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Eine halbe Stunde lang sitzen wir in der Norwood Road fest, wo der Verkehr so dicht ist, dass Graham nur vorwärtskriechen kann. Er ist ein ungeduldiger Fahrer, drängelt sich in jede freie Lücke, die er entdeckt, und wirft sich praktisch auf die Hupe, wenn es der Fahrer vor ihm wagt, auch nur eine Viertelsekunde zu zögern, bevor er sich an der Ampel in Bewegung setzt. Es ist schon der zweite Tag, den Graham mich nach Hause fährt, und uns ist der Gesprächsstoff ausgegangen, weil wie alle gängigen Themen erschöpft haben – ob die alte Videothek zum geforderten Preis weggeht und dass es nie genug Büroimmobilien mit Staffeletagen gibt, um die Nachfrage zu bedienen. Also sitzen wir schweigend im Wagen.

Ab und zu sage ich, wie unangenehm es mir ist, dass Graham meinetwegen solch einen Umweg macht, und er tut es jedes Mal ab.

»Ich kann nicht zulassen, dass Sie allein durch London wandern, wenn ein Perverser hinter Ihnen her ist«, sagt er.

Flüchtig geht mir durch den Kopf, dass ich nicht genauer gesagt hatte, was den anderen Frauen passiert ist; andererseits dürfte es eine naheliegende Annahme sein, wenn ein Mann Frauen stalkt.

Ich weiß, dass ich Matt bitten könnte, mich abzuholen, und er würde fraglos darauf bestehen, mich zur Arbeit und nach Hause zu fahren, solange es nötig ist. Aber ich frage nicht, weil Simon außer sich wäre und es Matt allzu gut gefiele.

Dass Matt mich immer noch liebt, ist eine unausgesprochene Tatsache, die uns alle immerfort umgibt. Matt und mich, wenn wir uns sehen, um über die Kinder zu reden, und er meinen Blick ein bisschen länger hält als nötig. Simon und mich, wenn ich Matts Namen fallen lasse und sehe, wie Eifersucht in Simons Augen aufblitzt.

Simon kann mich nicht fahren, denn er hat sein Auto vor einigen Wochen verkauft. Zu der Zeit hielt ich ihn für verrückt; auch wenn er das Auto in der Woche kaum nutzte, waren unsere Wochenenden dichtgepackt mit Großeinkäufen und Ikea-Ausflügen oder Fahrten nach außerhalb, um Freunde oder Verwandte zu besuchen.

»Wir können den Zug nehmen«, sagte er zu mir, als ich einwandte, dass uns das Auto fehlen wird. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass er es sich nicht mehr leisten konnte.

Hätte ich doch nur einen Führerschein! Mir schien er nie nötig, da ich ja in London lebe, aber jetzt wünsche ich mir, ich könnte selbst zur Arbeit fahren. Seit ich die Anzeigen entdeckt habe, bin ich dauernd in Alarmbereitschaft. Sämtliche Muskeln sind angespannt und warten darauf, dass ich rennen muss. Oder kämpfen. Ich sehe mich ständig um, beobachte jeden.

Hier in Grahams Wagen, wo ich weiß, dass mir niemand folgt, fühle ich mich sicher. Ich kann mich in das weiche Leder zurücklehnen und die Augen schließen, ohne mir Sorgen zu machen, dass ich beobachtet werde.

Der Verkehr wird fließender, nachdem wir über den Fluss sind. Die Heizung läuft, mir ist warm, und zum ersten Mal seit Tagen entspanne ich mich. Graham schaltet das Radio an, und ich höre Greg Burns von Capital FM zu, der Art Garfunkel interviewt. Am Schluss des Gesprächs wird »Mrs. Robinson« eingespielt, und ich denke, wie witzig es ist, dass ich mich immer noch an den Text erinnere, doch noch ehe ich die Worte im Kopf bilden kann, schlafe ich ein.

Ich bin abwechselnd halb wach, halb im Dämmerschlaf. Der Verkehrslärm verändert sich, und ich schrecke auf, um Momente später wieder einzunicken. Ich höre, wie ein neuer Song im Radio beginnt, schließe die Augen für einen scheinbaren Sekundenbruchteil, um zu den letzten Klängen eines völlig anderen Stücks wieder aufzuwachen.

Mein Unterbewusstsein verwechselt die Geräusche, die sich in meinen Schlaf drängen: die Busse, die Musik, die Radiowerbung. Das Motorbrummen des Wagens wird zum dumpfen Rumpeln einer U-Bahn, die Stimme des Moderators zu einer Ansage, die mich vor dem Spalt an der Bahnsteigkante warnt. Ich stehe in der U-Bahn, inmitten des Gedränges anderer Pendler. Die Luft riecht nach Aftershave und Schweiß. Das Aftershave kommt mir bekannt vor, und ich versuche es zuzuordnen, was mir nicht gelingt.

Erschienen: Freitag, 13. November

Weiß.

Ende dreißig.

Überall Augen. Sie beobachten mich. Sie folgen mir. Sie kennen jede Etappe meiner Fahrt. Der Zug hält, und ich will aussteigen, aber jemand drängt mich an die Wagenwand.

Schwierigkeitsgrad: mittel.

Es ist Luke Friedland. Er drückt sich fest gegen meine Brust. Ich habe Sie gerettet, sagt er, und ich will den Kopf schütteln, will mich bewegen. Der Aftershave-Geruch ist überwältigend, füllt meine Nase, erstickt mich.

Meine Augen sind geschlossen.

Warum sind meine Augen zu?

Ich öffne sie, aber der Mann, der sich gegen mich drückt, ist nicht Luke Friedland.

Ich bin nicht in einem Zug, nicht umgeben von Pendlern.

Ich bin in Graham Hallows Wagen.

Das ist Graham, dessen Gesicht direkt vor meinem ist, dessen Arm quer über meinem Oberkörper liegt und mich in den Sitz drückt. Es ist Graham, den ich rieche; diese holzige, zimtige Note, gemischt mit Körpergeruch und dem muffigen Geruch seines Tweed-Sakkos.

»Wo sind wir? Runter von mir!«

Der Druck auf meiner Brust verschwindet, aber ich ringe immer noch nach Luft; Panik macht meine Kehle eng, als würde ich gewürgt. Dunkelheit umgibt das Auto, dringt durch die Scheiben nach drinnen, und ich taste nach dem Türhebel.

Das plötzliche Licht blendet mich.

»Ich habe nur Ihren Gurt gelöst«, sagt Graham. Er hört sich wütend an, fast beleidigt.

Weil ich ihm einen Vorwurf gemacht habe?

Oder weil ich ihn aufgehalten habe?

»Sie waren eingeschlafen.«

Ich sehe nach unten und stelle fest, dass mein Gurt gelöst ist und der eine Riemen über meinem linken Arm hängt. Erst jetzt wird mir klar, dass wir in meiner Straße sind. Ich kann unsere Haustür sehen.

Prompt steigt mir Hitze ins Gesicht. »Es … Es tut mir leid.« Der Schlaf macht mich verwirrt. »Ich dachte …« Ich versuche, die Worte zu formen. »Ich dachte, Sie sind …« Ich kann es nicht sagen, und das muss ich auch nicht. Graham lässt den Motor an, und das Röhren beendet die Unterhaltung. Ich steige aus dem Wagen und fröstle; draußen ist es fünfzehn Grad kälter als drinnen. »Danke fürs Fahren. Und es tut mir leid, dass ich dachte …«

Er lässt mich auf dem Gehweg stehen und fährt weg.