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Kelly war auf dem Weg aus dem Besprechungsraum, als ihr Telefon läutete. Nummer unterdrückt bedeutete, dass es höchstwahrscheinlich die Einsatzzentrale war. Sie hielt das Telefon zwischen Ohr und rechter Schulter eingeklemmt, während sie den Reißverschluss ihrer Schutzweste zuzog.
»Kelly Swift.«
»Können Sie einen Anruf von einer Mrs. Zoe Walker annehmen?«, fragte die Stimme. Kelly hörte das Gemurmel anderer Stimmen im Hintergrund; ein Dutzend weiterer Vermittler, die Anrufe annahmen und Aufträge zuteilten. »Sie möchte mit jemandem über einen Diebstahl in der Circle Line reden – irgendwas, das aus einer Tasche geklaut wurde?«
»Dann müssen Sie sie zur Dip Squad durchstellen. Ich bin schon seit einigen Tagen nicht mehr bei der Einheit und wieder beim Neighbourhood Policing Team.«
»Da habe ich es versucht, aber es geht keiner ran. Ihr Name steht noch in dem Bericht, deshalb …« Die Stimme verebbte, und Kelly seufzte. Der Name Zoe Walker kam ihr nicht bekannt vor. Andererseits hatte sie in den drei Monaten bei der Dip Squad mit so vielen Opfern von gestohlenen Portemonnaies und Brieftaschen zu tun gehabt, dass sie sich unmöglich alle merken konnte.
»Stellen Sie sie durch.«
»Danke.« Die Vermittlung klang erleichtert, und nicht zum ersten Mal war Kelly dankbar, dass sie nicht an vorderster Front arbeitete, gefangen in einem fensterlosen Raum und Zielscheibe der wütenden Anrufe von aufgebrachten Bürgern. Sie hörte ein leises Klicken.
»Hallo? Hallo?« Eine neue Stimme erklang, diesmal weiblich und ungeduldig.
»Hallo, hier ist PC Swift. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Endlich! Man sollte meinen, dass ich versuche, beim MI5 anzurufen.«
»Nicht annähernd so aufregend, bedaure. Wie mir gesagt wurde, möchten Sie über einen Diebstahl in der U-Bahn reden. Was wurde Ihnen gestohlen?«
»Nicht mir«, sagte die Anruferin so langsam und betont, als hätte Kelly Mühe, dem Geschehen zu folgen. »Cathy Tanning. Aus dem Zeitungsartikel.«
Anrufe wie diesen gab es immer wieder, wenn Polizisten in der Presse zitiert wurden. Anrufe von Bürgern, die sich oft um die merkwürdigsten Themen drehten. Als würde man mit der Veröffentlichung des Namens und der Dienstnummer zum Ansprechpartner für jeden.
»Ihr wurden die Schlüssel aus der Tasche gestohlen, als sie auf dem Heimweg in der Bahn eingeschlafen war«, fuhr Mrs. Walker fort. »Nichts sonst, nur die Schlüssel.«
Ja, dachte Kelly. Daran konnte sie sich noch gut erinnern. Solche Formen von Diebstahl machten den Job tatsächlich ungewöhnlich. Anfangs war sie unsicher gewesen, ob der Vorfall ernsthaft als Diebstahl gemeldet werden sollte, doch Cathy hatte darauf beharrt, die Schlüssel nicht verloren zu haben.
»Ich habe sie immer in einem Seitenfach in meiner Tasche«, hatte sie Kelly erzählt. »Da können sie nicht rausgefallen sein.« Das Seitenfach befand sich außen an einer rucksackartigen Handtasche und war mit einem Reißverschluss und einer Lederschnalle gesichert, sodass die Schlüssel nicht rausfallen konnten. Beide Verschlüsse waren geöffnet worden.
In den Aufzeichnungen der Sicherheitskameras war zu sehen gewesen, wie Cathy in Shepherd’s Bush in die U-Bahn stieg – mit einer Rucksacktasche, die eindeutig verschlossen war. Als sie in Epping aus der Bahn stieg, hing die Schnalle lose herunter, und die kleine Tasche klaffte ein wenig auf.
Falltechnisch war die Sache unkompliziert. Cathy war die ideale Zeugin: Sie fuhr immer dieselbe Route von der Arbeit nach Hause, wählte sogar immer denselben Wagen der Circle Line und saß möglichst immer auf demselben Platz. Wäre jeder so berechenbar, hatte Kelly gedacht, würde es ihren Job um ein Vielfaches leichter machen. Sie hatte Cathy binnen Minuten in den Aufzeichnungen der Kameras gefunden, doch es war keiner der üblichen Verdächtigen, der sich im Gedränge an sie heranschlich. Die umtriebigsten Straftäter in der U-Bahn waren momentan die Curtis-Jungs, doch die griffen sich Brieftaschen und iPhones, keine Schlüssel.
Als Kelly sich das Bildmaterial von Cathy zur Tatzeit im Zug ansah, hätte sie den Diebstahl sogar fast übersehen.
Cathy hatte geschlafen, den Oberkörper an die Wagenwand gelehnt, die Beine überkreuzt und die Arme schützend um ihre Tasche geschlungen. Kelly war so sehr damit beschäftigt gewesen, die Aufnahmen aus der Bahn nach Jugendlichen mit Kapuzenpullis oder Frauenpaaren mit Kopftüchern und Babys auf den Armen abzusuchen, dass sie fast den Mann ignoriert hätte, der nahe an Cathys Beinen stand. Er passte auch nicht zum Profil des üblichen Taschendiebs, war groß, gut gekleidet und hatte einen grauen Schal zweimal um seinen Hals gewickelt und nach oben gezogen, sodass er seine Ohren und die untere Gesichtspartie bedeckte. Als wäre er noch draußen und müsste den Elementen trotzen. Er stand mit dem Rücken zur Kamera, das Gesicht nach unten geneigt. In einer fließenden Bewegung beugte er sich zu Cathy Tanning und richtete sich gleich wieder auf. Dann verschwand seine rechte Hand so schnell in seiner Jackentasche, dass Kelly nicht erkennen konnte, was er darin hielt.
Hatte er gedacht, dass ein Portemonnaie in der Außentasche steckte? Oder ein Telefon? Ein kurzer Glücksgriff, gefolgt von Enttäuschung, als er feststellen musste, dass er nur ein Schlüsselbund ergattert hatte? Nahm er seine Beute trotzdem mit, weil es zu riskant war, die Schlüssel wieder zurückzustecken, und warf sie auf dem Nachhauseweg irgendwo in einen Mülleimer?
An ihrem letzten Tag bei der Dip Squad hatte Kelly versucht, Cathys Dieb durch das U-Bahn-Netz zu folgen. Leider konnte sie nur eine Frontalaufnahme von ihm finden, die so körnig war, dass es keinen Sinn hätte, sie unter den Mitarbeitern zu verteilen. Er war Asiate; das war das Einzige, was sie mit Sicherheit sagen konnte, und ungefähr einen Meter achtzig groß. Die Sicherheitskameras filmten in Farbe, und die Qualität war beeindruckend – man hätte fast glauben können, dass man einen Nachrichtenbeitrag über Pendler ansah – aber leider garantierten sie keine verlässliche Identifizierung. Was direkt im Bildzentrum war, konnte man deutlich sehen, doch die Straftaten fanden – wie in diesem Fall – zu oft am Rand des Kamerafelds statt. Zoomte man näher heran, verpixelte das Bild, bis alle Details zu einem körnigen Schleier verschwammen. Mit solchen Aufnahmen hatte man nicht den Hauch einer Chance auf eine klare Identifizierung.
»Waren Sie Zeugin des Taschendiebstahls?«, fragte Kelly jetzt und konzentrierte sich wieder auf Zoe Walker. Sicher hätte die Frau sich schon früher gemeldet, wenn sie gesehen hatte, wie es passierte. Aber vielleicht hatte Mrs. Walker auch die Schlüssel gefunden; dann könnte die Spurensicherung sie sich vornehmen.
»Ich habe Informationen für Sie«, sagte Zoe Walker. Sie sprach förmlich und kurz angebunden, fast schon unhöflich. Allerdings war da eine Note von Unsicherheit, also war sie vermutlich nur nervös.
»Und welche?«, fragte Kelly ruhig.
Ihr Sergeant erschien und tippte auf seine Armbanduhr. Kelly zeigte auf ihr Telefon und sagte tonlos: Eine Minute.
»Das Opfer, Cathy Tanning. Ihr Foto war in einer Kleinanzeige in der London Gazette, direkt bevor ihre Schlüssel gestohlen wurden.«
Kelly setzte sich. Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. »Was für eine Anzeige?«
»Weiß ich nicht genau. Sie ist auf der Seite mit den Anzeigen für Sex-Hotlines und Begleitservices. Und am Freitag habe ich dieselbe Anzeige schon mal gesehen, nur dass in der ein Foto von mir war, glaube ich.«
»Glauben Sie?« Kelly konnte ihre Skepsis nicht verbergen, und sie hörte, wie Zoe Walker zögerte.
»Na ja, es sah aus wie ich, nur ohne Brille. Obwohl ich manchmal Kontaktlinsen trage – diese Einmal-Linsen, Sie wissen schon.« Sie seufzte. »Sie glauben mir nicht, oder? Sie halten mich für eine Irre.«
Das kam Kellys Vermutung so nahe, dass sie prompt ein schlechtes Gewissen bekam. »Nein, überhaupt nicht. Ich versuche nur, die Fakten zu klären. Können Sie mir sagen, wann genau Sie diese Anzeigen gesehen haben?« Sie wartete, während Zoe Walker in den Kalender sah, und notierte dann die zwei Daten: Dienstag, 3. November, Cathy Tannings Foto, und Freitag, 13. November, Zoes. »Ich sehe mir das mal an«, versprach Kelly, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wann sie die Zeit dazu finden wollte. »Ich kümmere mich darum.«
»Nein.« Paul Powell war unerbittlich. »Sie hatten Ihre drei Monate in Zivil, während wir anderen Ihre Arbeit miterledigen durften. Jetzt machen Sie mal wieder richtige Polizeiarbeit.«
Kelly biss sich auf die Zunge, denn mit Sergeant Powell verdarb man es sich lieber nicht. »Ich möchte doch nur mit Cathy Tanning reden«, sagte sie schließlich und hasste sich für den flehenden Unterton in ihrer Stimme. »Danach bin ich wieder hier.« Nichts war frustrierender als offene Fragen. Und obwohl Zoe Walker bestenfalls schwammig geklungen hatte, nagte etwas an Kelly. Könnte Cathys Foto in den Kleinanzeigen aufgetaucht sein? Könnte es sein, dass sie kein willkürliches Opfer, sondern gezielt ausgespäht worden war? Per Anzeige gesucht sogar? Das war schwer vorstellbar.
»Das ist nicht mehr Ihr Job. Wenn es noch etwas zu klären gibt, soll das die Dip Squad übernehmen. Falls Sie nicht ausgelastet sind, sagen Sie mir einfach Bescheid …« Kelly hob beide Hände. Sie wusste, wann sie es gut sein lassen musste.
Cathy Tanning hatte ein Haus in Epping, nicht weit von der U-Bahn-Station. Als Kelly sich vorhin bei ihr gemeldet hatte, hatte sie sich erfreut angehört und vorgeschlagen, sich nach der Arbeit in einer Weinbar in der Sefton Street zu treffen. Kelly war sofort einverstanden gewesen, denn wenn sie einer Spur in einem Fall folgen wollte, mit dem sie offiziell nichts mehr zu tun hatte, war sie auf sich gestellt.
»Also haben Sie sie nicht gefunden?«, fragte Cathy jetzt. Sie war siebenunddreißig Jahre alt, Ärztin in einer Praxis bei Shepherd’s Bush und hatte eine direkte Art, von der Kelly annahm, dass sie einigen Patienten sauer aufstoßen dürfte. Ihr hingegen gefiel das.
»Nein, leider nicht.«
»Schon gut. Ich hatte eigentlich auch nicht damit gerechnet. Aber Sie machen mich neugierig. Was ist das mit der Anzeige?«
Die Empfangssekretärin bei der Gazette war überraschend hilfsbereit gewesen und hatte Farbkopien von allen Anzeigenseiten an den Tagen gemailt, die Zoe Walker genannt hatte. Kelly hatte sie sich während der U-Bahn-Fahrt angesehen und schnell das Foto gefunden, auf dem Zoe Walker Cathy wiedererkannt hatte.
Nur wenige Tage vorher war Kelly dabei gewesen, als der Fotograf von Metro mehrere Aufnahmen von Cathy gemacht hatte. Da war ihr aufgefallen, wie Cathys Pony nach rechts fiel und sie die Stirn leicht runzelte. Das Foto in der Gazette wies tatsächlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihr auf.
Kelly legte die ausgeschnittene Anzeige vor Cathy auf den Tisch und beobachtete deren Reaktion aufmerksam. Unter dem Foto stand so gut wie nichts, doch die Anzeige war umgeben von Werbung für Escort-Services und Sex-Hotlines, sodass es schien, als würde diese Anzeige für einen ähnlichen Service werben. Betrieben Ärztinnen nebenberuflich Sex-Hotlines? Oder waren als Callgirls unterwegs?
Nach dem Erhalt der Kopien hatte Kelly als Erstes die Internetadresse in ihren Browser getippt – findtheone.com. Die führte sie zu einer leeren Website mit einem weißen Kasten in der Mitte; anscheinend musste man ein Passwort eingeben, um die Seite zu öffnen. Es gab keinerlei Hinweis, um was für eine Website es sich handelte oder wie man an das Passwort gelangte.
Cathys Überraschung war echt. Zunächst blieb sie stumm, dann lachte sie nervös, nahm die Anzeige auf und sah sie sich genauer an. »Die hätten ruhig einen schmeichelhafteren Winkel wählen können, nicht?«
»Dann sind Sie das?«
»Auf jeden Fall ist es mein Wintermantel.«
Das Foto war aus nächster Nähe aufgenommen worden, der Hintergrund dunkel und nicht zu erkennen. Irgendwo drinnen, dachte Kelly, auch wenn sie nicht sagen könnte, warum sie sich dessen so sicher war. Cathy blickte in Richtung der Kamera, aber hatte einen versonnenen Blick, als wäre sie in Gedanken woanders. Die Schulterpartie eines dunkelbraunen Mantels war zu sehen sowie eine pelzumrandete Kapuze hinter ihrem Kopf.
»Haben Sie dieses Bild schon mal gesehen?«
Cathy schüttelte den Kopf. Kelly entging nicht, dass die Ärztin bei aller Selbstsicherheit verstört war.
»Und ich vermute, dass Sie diese Anzeige nicht aufgegeben haben.«
»Ehrlich, die Arbeitsbedingungen beim National Health Service mögen nicht die besten sein, aber noch bin ich nicht so weit, dass ich beruflich umsatteln will.«
»Sind Sie bei irgendeiner Partnervermittlung registriert?«, fragte Kelly. Cathy sah sie grinsend an. »Entschuldigen Sie die Frage, aber ich überlege, ob die Fotos von einer anderen Website kopiert sein könnten.«
»Nein, keine Partnervermittlung«, sagte Cathy. »Ich habe gerade erst eine längere Beziehung hinter mir, und offen gesagt liegt mir derzeit nichts ferner, als mich auf eine neue einzulassen.« Sie legte die Kopie hin, trank einen Schluck Wein und sah Kelly an. »Sagen Sie ehrlich: Muss ich mir Sorgen machen?«
»Weiß ich nicht«, antwortete Kelly wahrheitsgemäß. »Diese Anzeige erschien zwei Tage vor dem Diebstahl Ihrer Schlüssel, und ich habe erst vor wenigen Stunden hiervon erfahren. Die Frau, die das Foto entdeckte – Zoe Walker – glaubt, dass sie ihr eigenes Bild in der London Gazette von Freitag gesehen hat.«
»Wurde ihr auch etwas gestohlen?«
»Nein, aber verständlicherweise ist ihr nicht wohl dabei, dass ihr Foto in der Zeitung war.«
»Geht mir genauso.« Cathy stockte, als müsste sie überlegen, ob sie mehr sagen wollte. »Die Sache ist die, Kelly, dass ich in den letzten Tagen schon daran dachte, Sie anzurufen.«
»Und warum haben Sie es nicht?«
Cathy sah Kelly direkt an. »Ich bin Ärztin. Ich beschäftige mich mit Fakten, nicht Fantasien. Ich wollte Sie anrufen, aber … Ich war mir nicht sicher.«
»Sicher in Bezug auf was?«
Noch eine Pause.
»Ich glaube, dass jemand in meinem Haus gewesen ist, während ich bei der Arbeit war.«
Kelly sagte nichts und wartete, dass Cathy fortfuhr.
»Sicher bin ich mir nicht. Es ist eher … eher ein Gefühl.« Cathy verdrehte die Augen. »Ich weiß, das wäre vor Gericht völlig wertlos, nicht? Genau deshalb habe ich es nicht gemeldet. Aber als ich neulich von der Arbeit kam, hätte ich schwören können, dass es im Flur nach Aftershave roch, und als ich nach oben ging, um mich umzuziehen, war der Deckel vom Wäschekorb offen.«
»Könnten Sie den offen gelassen haben?«
»Kann sein, ist aber unwahrscheinlich. Ich klappe ihn immer zu, ganz automatisch, wie man das so macht.« Sie verstummte kurz. »Ich glaube, dass etwas von meiner Unterwäsche fehlt.«
»Sie haben doch die Schlösser ausgetauscht, oder nicht?«, fragte Kelly. »Als Sie uns den Diebstahl meldeten, haben Sie gerade auf den Schlüsseldienst gewartet, soweit ich mich erinnere.«
Cathy wurde verlegen. »Ich habe das Schloss vorne in der Haustür auswechseln lassen, nicht das in der hinteren Tür. Das wären nochmal hundert Pfund gewesen, und ehrlich gesagt hielt ich es für überflüssig. An meinem Schlüsselbund war nichts, das meine Adresse verriet, deshalb kam es mir wie Geldverschwendung vor.«
»Und jetzt …?« Kelly ließ die Frage unbeendet.
»Jetzt wünsche ich mir, ich hätte doch beide Schlösser ausgetauscht.«