tochter mal so winzige Füße hatte.
Mir verschwimmt die Sicht, und ich blinzle die Tränen fort. Es fühlt sich falsch an weiterzulesen. Ich bekomme Tania und ihre Mum nicht aus dem Kopf. Auf dem Weg nach unten habe ich mich in Katies Zimmer geschlichen, um mich zu vergewissern, dass sie noch da ist, noch lebt. Heute Abend war keine Probe – sie hat ihre normale Samstagabendschicht im Restaurant gearbeitet –, trotzdem brachte Isaac sie nach Hause. Sie gingen am Wohnzimmerfenster vorbei, blieben stehen und küssten sich, bevor ich hörte, wie sich Katies Schlüssel im Schloss drehte.
»Du magst ihn wirklich, was?«, habe ich sie gefragt. Ich rechnete schon mit einer patzigen Abfuhr, doch sie sah mich mit leuchtenden Augen an.
»Ja, wirklich.«
Ich wollte den Moment nicht ruinieren, konnte jedoch den Mund nicht halten. »Er ist einiges älter als du.« Sofort verhärteten sich ihre Züge, und so schnell, wie sie antwortete, musste sie schon mit diesem Thema gerechnet haben.
»Er ist einunddreißig, also zwölf Jahre älter. Simon ist vierundfünfzig, fünfzehn Jahre älter als du.«
»Das ist etwas anderes.«
»Warum? Weil du erwachsen bist?« Fast war ich erleichtert, dass sie es verstand, aber dann sah ich Wut in ihren Augen aufblitzen, und ihr eben noch zuckersüßer Ton wurde schroff. »Das bin ich auch, Mum.«
Sie hatte schon Freunde gehabt, doch dies hier fühlt sich anders an. Ich merke, wie sie mir entgleitet. Eines Tages wird Isaac – oder ein anderer Mann – der Erste sein, an den Katie sich wendet; bei dem sie sich anlehnt, wenn das Leben zu viel wird. Hatte Alison Beckett dasselbe Gefühl gehabt?
Wenn ich über die Hochzeit spreche, sagen mir die Leute, dass ich keine Tochter verliere, schreibt sie in ihrem letzten Tagebucheintrag.
Aber das hat sie. Sie hat ihr Kind verloren.
Ich hole tief Luft. Ich werde meine Tochter nicht verlieren. Und ich lasse nicht zu, dass sie mich verliert. Ich kann nicht tatenlos herumsitzen und hoffen, dass die Polizei diese Geschichte ernst nimmt. Ich muss etwas tun.
Neben mir auf dem Sofa liegen die Kleinanzeigen. Ich habe sie aus der London Gazette ausgeschnitten und sorgsam das Datum auf jeder notiert. Es sind achtundzwanzig, die ich einer Kunstinstallation gleich auf dem Sofapolster ausgebreitet habe.
Foto-Quilt von Zoe Walker. Zu solch einer Ausstellung in der Tate Modern würde Simon gehen.
Die letzten Ausgaben habe ich selbst gesammelt, mir jeden Tag eine Zeitung geholt. Die früheren Ausgaben habe ich mir am Freitag direkt bei der London Gazette besorgt. Man sollte meinen, dass man einfach zu der Redaktion gehen und sie um frühere Ausgaben bitten kann. Aber natürlich ist es nicht ganz so simpel. Die knöpfen einem sechs Pfund neunundneunzig für jede alte Ausgabe ab. Ich hätte mir die Zeitungen in Grahams Büro kopieren sollen, nur ist mir das leider zu spät eingefallen – da waren sie schon weg. Graham musste sie schon ins Altpapier geworfen haben.
Ich höre ein Knarren oben und erstarre, doch es kommt nichts mehr, also suche ich weiter im Internet. »Ermordete Frauen in London« ergibt zum Glück wenig Treffer, und keines der Fotos passt zu den Anzeigen neben mir. Mir wird schnell klar, dass Schlagzeilen keine große Hilfe sind; Google-Bilder sind weit nützlicher und schneller durchzusehen. Eine Stunde verbringe ich damit, Fotos von Polizisten, Tatorten, weinenden Eltern und ahnungslosen Frauen anzusehen, deren Leben zu früh endete. Keine von ihnen gleicht meinen.
Meinen.
Sie sind alle »meine« geworden, diese Frauen neben mir. Ich frage mich, ob einige von ihnen ihr eigenes Foto gesehen haben; ob sie – wie ich – Angst haben und denken, dass sie beobachtet werden, dass jemand sie verfolgt.
Eine blonde Frau fällt mir auf. Sie trägt Robe und Doktorhut, lächelt in die Kamera, und ich glaube, sie zu erkennen. Wieder sehe ich zu den Anzeigen. Inzwischen sind sie mir alle vertraut, und ich weiß genau, nach welcher Frau ich suche.
Da.
Ist es dieselbe Frau? Ich tippe auf das Bild und lande auf einer Zeitungsseite – ausgerechnet der Website der London Gazette.
POLIZEI UNTERSUCHT MORD AN FRAU, DEREN LEICHE IN TURNHAM GREEN GEFUNDEN WURDE.
West London. District Line, denke ich und versuche, mir die Haltestellen ins Gedächtnis zu rufen. Tania wurde am anderen Ende der Stadt ermordet. Könnten die Morde zusammenhängen? Die Frau heißt Laura Keen, und unter dem Artikel sind drei Fotos von ihr. Noch eines bei ihrer Examensfeier, wie sie zwischen einem Paar steht, bei dem es sich um ihre Eltern handeln muss. Das zweite Bild ist weniger gestellt; sie lacht und hält ein Glas in die Kamera. Eine Studentenwohnung, denke ich. Mir fallen die leeren Weinflaschen im Hintergrund und der gemusterte Bettüberwurf auf, der zum Vorhang umfunktioniert wurde. Das letzte Bild sieht wie eine Aufnahme bei der Arbeit aus. Laura trägt Bluse und Blazer, und ihr Haar ist ordentlich nach hinten gebunden. Ich vergrößere das Bild, greife nach der Anzeige und halte sie neben den Bildschirm.
Das ist sie.
Ich zwinge mich, nicht weiter darüber nachzudenken, was das bedeutet. Stattdessen markiere ich die Seite und schicke den Link per E-Mail an meine Büroadresse, damit ich den Artikel dort ausdrucken kann. Dann ändere ich meine Suchanfrage in »Sexuelle Übergriffe auf Frauen in London«, was sich als fruchtloses Unterfangen erweist. Die Bilder sind von Männern, nicht Frauen. Die Opfer werden in den Artikeln weder namentlich genannt noch abgebildet. Es ist fast beschämend, dass mich die Anonymität ärgert, die diese Frauen schützen soll.
Eine Überschrift über einem Bild von einer Sicherheitskamera fällt mir ins Auge:
POLIZEI SUCHT PERVERSEN, DER FRÜHMORGENS IN EINER LONDONER U-BAHN FRAU BELÄSTIGTE
Viel steht dort nicht.
Eine 26-Jährige fuhr mit der District Line von Fulham Broadway, als sie unsittlich von einem Mann berührt wurde. Die British Transport Police veröffentlichte im Zuge der Ermittlung eine Sicherheitskamera-Aufnahme. Auf dem Bild ist der Mann zu sehen, der im Zusammenhang mit dem Vorfall gesucht wird.
Ich sehe zu den Anzeigen. »Ist das einer von euch passiert?«, frage ich laut. Das Bild ist absurd schlecht: so verschwommen und verwackelt, dass man nicht mal sagen könnte, welche Haarfarbe der Mann hat. Seine eigene Mutter dürfte Mühe haben, ihn darauf zu erkennen.
Für alle Fälle markiere ich den Artikel trotzdem und starre auf den Bildschirm. Das ist zwecklos. Wie ein Snap-Spiel, bei dem die Hälfte der Karten fehlt. Ich schalte das iPad aus, als ich Schritte auf der Treppe höre. Eilig raffe ich die Fotos zusammen, wobei jedoch mehrere vom Sofa flattern, und als Simon ins Zimmer kommt und sich die Augen reibt, bin ich noch dabei, sie aufzusammeln.
»Als ich aufgewacht bin, warst du nicht da. Was machst du?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
Simon sieht zu den Anzeigen in meiner Hand.
»Aus der London Gazette.« Ich fange an, sie erneut auf dem Polster neben mir auszulegen. »Jeden Tag eines.«
»Aber was machst du mit denen?«
»Ich versuche herauszubekommen, was mit den Frauen in den Anzeigen passiert ist.« Ich verrate ihm nicht den wahren Grund, warum ich so viele alte Ausgaben der Gazette gekauft habe. Denn es laut auszusprechen würde bedeuten, dass es tatsächlich geschehen könnte. Dass ich eines Tages die Gazette aufschlage und mir Katie entgegenblickt.
»Aber wir haben die Polizei informiert. Die haben eigene Abteilungen für solche Nachforschungen, und sie können auf alle Fallberichte zugreifen. Falls es eine Serie gibt, finden sie die Verbindung.«
»Wir kennen die Verbindung«, sage ich. »Es sind diese Anzeigen.« Ich klinge trotzig, obwohl ich weiß, dass Simon recht hat. Mein Detektiv-Versuch ist erbärmlich und sinnlos, kostet mich den Schlaf und bringt nichts.
Außer bei Laura Keen, wie mir einfällt.
Ich suche die Anzeige heraus. »Dieses Mädchen«, sage ich, als ich sie Simon reiche. »Sie wurde ermordet.« Ich nehme das iPad und öffne den markierten Link. »Das ist sie, oder?«
Für eine Weile schweigt er und verzieht komisch das Gesicht, während er nachdenkt. »Glaubst du? Könnte sein. Sie hat diesen ›Look‹, den sie jetzt alle haben.«
Ich weiß, was er meint. Lauras Haar ist lang, blond, nach hinten gebürstet und zu einer dichten Mähne toupiert. Ihre Brauen sind dunkel und sorgfältig in Form gezupft, und ihre Haut sieht makellos aus. Sie könnte eines von tausend Mädchen in London sein. Zum Beispiel Tania Beckett. Oder Katie. Aber ich bin sicher, dass sie Laura ist. Sie ist die junge Frau in der Anzeige. Simon gibt mir das iPad zurück.
»Wenn du dir Sorgen machst, geh noch mal zur Polizei«, sagt er. »Aber jetzt komm ins Bett. Es ist drei Uhr morgens, und du brauchst Schlaf. Du erholst dich immer noch von der Grippe.« Widerwillig stecke ich das iPad in die Hülle, sammle erneut die Anzeigen zusammen und lege sie zu dem iPad. Ich bin müde, doch meine Gedanken überschlagen sich.
Es wird hell, als ich endlich einnicke, und als ich gegen zehn wach werde, fühlt sich mein Kopf schwer und träge an. Meine Ohren schrillen, als wäre ich irgendwo gewesen, wo es sehr laut war. Vor Müdigkeit stolpere ich in der Dusche.
Einmal im Monat Sonntagsbraten mit Melissa und Neil zu essen ist eine alte Tradition bei uns. Es begann an jenem Sonntag, als Katie, Justin und ich hier einzogen und Melissa uns zum Mittagessen einlud. Unser Haus stand noch voller Kartons – einige aus dem Haus, das ich nach der Trennung von Matt gemietet hatte, andere aus einem Lagerraum. Melissas sauberes, weißes Haus schien mir riesig im Vergleich zu unserem.
Seither finden wir uns abwechselnd an Melissas langem, glänzendem Tisch oder meinem Mahagonitisch ein, den ich spottbillig auf dem Bermondsey Market erstand, weil eines der Beine wackelte. Früher machten die Kinder an diesem Tisch ihre Hausaufgaben, und an einem Ende kann man noch die von Justin zerkratzten Stellen sehen, weil er sauer war, dass ich ihn zu seinen Schularbeiten verdonnert hatte.
Heute bin ich mit dem Sonntagsessen dran, und ich schicke Simon los, um Wein zu kaufen, während ich mit dem Gemüse anfange. Katie stibitzt sich ein Stück rohe Karotte, und ich schlage ihre Hand weg. »Räumst du den Tisch frei?«
»Justin ist dran.«
»Oh, ihr seid echt beide schlimm. Dann macht es eben zusammen.« Ich rufe nach Justin und höre eine gedämpfte, unverständliche Antwort aus seinem Zimmer. »Tisch decken!«, rufe ich. Er kommt nach unten, nur in Pyjamahose und mit nacktem Oberkörper. »Es ist Mittag, Justin. Erzähl mir nicht, dass du den ganzen Vormittag verschlafen hast.«
»Reg dich ab, Mum. Ich habe die ganze Woche gearbeitet.«
Ich lasse es gut sein. Er hat wirklich viel gearbeitet und scheint das auch richtig zu genießen. Das kommt dabei heraus, wenn man Leuten ein bisschen Verantwortung gibt. Allerdings dürfte das Geld auf die Hand auch ein Ansporn sein.
Mein Esszimmer ist eigentlich kein Zimmer, sondern eher eine Nische, die durch einen Rundbogen vom Wohnzimmer getrennt ist. Viele Nachbarn haben dort einen Durchbruch zur Küche gemacht oder angebaut, wie Melissa und Neil, aber wir müssen das Essen von der Küche durchs Wohnzimmer dorthin tragen. Was der Teppich bezeugt. Dabei ist das große Sonntagsessen der einzige Anlass, zu dem es sich lohnt, und inzwischen auch der einzige Tag, an dem wir den Tisch freiräumen.
»Vorsichtig mit den Unterlagen«, sage ich zu Justin, als ich mit einem Bündel Besteck ins Esszimmer komme und sehe, wie er einen Stapel Papiere auf das Sideboard wirft. Obwohl der Esstisch chaotisch aussieht, bemühe ich mich, bei den Stapeln Ordnung zu halten. Da sind Melissas zwei Sammlungen von Buchhaltungsbelegen, jeweils mit einem Stapel Quittungen und Rechnungen, und die Steuerunterlagen für Hallow & Reed mit Grahams endlosen Zetteln für Geschäftsessen und Taxifahrten. »Du musst noch den Stuhl aus Simons Zimmer holen«, erinnere ich Justin. Er hält inne und sieht mich an.
»Ist es jetzt Simons Zimmer, ja?«
Vor Simons Einzug hatten wir darüber gesprochen, dass Justin den ausgebauten Dachboden als Wohnzimmer haben könnte, weil dort Platz war für seine PlayStation und vielleicht noch eine Schlafcouch. Dann hätte er nicht mehr mit seinen Freunden in dem kleinen Zimmer hocken müssen.
»Dann eben vom Dach. Du weißt, was ich meine.«
Eigentlich hatte ich nicht geplant, Simon das Dachgeschoss zu überlassen. Als ich den Kindern erklärte, dass er mit uns zusammenleben wollte, sagte Justin nicht viel dazu. In meiner Naivität legte ich das als Zustimmung aus. Erst nachdem Simon eingezogen war, gingen die Streitereien los. Simon brachte nicht viele Möbel mit, doch was er hatte, war von guter Qualität. Da schien es unfair, ihm zu sagen, dass kein Platz für die Sachen war. Wir verfrachteten alles unters Dach, solange wir überlegten, was wir damit anfangen sollten. Dann kam ich auf die Idee, dass es gut wäre, wenn Simon etwas Raum für sich hätte. Auf die Weise schufen wir Abstand zwischen Justin und ihm, und die Kinder und ich konnten hin und wieder allein fernsehen.
»Hol einfach den Stuhl, ja?«, bitte ich Justin.
Gestern Abend, als ich mit genug Einkäufen ins Haus kam, um eine Armee satt zu bekommen, teilte Katie mir mit, dass sie nicht zum Mittagessen hier wäre.
»Aber es ist Bratentag!«
Den hatte sie noch nie verpasst, genauso wenig wie Justin – nicht mal als die PlayStation und seine Freunde weit reizvoller wurden als die Familie.
»Ich treffe mich mit Isaac.«
Jetzt passiert es, dachte ich. Sie verlässt uns. »Dann lad ihn hierher ein.«
»Zu einem Familienessen?«, Katie schnaubte. »Nein danke, Mum.«
»Melissa und Neil sind doch auch da. Das wird nett.« Sie sah nicht überzeugt aus. »Ich werde ihn auch nicht verhören, Ehrenwort.«
»Na dann«, sagte sie und griff nach ihrem Handy. »Obwohl er nicht wollen wird.«
»Das Fleisch ist köstlich, Mrs. Walker.«
»Nennen Sie mich bitte Zoe«, sage ich zum dritten Mal. Sie sind mir altersmäßig näher als meiner Tochter, möchte ich hinzufügen. Isaac sitzt zwischen Katie und Melissa.
»Ein Dorn zwischen zwei Rosen«, hatte er gesagt, als sie sich setzten, und ich war drauf und dran, mir zwei Finger in den Hals zu stecken und Würgegeräusche zu machen wie eine Vierzehnjährige. Fällt Katie ernsthaft auf diesen Schmalz rein? Aber sie sieht ihn an, als wäre er eben vom Catwalk gestiegen.
»Wie laufen die Proben?«, fragt Melissa. Ich werfe ihr einen dankbaren Blick zu. Dass jemand Neues dabei ist, macht die Atmosphäre steif und gekünstelt. Schließlich kann ich nicht unbegrenzt fragen, ob allen die Sauce schmeckt.
»Richtig klasse. Ich staune, wie gut Katie sich eingefügt hat und wie schnell sie aufgeholt hat, wenn man bedenkt, wie spät sie dazugekommen ist. Am nächsten Samstag ist die Kostümprobe, da sollten Sie alle kommen.« Er schwenkt die Gabel in die Runde. »Es ist sehr hilfreich, ein echtes Publikum zu haben.«
»Dann kommen wir gerne«, sagt Simon.
»Dad auch?«, fragt Katie Isaac. Ich spüre eher, als dass ich sehe, wie Simon sich neben mir verkrampft.
»Je mehr, desto besser. Sie müssen mir allerdings allesamt versprechen, nicht dazwischenzurufen.« Er grinst, und wir lachen höflich. Ich kann es kaum erwarten, dass das Essen vorbei ist und Katie mit ihrem Traummann verschwindet, damit ich Melissa fragen kann, was sie von Isaac hält. Sie sieht ihn ein klein wenig amüsiert an, doch ich erkenne nicht, was sie denkt.
»Was macht die Detektivarbeit, Zoe?« Neil ist fasziniert von den Fotos in der Gazette. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, fragt er mich, ob es Neuigkeiten gibt, ob die Polizei etwas über die Anzeigen herausbekommen hat.
»Detektivarbeit?«
Ich will es Isaac nicht erzählen, aber bevor ich das Thema wechseln kann, verrät Katie ihm alles. Über die Anzeigen, mein Foto und den Mord an Tania Beckett. Mich beunruhigt, wie fasziniert er ist, als ginge es um einen neuen Film oder ein neues Buch, nicht die Realität. Meine Realität.
»Und sie hat sogar noch eine gefunden. Wie heißt die Neue noch, Mum?«
»Laura Keen«, sage ich leise. Ich sehe Lauras Examensbild vor mir und frage mich, wo das Original ist. Steht es auf dem Schreibtisch des Journalisten, der den Artikel schrieb, oder ist es zurück auf dem Kaminsims ihrer Eltern? Vielleicht haben sie es vorerst umgedreht, weil sie nicht damit fertig werden, es immer wieder zu sehen.
»Was glauben Sie, woher die Ihr Bild hatten?«, fragt Isaac, der meine mangelnde Begeisterung nicht zu bemerken scheint. Mich wundert, dass Katie ihn noch ermuntert, und ich ordne es einem allgemeinen Wunsch zu, ihn zu beeindrucken. Neil und Simon essen schweigend. Melissa wirft mir hin und wieder einen Seitenblick zu, um zu sehen, ob alles okay ist.
»Wer weiß?« Ich versuche zu verharmlosen, aber meine Feinmotorik leidet, und mein Messer schlägt klappernd gegen den Tellerrand. Simon schiebt seinen leeren Teller weg, lehnt sich zurück und legt einen Arm auf die Rückenlehne meines Stuhls. Für jeden anderen sieht es aus, als würde er sich schlicht nach dem Essen entspannen, aber ich fühle seinen Daumen, der beruhigend an meiner Schulter kreist.
»Facebook«, sagt Neil mit einer Sicherheit, die mich schockiert. »Es ist immer Facebook. Die meisten Identitätsdiebstähle finden heutzutage mit Namen und Fotos aus den sozialen Medien statt.«
»Der Fluch der modernen Gesellschaft«, sagt Simon. »Wie hieß diese Firma noch, für die du vor ein paar Monaten gearbeitet hast? Diese Börsenmakler?«
Neil blickt für einen Moment ratlos drein, dann lacht er. »Heatherton Alliance.« Er sieht zu Isaac, der die Geschichte als Einziger noch nicht kennt. »Die hatten mich angeheuert, damit ich Hinweise auf Insider-Handel finde, aber während ich da war, hatten sie eines dieser Initiationsrituale für eine neue Bankerin. Echter Wolf of Wall Street-Stoff. Sie hatten eine Facebook-Gruppe eingerichtet, ein privates Forum, auf dem sie entschieden, was sie ihr als Nächstes antun wollten.«
»Wie furchtbar«, sagt Isaac, nur dass sein Blick nicht zu seinem Tonfall passt. Seine Augen leuchten interessiert. Er bemerkt, dass ich ihn ansehe, und liest meine Gedanken. »Sie halten mich für makaber. Es ist der Fluch des Regisseurs, fürchte ich. Immerzu stelle ich mir vor, wie eine Szene gespielt werden könnte, und diese – tja, die wäre wirklich außergewöhnlich.«
Die Unterhaltung hat mir den Appetit verdorben. Ich lege mein Besteck hin. »Ich benutze Facebook so gut wie nie. Ich bin da nur, um mit der Familie in Kontakt zu bleiben.« Meine Schwester Sarah lebt in Neuseeland, zusammen mit einem braungebrannten, sportlichen Ehemann und zwei perfekten Kindern, denen ich erst einmal persönlich begegnet bin. Eines ist Anwalt geworden, das andere arbeitet mit behinderten Kindern. Mich wundert nicht, dass Sarahs Kinder sich so gut gemacht haben. Sie selbst war früher auch das Musterkind. Meine Eltern haben es nie ausgesprochen, trotzdem stand ihnen diese Frage ständig ins Gesicht geschrieben, wenn sie mich ansahen: Warum kannst du nicht mehr wie deine Schwester sein?
Sarah lernte fleißig und half im Haushalt. Sie drehte ihre Musik nicht zu laut oder schlief an den Wochenenden bis mittags. Sarah blieb an der Schule, machte einen guten Abschluss und bekam einen Platz am Sekretärinnen-College. Sie flog nicht schwanger raus. Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, wenn doch; ob unsere Eltern bei ihr genauso erbarmungslos gewesen wären wie bei mir.
Pack deine Sachen, sagte mein Dad, als er es erfuhr. Mum fing an zu weinen, doch ob es wegen des Babys war oder weil ich ging, konnte ich nicht erkennen.
»Sie würden staunen, was man bei Facebook alles findet«, sagt Isaac jetzt. Er zückt sein Handy – ein elegantes iPhone 6s – und wischt über das Display. Alle sehen ihm zu, als sei er im Begriff, einen Zaubertrick vorzuführen. Er dreht mir das Display hin, und ich sehe das blauweiße Facebook-Logo. Mein Name steht in der Suchmaske, und darunter ist eine Reihe von Zoe Walkers, jeweils mit kleinen Bildern daneben. »Welches ist Ihre Seite?«, fragt er.
»Da.« Ich zeige mit dem Finger hin. »Die dritte von unten. Das Bild mit der Katze.« Es ist ein Foto von Biscuit, wie er auf dem Kies vorm Haus in der Sonne liegt. »Sehen Sie«, sage ich triumphierend. »Ich benutze nicht mal für mein Profil mein eigenes Foto. Eigentlich gebe ich ziemlich wenig von mir preis.« Nicht wie meine Kinder, denke ich, die ihr ganzes Leben auf Instagram oder Snapchat, oder was auch immer gerade in sein mag, zur Schau stellen. Katie knipst dauernd Selfies, mal aus diesem, mal aus jenem Winkel, jagt sie durch alle erdenklichen Filter und sucht die schmeichelhaftesten aus.
Isaac öffnet meine Seite. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ganz sicher nicht mein vollständiges Facebook-Profil.
50k im Jahr, und die
denken, dass sie streiken dürfen? Ich würde sofort mit jedem
Lokführer tauschen!
Sitze im Zug fest … MAL WIEDER. Dem Himmel
sei Dank für WLAN!
6??! Komm schon, Len, das war wenigstens 8
wert!!
»Let’s Dance«, erkläre ich. Mir ist es peinlich, mein Leben auf Sätze über Fernsehshows und Pendlerverdruss reduziert zu sehen. Und mich schockiert, wie leicht Isaac in meinen Account konnte. »Wie konnten Sie sich denn in meinen Account einloggen?«
Isaac lacht. »Habe ich nicht. Das hier kann jeder sehen, der Ihr Profil anklickt.« Er sieht mein Entsetzen. »Sie haben so gut wie nichts gesperrt.« Um es zu beweisen, klickt er auf »Über mich«, wo meine E-Mail-Adresse für jeden sichtbar ist. Ist zur Schule »Peckham Comprehensive« gegangen, steht da, als könnte man darauf stolz sein. Hat bei Tesco gearbeitet. Fast rechne ich damit, zu lesen, schwanger mit siebzehn.
»O Gott! Davon hatte ich keine Ahnung.« Ich erinnere mich vage daran, wie ich all diese Infos eingab: Welche Jobs ich schon hatte, welche Filme ich mag, welche Bücher ich gelesen habe. Aber ich dachte, das wäre nur für mich, wie eine Art Online-Tagebuch.
»Was ich damit sagen will, ist«, Isaac tippt einen weiteren Link an, der »Zoes Fotos« heißt, »wenn jemand ein Foto von Ihnen benutzen wollte, hatte er hier reichlich Auswahl.« Er scrollt durch Dutzende Bilder, von denen ich die meisten noch nie gesehen habe.
»Aber die habe ich nicht hochgeladen!«, sage ich. Ich sehe ein Foto von mir von hinten, das bei einem Grillabend letzten Sommer bei Melissa und Neil aufgenommen wurde, und überlege, ob mein Hintern tatsächlich so breit ist oder es einfach ein ungünstiger Winkel war.
»Ihre Freunde aber. All diese Bilder« – das müssen an die hundert sein – »wurden von Leuten hochgeladen, die Sie verlinkt haben. Sie können das wieder ändern, wenn Sie möchten, aber dazu müssen Sie Ihre Datenschutzeinstellungen überarbeiten. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen helfen.«
»Ist schon gut. Ich mache das.« Vor Verlegenheit bin ich zu schroff und bedanke mich zum Ausgleich überschwänglich. »Sind alle fertig? Katie, Schatz, hilfst du mir beim Abräumen?« Alle fangen an, Teller zu stapeln und Schüsseln in die Küche zu tragen. Simon drückt meine Hand, bevor er sehr offensichtlich das Thema wechselt.
Nachdem alle gegangen sind, sitze ich mit einer Tasse Tee in der Küche. Simon und Katie, die doch nicht mit Isaac verschwunden ist, sehen sich irgendeinen Schwarzweißfilm an, und Justin ist bei einem Freund. Im Haus ist es still, und ich rufe Facebook auf meinem Mobiltelefon auf, wobei ich mir vorkomme, als würde ich etwas Unanständiges tun. Ich sehe die Fotos an, erkenne das Album, das Isaac mir auf seinem Telefon gezeigt hatte. Ich scrolle die Bilder langsam durch. Einige sind nicht mal von mir, und ich brauche einen Moment, ehe ich begreife, dass ich auf Bildern von Katie verlinkt wurde oder auf alten Schulbildern. Melissa hat mich und einige andere Leute auf einem Foto von ihren eigenen Beinen verlinkt, das sie letztes Jahr im Urlaub am Pool gemacht hat.
Neidisch, Mädels???!! Steht untendrunter.
Ich brauche eine Weile, aber schließlich finde ich es. Das Foto aus der Anzeige. Ich atme langsam aus. Wusste ich doch, dass ich nicht verrückt bin! Ich wusste, dass ich das war. Facebook erzählt mir, dass das Bild von Matt gepostet wurde, und als ich das Datum überprüfe, sehe ich, dass es drei Jahre alt ist. Ich folge dem Link und entdecke zwanzig oder dreißig Fotos, die alle auf einmal nach der Hochzeit meiner Cousine hochgeladen wurden. Deshalb trage ich auf dem Bild keine Brille.
Dieses Foto ist eigentlich von Katie. Sie sitzt neben mir am Tisch, hält den Kopf leicht schräg und lächelt in die Kamera. Ich beobachte eher sie als die Kamera. Das Bild in der Anzeige ist sorgsam ausgeschnitten worden und das meiste von dem Kleid wegretuschiert, das ich sonst sofort als eines meiner wenigen Party-Kleider erkannt hätte.
Ich stelle mir vor, wie ein Fremder durch meine Fotos scrollt, mich in meinem schicken Kleid ansieht, meine Tochter, meine Familie. Mir wird kalt. Die Datenschutzeinstellungen, die Isaac erwähnte, sind nicht einfach zu finden, aber ich habe sie am Ende. Systematisch sperre ich jeden Bereich meines Accounts: Fotos, Posts, Links. Als ich fast fertig bin, blinkt eine Nachricht rot auf meinem Display auf. Ich tippe sie an.
Isaac Gunn hat dir eine Freundschaftsanfrage geschickt. Ihr habt eine gemeinsame Freundin.
Ich starre die Nachricht eine Sekunde lang an und drücke auf Löschen.