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»Chef, wir haben ein Problem.«

Nick sah von seinem Schreibtisch auf, als Kelly zu ihm kam. Die Morgenbesprechung war eben erst vorbei, aber Nick hatte bereits seine Krawatte gelockert und den obersten Knopf seines Hemds geöffnet. Kelly wusste inzwischen, dass die Krawatte bis zum Mittag ganz verschwunden sein würde, aufgerollt in der Brusttasche seines Jacketts, falls die hohen Tiere vorbeikamen.

»Ihr Account bei der Website ist gesperrt worden. Ich habe gerade versucht mich einzuloggen, um nach neuen Profilen zu sehen, und da wurde ich geblockt.« Sie konnte nicht anders, als sich etwa jede Stunde auf der Seite einzuloggen. Sogar heute in den frühen Morgenstunden, gleich nach dem Aufwachen, hatte sie zu ihrem Telefon gegriffen. Sie tat es mit einem zunehmend mulmigen Gefühl, denn der blinkende Neue Profile!-Balken auf dem Bildschirm bedeutete, dass noch mehr Frauen in Gefahr waren; mehr potenzielle Opfer. Die Website wuchs so schnell, dass sie mit ihren Ermittlungen nicht hinterherkamen, und die vergebliche Fahrt nach Amersham gestern hatte nicht direkt geholfen. James Stanfords Kreditkarte war im letzten Jahr schon kopiert worden. Er hatte seine Brieftasche verloren – oder sie war ihm gestohlen worden –, und danach hatte es mehrere Fälle gegeben, bei denen seine Daten missbraucht wurden. Der Briefkasten in der Old Gloucester Road war lediglich der letzte in einer Reihe von Vorfällen. Garantiert waren Stanfords Daten schon mehrfach weiterverkauft worden, und das MIT hatte nach wie vor keine Spur zu demjenigen, der Londons Pendlerinnen zu Zielscheiben machte.

Im Besprechungsraum waren die Wände bedeckt von ihren Fotos – manche mit Namen, manche ohne –, und es kamen ständig neue hinzu, seit sie auf die Website zugreifen konnten. Heute Morgen nach dem Briefing hatte Kelly sich automatisch eingeloggt. Die Tastenkombination beherrschte sie mittlerweile blind.

Ihr Passwort wurde nicht erkannt.

Sie hatte verwundert geblinzelt und es erneut versucht, weil sie glaubte, sich vertippt zu haben.

Ihr Passwort wurde nicht erkannt.

Sie hatte mehrmals die Daten überprüft, mit denen Nick den Account eröffnet hatte – mit seiner eigenen Kreditkarte und einer Gmail-Adresse –, aber der Fehler lag nicht bei ihr. Der Account war verschwunden.

»Glauben Sie, dass wir enttarnt wurden?«

Nick tippte mit seinem Kuli auf die Laptopkante. »Kann sein. Wie viele Profile haben wir heruntergeladen?«

»Alle. Vielleicht haben wir uns damit verdächtig gemacht.«

»Oder das Ganze ist ein Schwindel, um die Leute abzuzocken. Wer würde schon zur Polizei gehen und sich beschweren, dass man ihm fälschlich unbegrenzte Stalking-Chancen versprochen hat?«

»Wir haben übrigens eine Prepaid-Kreditkarte bewilligt bekommen«, sagte Kelly. Sie hatte gesehen, wie die E-Mail einging, während sie versuchte, sich auf Nicks Computer in den Account einzuloggen.

»Super. Richten Sie einen neuen Account ein, und dann warten wir ab, wie lange es dauert, bis sie den auch dichtmachen. Ich will mir ansehen, ob es Profile von Frauen aus Kent gibt.«

»Bisher waren sie alle aus London, Chef.«

»Gestern gab es eine Entführung in Maidstone. Wir haben eine Zeugenaussage, dass ein Mann gesehen wurde, der eine Frau in einen schwarzen Lexus zerrte und mit ihr wegfuhr. Eine Stunde später bekam die Polizei in Kent einen Anruf von einer verstörten Frau, die entführt und sexuell genötigt wurde, bevor der Täter sie in einem Gewerbegebiet am Stadtrand aus dem Wagen stieß.« Er reichte Kelly mehrere ausgedruckte Seiten, und sie blickte auf das oberste Blatt mit den Angaben zur Aussage des Opfers.

Kathryn Whitworth, 36.

»Pendlerin?«

»Sie fährt täglich von Pimlico zu einer Jobvermittlung in Maidstone, bei der sie arbeitet.«

»Hat sie sich das Kennzeichen des Lexus gemerkt?«

»Nein, aber der Wagen wurde wenige Meilen vom Tatort geblitzt. Die Officer vor Ort holen den Fahrer gerade ab.«

Kelly brauchte nicht lange, um einen neuen Account einzurichten und Kathryn Whitworth zu finden, als Neuzugang auf der ersten Seite beworben. Sie glich die Angaben aus Kathryns Aussage mit dem Profil auf dem Bildschirm ab.

Weiß.

Blond.

Mitte dreißig.

Flache Schuhe, trägt enganliegende Jacken. Karierter Wollponcho. Schwarzer Regenschirm mit Perlmuttgriff. Graue Mulberry-Laptoptasche.

Konfektionsgröße 34–36.

07:15 Uhr: Betritt U-Bahnhof Pimlico. Nimmt die Rolltreppe und biegt nach links zur Bahn nach Norden. Steht an der großen Werbetafel links vom U-Bahn-Plan. Steigt an der Station Victoria aus, verlässt den Bahnsteig, geht nach rechts und nimmt die Rolltreppe nach oben. Biegt nach links zu den Bahnsteigen 1–8. Geht zum Starbucks neben Bahnsteig 2, wo ihr der Barista einen Venti Skinny Decaff Latte bereitet. Nimmt den Ashford National von Bahnsteig 3. Klappt den Laptop auf und arbeitet während der Fahrt. Steigt in Maidstone East aus, geht die Week Street bis zur Abbiegung links in die Union Street. Arbeitet bei Maidstone Recruitment.

Verfügbar: Montag bis Freitag.

Dauer: 80 Minuten

Schwierigkeitsgrad: mittel

Es bestand kein Zweifel, dass dies dieselbe Frau war. Spontan googelte Kelly Maidstone Recruitment. Auf deren Seite fand sich ein professionelles Porträtfoto mit einer Kurzbiografie unter Kathryns Namen und ihrer Stellenbezeichnung. Leitende Personalberaterin. Auf dem Foto auf der Website hatte Kathryn ihr Haar hinter die Ohren gestrichen und sah zwar nicht direkt gestresst aus, aber doch abgelenkt. Auf dem Firmenbild hatte sie die linke Schulter leicht vorgestreckt, saß vor einem weißen Hintergrund und trug ihr schulterlanges Haar zu einem strengen Bob geschnitten. Sie lächelte strahlend in die Kamera; professionell, vertrauenswürdig, selbstbewusst.

Wie mochte Kathryn Whitworth jetzt aussehen? Wie hatte sie ausgesehen, als sie diese zehnseitige Aussage bei einem Detective in Maidstone machte? Als sie in einem geliehenen Bademantel in den eigens für Vergewaltigungsopfer eingerichteten Räumen der Polizei darauf wartete, eine erniedrigende medizinische Untersuchung hinter sich zu bringen?

Die Bilder stellten sich allzu leicht ein.

Kelly nahm das Profil aus dem Drucker und beugte sich über ihren Schreibtisch, um es Lucinda zu geben.

»Es passt.«

Kellys Mobiltelefon klingelte, und »Unbekannte Nummer« erschien auf dem Display. Sie nahm das Gespräch an.

»Hi, spreche ich mit DC Thompson?«

Um ein Haar hätte Kelly gesagt, dass der Anrufer sich in der Nummer geirrt hatte, als sie sich wieder erinnerte. »Ja, am Apparat.« Sie blickte zu Lucinda, die sich wieder ihrem Computer zugewandt hatte.

»Hier ist DC Angus Green vom Durham CID. Ich habe die Vergewaltigungsakte ausgegraben, die Sie wollten.«

»Eine Sekunde bitte, ich muss kurz nach draußen gehen.«

Kelly hoffte, dass die anderen nicht mitbekamen, wie ihr Herz raste. Sie zwang sich, möglichst lässig von ihrem Schreibtisch aufzustehen und hinauszugehen, als wäre der Anruf nicht weiter wichtig.

»Danke für Ihren Rückruf«, sagte sie, sobald sie draußen auf dem Korridor war. Sie stand oben an der Treppe, sodass sie sehen konnte, wenn jemand nach oben kam, und gleichzeitig die Tür zum MIT im Blick behielt.

»Kein Problem. Haben Sie jemanden in Untersuchungshaft?«

»Nein, wir arbeiten nur an ähnlichen Fällen, und da tauchte dieser auf. Ich hatte angerufen, um zu fragen, ob sich in den letzten Jahren noch etwas Neues ergeben hat.« Kellys Herz hämmerte inzwischen so heftig, dass es schmerzte. Sie drückte den Handballen fest auf ihr Brustbein. Sollte irgendwer das hier mitbekommen, würde sie ganz sicher ihren Job verlieren. Dann gäbe es keine zweite Chance mehr.

»Nichts, leider. Wir haben die DNA in der Akte, also sollte er wegen etwas anderem verhaftet werden und wir eine Übereinstimmung feststellen, könnte man einen Vergleich machen. Obwohl selbst bei einer Übereinstimmung die Chancen schlecht stehen, dass es zur Anklage kommt.«

»Warum?« Auf eine Verhaftung hoffte Kelly, seit sie bei der Polizei war und erkannt hatte, dass viele ältere Verbrechen nicht durch sorgfältige Ermittlungen aufgeklärt wurden, sondern durch schieren Zufall. Eine Reihen-DNA-Untersuchung zwecks Eliminierung nach einem Einbruch; eine Blutprobe nach einem positiven Alkoholtest bei einer Verkehrskontrolle. Dieser Augenblick, in dem man nach Luft schnappte, weil sich ein simpler Fall als so viel mehr entpuppte und ein Verbrechen, das zwanzig Jahre zuvor begangen worden war, endlich aufgeklärt wurde. Kelly war es schon ein paarmal passiert, und jetzt wünschte sie es sich dringender als alles andere. Sie hatte den Mann nie gesehen, der Lexi vergewaltigt hatte, trotzdem konnte sie sich beinahe vorstellen, wie sich seine Arroganz in Furcht wandelte; wie eine relativ harmlose Anklage zur Nichtigkeit verblasste angesichts des positiven DNA-Vergleichs, der unwiderruflich bewies, dass er ihre Schwester gestalkt, sie beobachtet und überfallen hatte.

»In der Akte ist ein Brief von dem Opfer«, sagte DC Green. »Einer Miss Alexis Swift. Darin schreibt sie, dass sie zwar bei ihrer Aussage bleibt, aber bei einer weiteren Untersuchung nicht einbezogen werden möchte und auch nicht über neue Entwicklungen in dem Fall unterrichtet werden will.«

»Aber das kann nicht sein!« Es war draußen, bevor Kelly sich bremsen konnte, und ihre Stimme hallte durch das Treppenhaus. An DC Greens Schweigen erkannte sie, dass er verwirrt war. »Ich meine, warum sollte ein Opfer sich so verhalten? Das ergibt keinen Sinn.«

»Sie erklärt es nicht weiter. Vielleicht war doch nicht alles so klar, wie sie es in ihrer ersten Aussage angegeben hat? Vielleicht war es jemand, den sie kannte. Vielleicht war es zunächst einvernehmlich, und dann hatte sie es sich anders überlegt.«

Kelly hatte Mühe, beherrscht zu bleiben. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Lexi, die zusammengekrümmt auf einem Sessel in dem Spezialraum saß, zu gebrochen, um aufzustehen. Lexi in geliehenen Sachen, die ihr nicht passten, während ihre eigenen sorgfältig etikettiert und forensisch versiegelt in Papiertüten verpackt waren. Lexi auf der Untersuchungsliege, wo sich Tränen zwischen ihren geschlossenen Lidern hervorstahlen und sie Kellys Hand so fest drückte, dass es hinterher noch zu sehen war. Nichts an dem, was Lexi passiert war, war einvernehmlich gewesen.

»Ja, kann sein«, sagte Kelly nun betont gelassen. »Tja, vielen Dank, dass Sie mich zurückgerufen haben. Ich glaube nicht, dass der Fall zu unserer Serie gehört, aber man kann nie wissen.« Sie beendete das Gespräch, drehte sich um und lehnte ihre Stirn an die kühle Wand. So blieb sie eine ganze Weile stehen – wie lange wusste sie nicht.

»Wenn Sie meditieren wollen, tun Sie das doch bitte in Ihrer Freizeit, Kelly.«

Sie fuhr herum und sah Nick in seinen Laufsachen. Die Turnschuhe machten keinerlei Geräusche auf der Treppe. Sein T-Shirt war unter den Achseln und vorn dunkel gefleckt.

»Verzeihung, Chef, ich war nur fünf Minuten draußen.« Kellys Gedanken überschlugen sich. Was hatte Lexi getan? Und warum?

»Die hatten Sie. Ich gehe duschen und sehe Sie in zehn Minuten im Besprechungsraum.«

Kelly lenkte ihre Konzentration auf den Fall zurück. »Sie hatten recht, was die Vergewaltigung in Maidstone betrifft. Ich habe Lucinda die Einzelheiten gegeben.«

»Okay. Sagen Sie der Polizei in Kent Bescheid, dass wir ab hier übernehmen. Aber eines nach dem anderen. Ich habe das Cyber-Crime-Team gebeten, dass sie herkommen und uns erhellen, was zur Hölle sie die letzten zwei Tage gemacht haben. Man kann sich heutzutage nirgends bewegen, ohne einen digitalen Fingerabdruck zu hinterlassen. Wie schwer kann das denn sein, die Person hinter dieser Website zu identifizieren?«

»Sehr schwer«, sagte Andrew Robinson. »Er hat seine Spuren zu gut verwischt. Die Seite ist auf den Cayman Islands registriert.«

»Den Caymans? Betreibt er die Website von da aus?«, fragte Kelly.

Nick sah sie an. »Freuen Sie sich nicht zu früh. Sie reisen nicht in die Karibik.«

»Es heißt auch nicht, dass der Täter dort ist«, sagte Andrew. »Er hat dort lediglich eine Adresse angegeben. Und sicher überrascht Sie nicht zu hören, dass zwischen der britischen Polizei und den Cayman Islands nicht direkt eitel Sonnenschein herrscht. Die Chancen, dass wir von denen die Informationen bekommen, die wir brauchen, tendieren gegen null. Aber immerhin haben wir die IP-Adresse, von der aus die Website antwortet.« Andrew sah Kellys und Nicks verständnislose Gesichter und fing nochmal neu an: »Im Grunde ist es so: Wenn ich nach einer Domain frage, wird ein Signal an die Website geschickt. Falls die nicht existiert, kriegen wir keine Reaktion. Existiert die Website – wie in diesem Fall –, verrät uns die Antwort nicht bloß, wo die Domain registriert ist, sondern auch, welches Gerät benutzt wurde, um dieses bestimmte Netzwerk anzuwählen. Wenn Sie also zum Beispiel«, er zeigte auf Nicks Handy vor ihnen auf dem Tisch, »sich jetzt zum Online-Banking einloggen, würde die Website die IP-Adresse Ihres Telefons speichern, was uns ermöglicht, Sie zu orten.«

»Verstanden«, sagte Nick. »Und von wo loggt sich der Administrator ein?«

Andrew verschränkte seine dünnen Finger und knackte mit den Knöcheln, erst an der einen, dann an der anderen Hand. »So einfach ist das leider nicht.« Er schlug sein Notizbuch auf und zeigte Nick und Kelly eine Zahlenfolge: 5.43.159.255. »Dies ist die IP-Adresse, quasi die Postleitzahl für Computer. Es ist eine statische IP, allerdings bei einem russischen Server, und die Russen …«

»Lassen Sie mich raten«, fiel Nick ihm ins Wort. »Die Russen kooperieren nicht mit der britischen Polizei. Herrgott nochmal!«

Andrew hob beide Hände. »Ich sage nur, wie es ist.«

»Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Website zurückzuverfolgen?«, fragte Kelly.

»Die Wahrheit? Nein. Zumindest nicht in dem Zeitfenster, in dem Sie es bräuchten, bedenkt man die Gefahrenstufe. Diese Website ist buchstäblich nicht zurückzuverfolgen.«

»Heißt das, wir suchen nach jemandem, der besonders versiert ist?«, fragte Kelly. »Jemandem, der vielleicht aus der IT kommt?«

»Nicht unbedingt. Dieser Kram ist für jeden online zugänglich, wenn man danach sucht. Sogar der DI könnte das.«

Kelly verkniff sich ein Grinsen, und Nick überging die Bemerkung. »Und was schlagen Sie vor?«

»Das gute alte Prinzip: Folgen Sie der Spur des Geldes.«

»Was meinen Sie?«, fragte Kelly.

»Haben Sie nie Die Unbestechlichen gesehen?«, erwiderte Andrew. »Da haben Sie was verpasst. Der Täter nimmt Geld von Leuten, die sich auf seiner Dating-Website registrieren, oder? Diesem Geld müssen wir folgen. Jede Transaktion lässt sich von den Kredit- oder Bankkarten der Kunden zum PayPal-Konto der Website und schließlich zum Bankkonto des Täters verfolgen. Wenn Sie wissen, wie das Geld eingezogen wird und von wem, haben Sie schon eine Spur.«

Leiser Optimismus regte sich in Kelly.

»Welche Daten brauchen Sie dafür?«

»Sie haben Ihre eigene Kreditkarte benutzt, stimmt’s?«

Nick bejahte stumm.

»Dann brauche ich das Datum der Überweisung, den Betrag und die Nummer der Kreditkarte, mit der Sie bezahlt haben. Geben Sie mir die, und ich hole Ihnen unseren Mann.«