12

Die Polizeistelle in der Cannon Street ist ganz in der Nähe von meinem Büro. Ich muss schon tausendmal an ihr vorbeigekommen sein, ohne es zu bemerken. War ja bisher nie nötig. Trotz der Tabletten morgens sind meine Kopfschmerzen nicht besser geworden. Außerdem tun mir die Knochen weh, was nicht an dem Kater liegt. Ich habe mir irgendwas eingefangen, und schlagartig fühle ich mich noch elender, als hätte allein der Gedanke dem Virus erlaubt, richtig loszulegen.

Meine Handflächen sind klamm an dem Türgriff, und mich überkommt dieser groteske Anflug von Panik, der gesetzestreue Bürger heimsucht, wenn ein Streifenwagen vorbeifährt. Justin hat sich seit Jahren keinen Fehltritt mehr geleistet, doch ich erinnere mich noch klar und deutlich an den ersten Anruf von der Polizei.

Ich weiß nicht, wann Justin mit dem Klauen angefangen hatte, doch ich weiß, dass es nicht das erste Mal war, als er festgenommen wurde. Zuerst stiehlt man doch irgendwelche Kleinigkeiten, oder nicht? Süßigkeiten oder eine CD. Man klaut keine 25er-Packung Rasierklingen, wenn man viel zu jung zum Rasieren ist. Man trägt keine Jacke mit sorgsam eingeschnittenem Futter oben, in dem man die Sachen verschwinden lassen kann. Justin wollte kein Wort zu den anderen sagen. Er gab den Diebstahl zu, verriet aber nicht, für wen er klaute oder was er mit den Rasierklingen wollte. Er kam mit einer Verwarnung davon, die er achselzuckend abtat, als würde es sich um einen Tadel in der Schule handeln.

Matt war wütend. »Das steht jetzt ewig in deiner Akte!«

»Fünf Jahre«, sagte ich und versuchte, mich an das zu erinnern, was sie bei der Polizei gesagt hatten. »Danach wird der Vermerk gelöscht, und er muss es nur noch angeben, wenn ihn ein Arbeitgeber direkt darauf anspricht.« Melissa wusste natürlich schon Bescheid, genauso wie sie von den Schlägereien wusste, in die er geriet, und von der Sorge, die ich um ihn hatte, als ich eine Tüte mit Gras in seinem Zimmer fand.

»Er ist ein Jugendlicher«, hatte sie damals gesagt und mir ein Glas Wein eingeschenkt, das ich dringend brauchte. »Da wächst er wieder raus.« Und das ist er. Oder er wurde besser darin, sich nicht erwischen zu lassen. So oder so hat die Polizei seit seinem neunzehnten Geburtstag nicht mehr bei uns angeklopft. Jetzt sehe ich Justin im Geiste vor mir, wie er eine von Melissas schicken Schürzen trägt, Sandwiches macht und mit Kunden plaudert. Bei dem Bild muss ich lächeln.

Der Diensthabende vorn sitzt hinter einer Glasscheibe, wie man sie von Postschaltern kennt. Er spricht durch einen Schlitz mit mir, der gerade groß genug ist, um Papiere oder kleine Gegenstände hindurchzuschieben.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt er in einem Tonfall, als wäre es das Letzte, worauf er Lust hat. Von den Kopfschmerzen ist mein Verstand ein bisschen vernebelt, und ich suche nach den richtigen Worten.

»Ich habe Informationen zu einem Mord.«

Der Officer wirkt vage interessiert. »Und weiter?«

Ich schiebe den Zeitungsausschnitt durch den Schlitz, dessen eine Ecke mit einem eingetrockneten Kaugummi verklebt ist. Jemand hat es mit blauem Kugelschreiber bemalt. »Das ist der Bericht über einen Mord in Muswell Hill in der London Gazette von heute.«

Er überfliegt den ersten Absatz und bewegt stumm die Lippen. Ein Funkgerät knistert und rauscht neben ihm auf dem Schreibtisch. In der Gazette stehen so gut wie keine Einzelheiten. Tania Beckett war Referendarin an einer Grundschule in der Holloway Road. Sie nahm die Northern Line von Archway bis Highgate gegen halb vier nachmittags, dann den 43er-Bus bis Cranley Gardens. Ich wollte sie an der Bushaltestelle abholen, wird ihr Freund in dem Artikel zitiert, aber es hat geregnet, und sie meinte, ich soll lieber zu Hause bleiben. Ich würde alles tun, um die Zeit zurückzudrehen. Es ist ein Foto von ihm in der Zeitung, wie er den Arm um Tania gelegt hat, und unweigerlich frage ich mich, ob hier ein Mörder zu sehen ist. Das sagen sie doch immer, oder? Die meisten Mordopfer kennen ihre Mörder.

Ich schiebe den zweiten Zeitungsausschnitt durch den Schlitz. »Und das ist eine Anzeige aus der Gazette von gestern.« Weiße Punkte tanzen vor meinen Augen, und ich blinzle sie weg. Vorsichtig berühre ich meine Stirn mit den Fingern; sie sind heiß, als ich sie wieder herunternehme.

Der Officer sieht von einem Ausschnitt zum anderen. Er hat das Pokerface von jemandem, der schon alles gesehen hat, und ich rechne schon damit, dass er mir erzählt, ich würde mir die Ähnlichkeit einbilden; dass das dunkelhaarige Mädchen mit dem Kreuz an ihrem Hals nicht die fünfundzwanzigjährige Tania Beckett ist.

Aber das sagt er nicht. Stattdessen nimmt er das Telefon auf und drückt die Null; während er wartet, dass sich jemand meldet, sieht er mich direkt an. Dann sagt er: »Stellst du mich mal bitte zu DI Rampello durch?«

Ich schreibe Graham, dass ich mich mit irgendwas angesteckt habe und nicht zurück zur Arbeit komme. Dann trinke ich lauwarmes Wasser, lehne meinen Kopf an die kühle Wand und warte, dass jemand kommt, um mit mir zu sprechen.

»Entschuldigen Sie«, sagt der Polizist vom Empfang nach einer Stunde. Er hat sich als Derek vorgestellt, aber ihn so anzusprechen, kommt mir zu vertraulich vor. »Ich weiß nicht, warum er so lange braucht.«

»Er« ist Detective Inspector Nick Rampello, der, wie Derek erzählt, von der »North West MIT« herkommen wird. Derek entschuldigte sich gleich für seinen Jargon. »Murder Investigation Team, die Mordkommission. Das ist die Abteilung, die den Tod der jungen Frau untersucht.«

Ich kann nicht aufhören zu zittern. Immer wieder starre ich die beiden Bilder von Tania an und frage mich, was zwischen der Veröffentlichung ihres Fotos in der Gazette und dem Fund ihrer Leiche im Park in Muswell Hill geschehen sein mag.

Und ich frage mich auch, ob ich die Nächste bin.

Das am Freitag in der Gazette war mein Foto. Ich habe es sofort erkannt, als ich es sah, und ich hätte mich nie davon abbringen lassen dürfen. Wäre ich gleich zur Polizei gegangen, hätte es vielleicht etwas geändert.

Es musste eine Verbindung geben. Tania Beckett wurde vierundzwanzig Stunden nach dem Erscheinen ihrer Anzeige ermordet; bei Cathy Tanning lagen achtundvierzig Stunden zwischen dem Foto und dem Diebstahl ihrer Schlüssel. Es ist fünf Tage her, seit ich mein eigenes Foto gesehen habe; wie lange noch, bis mir etwas passiert?

Ein Mann kommt herein und zeigt seine Führerscheinunterlagen vor.

»Was für eine Zeitverschwendung«, sagt er laut, während der Officer ein Formular ausfüllt. »Ihre und meine Zeit.« Er sieht zu mir, als hoffe er auf Unterstützung, doch ich reagiere genauso wenig wie Derek. Er sieht sich den Führerschein des Mannes an und schreibt einige Daten so langsam ab, dass ich es für Absicht halte. Ich stelle fest, dass ich Derek mag. Als er fertig ist, steckt der Mann seinen Führerschein in die Brieftasche.

»Tausend Dank auch«, sagt er in einem Ton, der vor Sarkasmus trieft. »So verbringe ich meine Mittagspause immer wieder am liebsten.«

Nach ihm kommt eine Frau mit einem schreienden Kleinkind auf dem Arm, die nach dem Weg fragt, dann ein alter Mann, der seine Brieftasche verloren hat. »An der Station Bank hatte ich sie noch«, sagt er, »als ich aus der U-Bahn stieg. Aber irgendwo auf dem Weg zum Fluss ist sie …« Er blickt sich um, als könne die Brieftasche wie von Zauberhand auf dem Polizeirevier auftauchen. »… ist sie verschwunden.« Ich schließe die Augen und wünsche mir, ich wäre wegen so einer Lappalie hier. Dass ich einfach wieder rausgehen könnte und nichts als leichte Verärgerung empfinden.

Derek notiert sich Namen und Anschrift des Mannes sowie die Beschreibung der Brieftasche. Ich bemühe mich, langsam und tief zu atmen. Würde sich DI Rampello doch nur beeilen!

Der Brieftaschenmann geht, und noch eine Stunde verstreicht. Schließlich greift Derek nach dem Telefon. »Sind Sie unterwegs? Ich meine, sie wartet schon seit heute Mittag hier.« Während er die Antwort anhört, sieht er zu mir, doch ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. »Sicher, ja. Ich sage es ihr.«

»Er kommt nicht, stimmt’s?« Ich fühle mich zu krank, um mich über die vergeudete Zeit zu ärgern. Was hätte ich denn stattdessen gemacht? Mehr Arbeit hätte ich sowieso nicht erledigt bekommen.

»Anscheinend halten ihn dringende Ermittlungen auf. Wie Sie sich sicher denken können, ist bei denen eine Menge los. Er lässt Ihnen ausrichten, dass es ihm sehr leidtut und er sich bei Ihnen meldet. Ich gebe ihm Ihre Telefonnummer.« Er sieht mich genauer an. »Sie sehen nicht gut aus, meine Liebe.«

»Alles okay«, sage ich, was eine glatte Lüge ist. Ich rede mir ein, dass ich keine Angst habe, nur krank bin, aber meine Hände zittern, als ich mein Telefon hervorhole und durch die Kontakte scrolle.

»Bist du zufällig in der Nähe der Cannon Street? Mir geht es nicht gut, und ich denke, ich muss nach Hause.«

»Bleib wo du bist, Zo«, sagt Matt sofort. »Ich komme dich abholen.«

Er sagt, dass er gleich um die Ecke ist, doch es vergeht eine halbe Stunde, also stimmte es wohl nicht. Ich fühle mich schlecht, wenn ich an die Einnahmen denke, die ihm meinetwegen verlorengehen. Endlich geht die Tür auf, und beschämt stelle ich fest, dass mir die Tränen kommen, als ich sein vertrautes Gesicht sehe.

»Holen Sie Ihre Frau ab?«, fragt Derek. Mir fehlt die Kraft, ihn zu korrigieren, und Matt ist es egal. »Eine doppelte Dosis heiße Zitrone und ein Tropfen Whisky, das ist es, was sie braucht«, fährt Derek fort. »Hoffentlich geht es Ihnen bald wieder besser, meine Liebe.«

Matt setzt mich in sein Taxi, als sei ich ein zahlender Fahrgast, und dreht die Heizung voll auf. Ich konzentriere mich aufs Atmen und versuche, mein entsetzliches Zittern zu zügeln.

»Seit wann fühlst du dich schon so?«

»Seit heute Morgen. Erst dachte ich, es ist ein Kater, aber so viel habe ich gestern Abend gar nicht getrunken. Dann wurden die Kopfschmerzen schlimmer, und ich fing an, zittrig zu werden.«

»Grippe«, diagnostiziert er, ohne zu zögern. Wie die meisten Taxifahrer, ist auch Matt ein Fachmann für alles. Er beobachtet mich im Rückspiegel, und sein Blick wandert zwischen der Straße und mir hin und her. »Was wolltest du bei der Polizei?«

»Gestern Abend gab es einen Mord. In einem Park nahe Cranley Gardens.«

»Crouch End?«

»Ja. Sie wurde erdrosselt.« Ich erzähle ihm von den Anzeigen in der London Gazette, von meinem Foto und dem von Tania Beckett.

»Bist du sicher, dass es dieselbe Frau ist?«

Ich nicke, obwohl er nicht zu mir sieht. Er atmet durch zusammengebissene Zähne ein und schwenkt das Steuer scharf nach links, um durch Einbahnstraßen zu fahren, die so eng sind, dass ich nur die Hand aus dem Fenster strecken müsste, um die Hausmauern zu berühren.

»Wo fahren wir hin?«

»Der Verkehr ist ein Albtraum. Was hat die Polizei gesagt?«

Ich sehe nach draußen, versuche mich zu beruhigen, aber ich bin nicht sicher, wo wir sind. Kinder kommen aus der Schule, manche allein, andere an den Händen ihrer Mütter.

»Sie haben den zuständigen Detective Inspector angerufen, aber er ist nicht gekommen.«

»Typisch.«

»Ich habe Angst, Matt.«

Er sagt nichts. Mit Gefühlen konnte er noch nie gut umgehen.

»Wenn es wirklich mein Foto in der Zeitung war, dann wird mir irgendwas passieren. Etwas Schlimmes.« Mein Hals kratzt, und ein dicker Kloß macht das Schlucken fast unmöglich.

»Denkt die Polizei, dass es einen Zusammenhang zwischen den Anzeigen und diesem Mord gibt?«

Endlich kommen wir aus dem Gewirr winziger Straße, und ich sehe den Kreisverkehr vom South Circular. Wir sind fast zu Hause. Meine Augen brennen so sehr, dass es wehtut, sie offen zu halten. Ich blinzle immer wieder, um sie ein bisschen zu befeuchten.

»Der Polizist schien mich ernst zu nehmen«, sage ich. Es fällt mir schwer, mich auf das zu konzentrieren, was er sagt. »Aber ich weiß nicht, ob der Detective Inspector das auch tut. Ich habe ihm noch nichts von meinem Foto erzählt. Dazu bin ich nicht gekommen.«

»Was für ein schräger Mist, Zo.«

»Wem sagst du das? Ich dachte zuerst, ich werde irre, als ich das Bild sah. Simon denkt das immer noch.«

Matt sieht mich streng an. »Glaubt er dir nicht?«

Ich könnte mir in den Hintern treten. Als bräuchte Matt noch mehr Munition gegen Simon!

»Er denkt, dass es eine logische Erklärung gibt.«

»Und was denkst du?«

Ich antworte nicht. Ich denke, dass mich jemand umbringen will.

Wir halten vor dem Haus, und ich öffne meine Handtasche. »Lass mich dir ein bisschen was bezahlen.«

»Passt schon.«

»Nein, du musst mich nicht gratis fahren, Matt. Das ist nicht fair …«

»Ich will dein Geld nicht, Zo«, fährt er mich an. »Steck es wieder ein.« Dann wird sein Ton sanfter. »Warte, ich helfe dir nach drinnen.«

»Ich komme klar.« Doch als ich aussteige, geben meine Knie nach, und er fängt mich auf, bevor ich hinfalle.

»Sicher doch.« Er nimmt meine Schlüssel, schließt die Haustür auf und zögert.

»Ist okay«, sage ich. »Simon ist bei der Arbeit.« Ich bin zu krank, um mich illoyal zu fühlen. Nachdem ich meine Handtasche und den Mantel übers Geländer gehängt habe, hilft Matt mir nach oben. Dort bleibt er an der Treppe stehen, weil er nicht weiß, welches mein Schlafzimmer ist. Ich zeige auf die Tür neben Katies. »Den Rest schaffe ich allein«, sage ich, doch Matt öffnet die Tür und bringt mich hinein.

Er zieht die Tagesdecke auf der linken Seite weg, wo ich immer schlief, als wir verheiratet waren. Jetzt sind Simons Sachen auf dem Nachttisch: sein Buch, eine Ersatzlesebrille, ein kleines Ledertablett für seine Uhr und Kleingeld aus seiner Hosentasche. Falls Matt es bemerkt, erwähnt er es nicht.

Ich lege mich vollständig bekleidet ins Bett.

Simon weckt mich. Draußen ist es dunkel, und er schaltet die Nachttischlampe an. »Du schläfst schon, seit ich nach Hause gekommen bin. Bist du krank?« Er flüstert und hat mein Handy in einer Hand. »Hier ist ein Polizist am Telefon. Was ist los? Ist etwas passiert?« Ich fühle mich heiß und klebrig, und als ich den Kopf hebe, tut es weh. Simon hält das Telefon weg, sodass ich nicht danach greifen kann. »Warum ruft dich die Polizei an?«

»Das erkläre ich dir später.« Meine Stimme versagt bei der letzten Silbe, und ich huste, um sie wieder zu aktivieren. Widerwillig gibt Simon mir das Telefon und setzt sich aufs Bett. Ich bin noch fiebrig, doch es geht mir schon etwas besser, nachdem ich geschlafen habe.

»Hallo«, melde ich mich. »Hier ist Zoe Walker.«

»Mrs. Walker, hier ist DI Rampello von der Mordkommission. Wie ich höre, wollten Sie mich sprechen.«

Er klingt abgelenkt. Gelangweilt oder müde. Oder beides.

»Ja«, sage ich. »Ich bin jetzt zu Hause, falls Sie vorbeikommen wollen.«

Simon hebt die Hände und fragt tonlos: »Was ist passiert?«

Ich schüttle den Kopf und ärgere mich über die Unterbrechung. Der Empfang hier im Haus ist schlecht, und ich will nichts verpassen, was DI Rampello sagt.

»… wohl alles, was ich vorerst brauche.«

»Verzeihung, was haben Sie gesagt?«

»Stimmt es, dass Sie Tania Beckett nicht gekannt haben?«

»Das stimmt, aber …«

»Dann wissen Sie nicht, ob sie als Escort-Dame gearbeitet oder eine Sex-Hotline betrieben hat?«

»Nein.«

»Okay.« Er ist schroff und spricht schnell, als sei ich nur eine auf einer langen Liste von Leuten, die er heute Abend noch anrufen muss. »Und Tanias Foto war gestern in einer Hotline-Anzeige in der London Gazette, in der Ausgabe vom sechzehnten November, ist das richtig?«

»Ja.«

»Und Sie haben sich an uns gewandt, als Sie ihr Foto heute Morgen in den Nachrichten wiedererkannten?«

»Ja.«

»Das ist sehr hilfreich. Vielen Dank für Ihre Zeit.«

»Aber wollen Sie denn nicht mit mir reden? Eine Aussage aufnehmen?«

»Wenn wir noch etwas brauchen, melden wir uns.« Er legt auf, während ich gerade den Mund öffne, um noch etwas zu sagen. Inzwischen wirkt Simon eher sauer als verwirrt.

»Erklärst du mir bitte, was los ist?«

»Es geht um das Mädchen«, antwortete ich. »Die junge Frau, die ermordet wurde. Das Bild, das ich dir heute Morgen gezeigt habe.«

Sobald der Bericht im Fernsehen zu Ende war, bin ich heute Morgen hochgelaufen und habe Simon wachgerüttelt, um ihm alles zu erzählen. Ich war so aufgeregt, dass ich stammelte.

»Was ist, wenn das alles mit den Anzeigen zu tun hat, Si?«, fragte ich, und meine Stimme kippte. »Was ist, wenn jemand Fotos von Frauen in die Zeitung setzt, die er ermorden will, und ich die Nächste bin?«

Simon nahm mich linkisch in die Arme. »Schatz, meinst du nicht, du übertreibst ein bisschen? Ich habe irgendwo gelesen, dass jedes Jahr hundert Menschen in London ermordet werden. Jedes Jahr! Das sind – wie viel? – ungefähr acht im Monat. Es ist furchtbar, keine Frage, aber das hat nichts mit einem Gratisanzeigenblatt zu tun.«

»Ich gehe heute Mittag zur Polizei«, erwiderte ich. Ihm war deutlich anzusehen, dass er mich für übergeschnappt hielt.

»Hat die Polizei dich ernst genommen?«, fragt er jetzt. Er sitzt am Fußende des Betts und drückt meine Zehen. Ich ziehe den Fuß weg.

»Der Polizist am Empfang war nett. Er hat den zuständigen Detective angerufen, aber der kam nicht, und jetzt sagt er nur, dass sie alles von mir haben, was sie brauchen, und sich wieder melden, falls sie mich nochmal sprechen wollen.« Mir kommen die Tränen. »Aber die wissen noch nichts von den anderen Fotos – von Cathy Tannings und meinem!« Ich fange an zu weinen. Mein Schädel pocht, und ich kann nicht klar denken.

»Schhh.« Simon streicht mir übers Haar und dreht mein Kissen um, damit die kühlere Seite oben ist. »Soll ich die nochmal anrufen?«

»Ich habe nicht mal ihre Nummer. Er hat nur gesagt, dass er von der Mordkommission ist.«

»Die Nummer finde ich schon heraus. Lass mich dir ein paar Tabletten und ein Glas Wasser holen, dann rufe ich da an.« Er geht zur Tür, wo er sich umdreht, als sei ihm erst jetzt etwas aufgefallen. »Warum liegst du auf meiner Seite?«

Ich drücke das Gesicht ins Kissen, damit ich ihn nicht ansehen muss. »Da muss ich im Schlaf hingerückt sein«, murmele ich.

Es ist das Einzige, worüber wir jemals richtig gestritten haben.

»Matt ist Katies und Justins Dad«, erklärte ich immer wieder. »Du kannst nicht erwarten, dass ich ihn nie wiedersehe.«

Doch trotz dieser Erklärung zeigte sich Simon ungewohnt widerwillig: »Mag sein. Aber es besteht kein Grund, dass er ins Haus kommt, oder? Dass er in unserem Wohnzimmer sitzt und Kaffee aus unseren Bechern trinkt.«

Es war kindisch und blöd, aber ich wollte Simon nicht verlieren, und zu der Zeit fühlte es sich wie ein halbwegs fairer Kompromiss an.

»Okay«, stimmte ich zu. »Er kommt nicht ins Haus.«

Als ich die Augen wieder öffne, steht ein Wasserglas auf meinem Nachttisch, und daneben liegt eine kleine Packung mit Tabletten. Ich nehme zwei und stehe auf. Mein Top ist zerknautscht und meine Hose verdreht. Ich ziehe mich aus, nehme mir einen dicken Baumwollpyjama aus der Kommode und ziehe eine große Strickjacke darüber.

Es ist neun Uhr, und unten finde ich die Überreste von etwas, das wie Rindfleischeintopf aussieht. Meine Beine sind noch wacklig, und vom Schlafen fühle ich mich benommen. Ich gehe ins Wohnzimmer, wo Simon, Justin und Katie fernsehen. Keiner spricht, doch es ist ein harmonisches Schweigen, und ich bleibe für einen Moment stehen, um meine Familie zu beobachten. Katie bemerkt mich als Erste.

»Mum! Geht es dir besser?« Sie rückt zur Seite, um mir Platz auf dem Sofa zu machen. Erleichtert setze ich mich zwischen sie und Simon, denn allein der Gang nach unten hat mich geschafft.

»Nicht so richtig. Ich bin total angeschlagen.« So krank habe ich mich seit Jahren nicht gefühlt. Alle meine Knochen tun weh, und meine Haut ist extrem berührungsempfindlich. Außerdem brennen meine Augen, sowie ich sie öffne, und mein Hals ist so wund, dass mir das Sprechen Mühe macht. »Ich glaube, ich habe eine Grippe. Und zwar ernsthaft, keine Erkältung.«

»Armer Schatz.« Simon legt seinen Arm um mich, und ausnahmsweise sagt Katie nichts zu unserer »öffentlichen Zuneigungsbekundung«, wie sie es nennt. Sogar Justin sieht besorgt aus.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragt er. Oh Mann, ich muss wirklich krank aussehen!

»Nur ein bisschen Wasser, wenn du so lieb bist.«

»Kein Problem.« Er steht auf, greift in seine Tasche und gibt mir einen Umschlag.

»Was ist das?«, frage ich, öffne den Umschlag und sehe ein dickes Bündel 20-Pfund-Scheine.

»Miete.«

»Was? Das Thema hatten wir doch schon. Ich will keine Miete von dir.«

»Na dann eben für Essen, Strom, was auch immer. Es gehört dir.«

Ich sehe zu Simon, der in letzter Zeit häufiger erwähnte, Justin solle hier nicht für lau wohnen. Er schüttelt den Kopf, um mir zu signalisieren, dass er nichts damit zu tun hat.

»Aber echt anständig von dir, Justin. Gut gemacht, Kumpel.« Es kommt recht gezwungen über Simons Lippen, und Justin quittiert es mit einem verärgerten Blick.

»Ich dachte, du bist blank«, sagt Katie, die unverhohlen nachsieht, wie viele Scheine in dem Umschlag sind. Ich stecke ihn in die Tasche meiner Strickjacke und versuche die Stimme in meinem Kopf nicht zu beachten, die fragen will, woher das Geld stammt.

»Melissa hat mich zum Manager für das Café gemacht, damit sie das neue eröffnen kann«, erklärt Justin, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Es ist erst mal nur vorübergehend, aber ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen.«

»Das ist ja wunderbar!« Meine Erleichterung, dass mein Sohn weder klaut noch dealt, lässt meine Reaktion übertrieben begeistert ausfallen. Justin zuckt bloß mit den Schultern, als sei es nicht weiter wichtig, und geht in die Küche, um mir Wasser zu holen. »Ich habe ja immer gewusst, dass er nur eine Chance braucht«, flüstere ich Simon zu. »Jemanden, der erkennt, wie verlässlich und fleißig er ist.«

Plötzlich fällt mir ein, dass Justin nicht der Einzige mit Neuigkeiten ist. Ich drehe mich zu Katie um. »Es tut mir sehr leid, dass ich dich nicht mehr unterstützt habe vor dem Vorsprechen, Schatz. Ich fühle mich furchtbar deshalb.«

»O Gott, mach dir jetzt keine Gedanken deswegen, Mum. Du bist krank.«

»Simon hat gesagt, dass es super gelaufen ist.«

Katie strahlt. »Es war fantastisch! Also, diese Agentin hat mich nicht genommen, weil sie schon diverse andere Schauspielerinnen mit meinem Look und meinem Fach in ihrer Kartei hat – keine Ahnung, was das heißen soll. Aber ich habe mit einem Typen gesprochen, der am Empfang gewartet hat. Er leitet ein Ensemble, und sie arbeiten an einer Produktion von Was ihr wollt, und ihre Viola hatte gerade einen Skiunfall. Im Ernst, wie genial ist das denn?«

Ich starre sie wortlos an, weil ich nicht mitkomme. Justin bringt mir ein Glas Wasser. Er muss den Hahn geöffnet und das Glas sofort daruntergehalten haben, statt abzuwarten, denn das Wasser ist trübe und lauwarm. Aber ich trinke es dankbar. Ich würde alles trinken, um das Kratzen im Hals zu lindern.

»Mum, Was ihr wollt war das Stück, das wir für die GCSE-Prüfung in Englisch durchgenommen haben. Ich kenne das auswendig! Und er sagt, dass ich wie für die Viola gemacht bin! Ich habe direkt da vorgesprochen – echt, völlig irre – und die Rolle bekommen! Die anderen proben schon seit Wochen, aber ich muss es in zwei Wochen packen.«

Mir schwirrt der Kopf. »Aber wer ist dieser Typ? Weißt du irgendwas über ihn?«

»Er heißt Isaac. Wie sich herausgestellt hat, ist seine Schwester mit Sophia zusammen zur Schule gegangen, also ist er kein Wildfremder. Er hat schon in Edinburgh gearbeitet. Und jetzt kommt das Aufregendste: Sie gehen mit Was ihr wollt auf Tour! Er ist unglaublich ehrgeizig und so begabt!«

Ich bemerke noch etwas anderes in Katies Gesicht. Etwas, das nicht mit ihre Freude über die Rolle zu tun hat. »Sieht er gut aus?«

Sie wird rot. »Sehr.«

»Oh, Katie!«

»Was? Mum, es ist alles ganz koscher, versprochen. Ich glaube, du würdest ihn mögen.«

»Gut, dann lad ihn ein.«

Katie schnaubt. »Ich habe ihn gestern erst kennengelernt! Da lade ich ihn garantiert nicht ein, um ihn meiner Mutter vorzustellen.«

»Tja, du gehst jedenfalls nicht auf Tour, ehe ich ihn mir angesehen habe, also …« Wir sehen einander entschlossen an, bis Simon sich einschaltet.

»Wollen wir darüber reden, wenn es dir besser geht?«

»Mir geht es schon besser«, sage ich. Doch bei aller Entschlossenheit wird mir schwindlig, sodass ich die Augen schließen muss.

»Klar doch. Ab jetzt, ins Bett mit dir.«

Ich erinnere mich an sein Versprechen. »Hast du mit der Polizei gesprochen?«

»Ja, ich habe mit einem der leitenden Ermittler geredet.«

»Rampello?«

»Ich glaube, ja. Ich habe ihm gesagt, dass du dir Sorgen wegen der Anzeige machst – wegen der mit dem Foto, das dir ein bisschen ähnlich war.«

»Das war ich!«

»Und der Mann, mit dem ich geredet habe, sagte, dass er deine Angst gut versteht. Aber im Moment glauben sie nicht, dass der Mord an Tania Beckett in irgendeinem Zusammenhang mit anderen Straftaten steht.«

»Es muss eine Verbindung geben«, beharre ich. »Das kann kein Zufall sein.«

»Du kennst sie nicht mal«, sagt Justin. »Warum regst du dich so auf?«

»Weil sie umgebracht wurde, Justin!« Er reagiert nicht, und ich sehe verzweifelt zu Katie hinüber. »Und weil mein Foto …«

»Es war nicht dein Foto, Schatz«, unterbricht Simon mich.

»Und weil mein Foto in genau der gleichen Anzeige war wie ihres«, fahre ich hartnäckig fort. »Also ist es ja wohl mein gutes Recht, mich aufzuregen, findet ihr nicht?«

»Bei solchen Anzeigen stehen normalerweise keine teuren Telefonnummern, es sei denn, die Anzeigen sind zwielichtig«, sagt Simon.

»Und was soll das heißen?«

»War sie ein Callgirl?«, fragt Katie.

»Berufsrisiko«, sagt Justin und setzt sich achselzuckend hin, sein Telefon in der Hand.

»In den Nachrichten haben sie gesagt, dass sie Lehrerin war, kein Callgirl.« Ich denke an das Foto von Tania mit ihrem Freund, das sie in der Zeitung abgedruckt haben, und stelle mir die Schlagzeilen zu einem Bericht über meine eigene Ermordung vor. Was für ein Foto würden sie da wohl nehmen? Und würden sie auch meinen Boss fragen, wie ich so war?

»In der Anzeige stand aber nichts von einem Escort-Service, oder?«, fragt Katie.

»Da war eine Internetadresse angegeben.« Ich drücke die Handfläche an die Stirn und versuche mich zu erinnern. »Findtheone.com.«

»Hört sich eher nach einer Partnervermittlung an. Vielleicht wurde sie von jemandem umgebracht, den sie online kennengelernt hat.«

»Ich will, dass du nicht mehr allein weggehst«, sage ich zu Katie, die mich entgeistert anstarrt.

»Wegen eines Mords am anderen Ende von London? Mum, sei nicht albern. Es werden dauernd Leute ermordet.«

»Männer, ja. Jungs in Gangs. Junkies und waghalsige Idioten. Aber keine jungen Frauen, die von der Arbeit nach Hause kommen. Du gehst entweder mit einer Gruppe von Freunden aus oder gar nicht.«

Katie sieht Simon an, aber diesmal unterstützt er mich.

»Wir möchten nur, dass dir nichts passiert, das ist alles.«

»Aber das geht doch gar nicht! Was ist mit der Arbeit? Samstags habe ich erst um halb elf abends Schluss, und jetzt bin ich in Was ihr wollt, da werde ich die meisten Abende proben. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als allein nach Hause zu fahren.« Ich will etwas sagen, aber Katie kommt mir zuvor. »Ich bin schon groß, Mum, und ich bin vorsichtig. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.«

Tue ich aber. Ich sorge mich um Katie, weil sie nachts allein von der Arbeit zurückkommt und garantiert nur von Ruhm und roten Teppichen träumt. Ich sorge mich um all die Cathy Tannings und Tania Becketts, die keine Ahnung haben, was das Schicksal für sie bereithält. Und ich sorge mich um mich. Ich weiß nicht, was diese Anzeigen bedeuten oder warum mein Foto in einer von ihnen aufgetaucht ist, aber die Gefahr ist sehr real. Ich kann sie nicht sehen, doch ich fühle sie. Und sie kommt näher.