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Kelly sah zu dem Telefon auf ihrem Schreibtisch und wappnete sich. Sie hatte es mehrmals versucht und jedes Mal aufgelegt, bevor es am anderen Ende zu klingeln begann. Einmal hatte sie sogar gewartet, bis abgenommen wurde, und dann den Anruf schnell beendet. Ehe sie es sich jetzt wieder anders überlegen konnte, nahm sie das Telefon auf und wählte. Sie klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr und lauschte dem Klingelton. Einerseits wünschte sie sich, sie würde zur Mailbox weitergeleitet, andererseits wollte sie es endlich hinter sich bringen. Nick hatte sie alle in zehn Minuten in den Besprechungsraum beordert, und wahrscheinlich bot sich die nächste Chance für ein Privatgespräch erst sehr spät abends.

»Hallo?«

Beim Klang von Lexis Stimme spürte Kelly, wie sich ihre Kehle schlagartig zusammenzog und sie plötzlich kein Wort mehr hervorbrachte. Um sie herum machten sich alle fürs Briefing bereit, rafften ihre Notizen zusammen oder beugten sich über ihre Schreibtische, um die neuesten E-Mails zu lesen. Kelly erwog aufzulegen.

»Hallo?« Dann noch einmal, genervter. »Hallo?«

»Ich bin’s.«

»Oh. Warum sagst du denn nichts?«

»Entschuldige, da stimmt was mit der Verbindung nicht, glaube ich. Wie geht es dir?« Eine E-Mail leuchtete in ihrem Postfach auf, und Kelly bewegte die Maus, um sie zu öffnen. Sie war vom DI. Höre ich den Wasserkocher brodeln? Durch die offene Tür des Besprechungsraums konnte Kelly ihn an seinem BlackBerry sehen. Er blickte grinsend auf und ahmte mit der freien Hand eine Trinkbewegung nach.

»Gut. Und dir?«

Sie nickte dem DI zu und bedeutete ihm mit einem erhobenen Finger, nur eine Minute zu warten, doch er sah nicht mehr hin.

Das stockende Gespräch ging noch eine Weile weiter, bis Kelly es nicht mehr aushielt.

»Eigentlich rufe ich an, weil ich dir für morgen viel Spaß wünschen will.«

Stille. »Morgen?«

»Ist da nicht euer Ehemaligentreffen? In Durham?« Klang sie enthusiastisch? Kelly hoffte es sehr. Ihr widerstrebte der Gedanke, dass Lexi zu jenem Campus zurückkehrte, und sie selbst hätte das entsetzt abgelehnt. Dennoch musste sie akzeptieren, was Lexi ihr seit Jahren sagte: Es war nicht ihr Leben.

»Ja.« Da war ein misstrauischer Unterton, den Kelly ihrer Schwester nicht verübeln konnte.

»Tja, jedenfalls wünsche ich dir viel Spaß. Wetten, dass einige Leute sich kein bisschen verändert haben? Wer war noch mal das Mädchen, mit dem du im zweiten Jahr zusammengewohnt hast – das nichts außer Würstchen gegessen hat?« Sie bemühte sich, unbeschwert zu klingen, sprach aber zu schnell, sodass sich ihre Worte sich fast überschlugen. Egal. Wichtig war vor allem, dass sie Lexi bestärkte. Das hätte sie schon bei der ersten Erwähnung dieses Treffens tun sollen.

»Gemma, glaube ich.«

»Ja, die. Total schräg!«

»Was ist los? Warum rufst du wirklich an?«

»Um mich dafür zu entschuldigen, dass ich mich in dein Leben eingemischt und über deine Entscheidungen geurteilt habe.« Sie holte tief Luft. »Aber hauptsächlich dafür, dass ich an dem Abend damals nicht am Telefon geblieben bin.«

Lexi stieß einen kleinen Laut aus, wie ein erstickter Schrei tief in ihrer Kehle. »Nicht, Kelly, bitte. Ich will nicht …«

Sie klang so verzweifelt, dass Kelly fast das Thema wechselte, denn sie hasste es, Lexi wehzutun. Aber sie hatte schon viel zu lange nichts gesagt. »Lass mich einfach ausreden, und ich verspreche dir, dass ich es danach nie wieder erwähne.« Sie nahm Lexis Schweigen als Zustimmung. »Es tut mir leid, dass ich dich damals abgewimmelt habe. Du hattest Angst, und ich war nicht für dich da. Es vergeht kein Tag, an dem ich mich deshalb nicht schuldig fühle.«

Es war so still, dass Kelly befürchtete, Lexi hätte aufgelegt. Doch schließlich sagte sie etwas.

»Es war nicht deine Schuld, Kelly.«

»Aber hätte ich nur …«

»Es war nicht deine Schuld, dass du aufgelegt hast, und es war nicht meine Schuld, dass ich allein an dem Waldstück vorbeigegangen bin. Ich mache dir keinen Vorwurf und der Polizei auch nicht.«

»Sie hätten deine ersten Meldungen ernster nehmen müssen.«

»Kelly, es gibt nur einen einzigen Grund dafür, dass ich an diesem Abend vergewaltigt wurde: weil ein Mann entschieden hat, es zu tun. Ich weiß nicht, ob er es jemals vorher getan hatte oder es seither wieder getan hat. Und egal, ob das richtig oder falsch ist – es interessiert mich auch nicht. Es war ein Abend, eine Stunde meines Lebens, und ich habe Tausende mehr erlebt, die voller Licht, Glück und Freude waren.« Wie auf Kommando lachten Kellys Neffen im Hintergrund; es war ein ansteckendes, unkontrollierbares Kichern, bei dem ihr ganz warm wurde. »Niemand anders war schuld, Kelly.«

»Okay.« Mehr konnte sie nicht sagen, weil sie fürchtete, dann in Tränen auszubrechen. Jetzt wünschte sie, sie hätte Lexi vom Handy angerufen, anstatt an ihrem Schreibtisch festzuhängen, wo jeder sie sehen konnte. Sie schloss die Augen und legte die Hand an die Stirn. Im Hintergrund spielten Fergus und Alfie weiter, in deren Kichern sich nun empörte Rufe mengten, bei denen es um irgendein Spielzeug ging. Kelly konnte Lexi richtig vor sich sehen, wie sie in der Küche stand und die Jungen voller Energie, trotz einem Tag in Schule und Kindergarten, Legosteine um sie herum verteilten. Nichts an Lexis Leben war von der Vergangenheit bestimmt; sie lebte in der Gegenwart. Und es wurde Zeit, dass sie selbst das ebenfalls tat. Sie riss sich zusammen und sagte das Nächstbeste, was ihr einfiel, während Lexi gleichzeitig losredete.

»Was soll ich anziehen?«

»Was ziehst du an?«

Kelly grinste, denn sie erinnerte sich an die gemeinsame Schulzeit, als sie beide verlässlich die Sätze der jeweils anderen beenden konnten. Lexi behauptete damals immer, sie hätten besondere Zwillingskräfte, aber eigentlich lag es nur daran, dass sie so viel Zeit zusammen verbrachten. Die allerbesten Freundinnen.

»Ich muss leider Schluss machen«, sagte Kelly, als sie mitbekam, dass Nick wieder die Trinkgeste machte. »Gleich ist eine Besprechung. Erzähl mir, wie es gelaufen ist. Und ob Gemma inzwischen etwas anderes als Würstchen isst.«

Lexi lachte. »Danke für deinen Anruf. Ich hab dich lieb, weißt du?«

»Ich dich auch.«

Kelly schob die Tür mit dem Hintern auf und ging rückwärts in den Besprechungsraum, wobei sie ein Tablett balancierte, das bedenklich wacklig und verbogen war. »Der Schwarztee war fast alle, Lucinda, deshalb habe ich ein paar Beutel von deinem Kräutertee genommen, ist das okay?« Die Analystin reagierte nicht. Genau genommen sah niemand auf. »Es ist etwas passiert, oder?«, fragte Kelly.

»Cyber Crime hat eben ein neues Profil entdeckt«, sagte Nick. Er rückte seinen Stuhl zur Seite, um Kelly Platz zu machen, und Andrew Robinson deutete auf den Laptop vor sich.

»Nachdem Nicks Mitgliedschaft annulliert wurde, haben wir auf seine Anweisung hin einen neuen Account eingerichtet«, sagte Andrew. »Und das ging vor einer Viertelstunde ein.«

Die E-Mail war kurz: eine Zeile Text oben neben dem Foto einer blonden Frau.

Brandneuer Download: Nur heute GRATIS.

»Waren schon mal welche von den anderen gratis?«, fragte Kelly.

»Nur für Platin-Mitglieder. Keines der Profile hat je weniger als 200£ gekostet, und dies ist das erste Mal, dass uns ein neuer Eintrag eigens angekündigt wird. Soweit wir wissen, kamen die Ankündigungen bisher nur über die Anzeigen in der Gazette

Kelly las das Profil.

Weiß.
Achtzehn Jahre alt. Langes blondes Haar, blaue Augen.
Jeans, Halbstiefel, schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt, weite, in der Mitte gegürtete graue Strickjacke. Weißer, knielanger Steppmantel, auch mit Gürtel. Schwarze Handtasche mit vergoldetem Träger.
Konfektionsgröße 34–36.

15:30 Uhr: Betritt U-Bahn-Station Crystal Palace. Nimmt S-Bahn nach Canada Water, den ersten Wagen, und sitzt nahe den Türen. Steigt um in die Jubilee Line, geht den Bahnsteig hinunter bis zum Netzplan, wo Türen von #6 aufgehen. Setzt sich und liest in einer Zeitschrift. Steigt in Waterloo um, geht nach rechts und die Treppe hinunter zum Gleis 1, Richtung Norden mit Northern Line. Geht zur Bahnsteigmitte, nahe einer abgeschürften gelben Linie. Der mittlere Wagen öffnet seine Türen genau gegenüber. Steht an den Türen bis Leicester Square. Nimmt die Rolltreppe, dann den Ausgang drei zur Charing Cross Road.
Verfügbarkeit: NUR HEUTE.
Schwierigkeitsgrad: Eine echte Herausforderung!

»Eine Blind-Copy-Mail, also vermutlich an die ganze Mitgliederliste«, sagte Andrew und bewegte seinen Cursor zum Adressfeld, wo das »An«-Feld genau das bestätigte. Es entstand eine Pause, in der alle überlegten, was es bedeutete, wenn sich die gesamte Mitgliederliste von findtheone.com – wie lang sie auch sein mochte – das Profil dieser Frau und ihre Fahrzeiten herunterlud. Wie viele Männer saßen bereits vor ihren Computern oder sahen auf ihre Telefone und lasen exakt denselben Text? Und wie viele von ihnen würden in dem Wissen, dass diese Frau in London unterwegs war und nichts hiervon ahnte, einen Schritt weiter gehen?

»Können Sie das Bild vergrößern?«, fragte Kelly. Andrew tat es, bis die Vergrößerung den ganzen Bildschirm ausfüllte. Das Foto war ein Selfie von dem jungen Mädchen, das einen Schmollmund in Richtung Kamera machte; die blondgesträhnte Mähne hing ihr halb in die Augen. Der Weichzeichner legte nahe, dass das Bild von Instagram stammte oder aus irgendeinem anderen Grund bearbeitet worden war.

Kelly kannte das Bild nicht, wohl aber das Mädchen. Ihr fiel ein anderes Foto ein, aus dem ein Teil herausgeschnitten worden war. Sie hatte die Akte zu Operation FURNISS genau studiert, und sie wusste, dass sie dieses Mädchen schon mal gesehen hatte. Dasselbe blonde Haar, derselbe Schmollmund.

Sie drehte sich zu Nick um. »Die kenne ich. Das ist Zoe Walkers Tochter.«