15

Es wurde Mittag, bis Kelly zurück zum Revier kam und die Nummer von DI Nick Rampello heraussuchen konnte, dem leitenden Ermittler im Fall von Tania Beckett. Zunächst stellte man sie zur Notrufstelle durch, die eigens eingerichtet worden war, damit sich dort Bürger melden konnten, die Informationen zu Tanias Ermordung hatten.

»Wenn Sie mir sagen, was Sie wissen, sorge ich dafür, dass es an das ermittelnde Team weitergegeben wird«, erklärte eine Frau in desinteressiertem Tonfall. Kelly vermutete, dass sie heute schon sehr viele Anrufe entgegengenommen hatte.

»Wenn möglich würde ich lieber mit DI Rampello direkt sprechen. Ich arbeite bei der British Transport Police und denke, dass es einen Zusammenhang zwischen einem meiner Fälle und seiner Ermittlung geben könnte.« Kelly kreuzte die Finger. Es war keine blanke Lüge. Zoe Walker war zu ihr gekommen, und auf dem Fallbericht von Cathy Tanning stand immer noch ihr Name. Ihr Name, ihr Job.

»Ich stelle Sie zum Ermittlungsteam durch.«

Das Telefon klingelte ohne Ende. Kelly wollte es schon aufgeben, als sich eine Frau meldete, die klang, als wäre sie die Treppe hinaufgerannt.

»North West MIT.«

»Kann ich bitte DI Rampello sprechen?«

»Ich sehe mal nach, ob er da ist. Wie ist Ihr Name?« Die Frau redete wie eine BBC-Nachrichtensprecherin, und Kelly versuchte zu erraten, was ihre Rolle bei der Polizei sein mochte. Kelly hatte noch nicht viel mit Murder Investigation Teams zu tun gehabt. Die British Transport Police hatte ihre eigene Mordkommission, bisher hatte es da allerdings kaum Berührungspunkte gegeben. Bei der Metropolitan Police herrschte vermutlich auch ein ganz anderes Tempo. Kelly nannte ihren Namen und ihre Dienstnummer und wartete wieder.

»Rampello.«

Kein BBC-Akzent. Nick Rampellos Stimme war durch und durch London, und er redete schnell, fast schon abgehackt. Kelly ertappte sich dabei, wie sie sich verhaspelte, weil sie bemüht war, genauso schnell zu sein. Ihr war bewusst, dass sie bestenfalls unprofessionell klang, wenn nicht gar inkompetent.

»Was sagten Sie, wo Sie arbeiten?«, unterbrach DI Rampello sie.

»BTP, Sir. Zurzeit bin ich bei der Central Line. Vorletzte Woche hatte ich einen Taschendiebstahl, von dem ich glaube, dass er mit Tania Becketts Ermordung zusammenhängt. Daher würde ich gerne vorbeikommen und das mit Ihnen besprechen.«

»Bei allem Respekt, PC …« Die Betonung am Ende machte ihren Dienstgrad zu einer Frage.

»Swift. Kelly Swift.«

»Bei allem Respekt, PC Swift, das ist eine Mordermittlung, kein Taschendiebstahl. Tania Beckett war zur Tatzeit nicht mal in der Nähe der Central Line, und alles weist auf einen Einzelfall hin.«

»Ich glaube, dass es einen Zusammenhang gibt, Sir«, sagte Kelly weit überzeugter, als sie war. Sie wappnete sich für Rampellos Widerspruch und war froh, als er sie nicht gleich abschmetterte.

»Haben Sie eine Kopie der Akte zur Hand?«

»Ja, ich …«

»Schicken Sie die her, und wir sehen sie uns an.« Er beschwichtigte sie.

»Sir, ich glaube, dass Ihr Opfer in einer Kleinanzeige in der London Gazette war. Stimmt das?«

Es entstand eine Pause.

»Diese Information wurde nicht herausgegeben. Woher haben Sie das?«

»Von einer Bürgerin, die mich kontaktiert hat. Dieselbe Frau, die auch ein Foto vom Opfer des Taschendiebstahls in einer anderen Ausgabe der Gazette gesehen hat. Dieselbe Frau, die glaubt, dass ihr eigenes Foto ebenfalls in der Zeitung war.«

Diesmal dauerte das Schweigen noch länger.

»Kommen Sie lieber vorbei.«

Das North West Murder Investigation Team saß in der Balfour Street, unauffällig untergebracht zwischen einer Arbeitsvermittlung und einem Wohnblock mit einem For Sale-Schild an einem Fenster im zweiten Stock. Kelly drückte auf den Klingelknopf, der schlicht mit »MIT«, beschriftet war, und drehte sich leicht nach links, sodass sie direkt in die Kamera sah. Sie hob das Kinn ein wenig und hoffte, dass sie nicht so nervös aussah, wie sie sich fühlte. DI Rampello hatte sie für sechs Uhr herbestellt, womit ihr gerade genug Zeit geblieben war, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen. Wie hieß es noch immer? Zieh dich für den Job an, den du willst. Kelly wollte, dass DI Rampello sie als ernstzunehmende Polizistin wahrnahm, als jemanden mit wichtigen Informationen für seine Mordermittlung, nicht als uniformierten Durchschnitts-Bobby. Sie drückte nochmals auf die Klingel, was sie umgehend bereute, als sich eine Stimme meldete und mit ungeduldigem Tonfall signalisierte, dass das zweite Läuten überflüssig gewesen war.

»Ja?«

»PC Kelly Swift von der British Transport Police. Ich habe einen Termin mit DI Rampello.«

Mit einem lauten Klicken öffnete sich das Schloss der schweren Tür vor ihr, und Kelly drückte sie nach innen auf, wobei sie ein kurzes Lächeln in Richtung Kamera warf, falls dort noch jemand hinsah. Direkt vor ihr waren die Aufzugtüren, aber sie nahm die Treppe, weil sie nicht genau wusste, in welchem Stock die Abteilung war. Die Doppeltüren in der ersten Etage waren nicht beschriftet, und Kelly blieb kurz stehen. Sie war unsicher, ob sie anklopfen oder einfach hineingehen sollte.

»Suchen Sie den Lageraum der Mordkommission?«

Kelly erkannte die BBC-Stimme, mit der sie heute telefoniert hatte, und drehte sich um. Vor ihr stand eine Frau mit langem blondem Haar, das von einem schwarzen Stirnband nach hinten gehalten wurde, in einer schmalen Hose und Ballerinas. Sie streckte Kelly die Hand entgegen. »Lucinda. Ich bin Fallanalytikerin hier. Sie sind Kelly, stimmt’s?«

Kelly nickte dankbar. »Ja, ich bin mit dem DI verabredet.«

Lucinda schob die Tür auf. »Zum Meeting geht es hier durch. Kommen Sie mit, ich bringe Sie hin.«

»Meeting?« Kelly folgte Lucinda durch die Doppeltüren in ein großes Büro mit ungefähr einem Dutzend Schreibtischen. Zu einer Seite ging ein kleineres Einzelbüro ab.

»Das ist das Büro des DCI, aber das benutzt er nie. Er hat nur noch sechs Monate bis zur Pensionierung, und er hat noch so viele Überstunden abzubummeln, dass er praktisch nur noch Teilzeit arbeitet. Aber Diggers ist in Ordnung – wenn er hier ist.«

Bei dem vertrauten Spitznamen merkte Kelly auf. »Meinen Sie zufällig Alan Digby?«

Lucinda wirkte überrascht. »Genau den! Woher kennen Sie ihn?«

»Er war mein DI bei der BTP. Kurz danach wechselte er zur Met, und ich habe gehört, dass er befördert wurde. Er war ein toller Vorgesetzter.«

Lucinda ging voraus durch das große Büro, und Kelly blickte sich aufmerksam um. Obwohl niemand hier war, herrschte diese Atmosphäre hektischer Betriebsamkeit, an die Kelly sich noch gut aus der Zeit bei den richtigen Ermittlern erinnerte. Auf jedem Schreibtisch standen zwei Computerbildschirme, und mindestens drei Telefone klingelten. Das Bimmeln wanderte durch den Raum, als die Gespräche automatisch weitergestellt wurden. Selbst das Klingelgeräusch schien hier dringlicher zu sein, als würden die Telefone den Schlüssel zur Aufklärung des Rätsels kennen, an dem das MIT aktuell arbeitete. Dies hier war es, wofür Kelly Polizistin geworden war, und ein wohliger Energieschwall durchfuhr sie.

»Die laufen aufs Band«, sagte Lucinda, als sie bemerkte, dass Kelly zu einem blinkenden Telefon neben ihnen sah. »Jemand wird später zurückrufen.«

»Wo sind denn alle?«

»Beim Briefing. Der DI will, dass das gesamte Team dabei ist. Er nennt es die NASA-Theorie.«

Kelly sah sie verständnislos an, und Lucinda grinste.

»Na, die Anekdote, wie Präsident Kennedy die NASA besuchte und mit einem der Männer vom Putzteam dort ins Gespräch kam. Er fragte ihn, was sein Job wäre, und der Mann antwortete prompt, ›Ich helfe, einen Mann auf den Mond zu bringen, Mr. President‹. Nicks Theorie ist, dass wir nichts übersehen, wenn das gesamte Team zu den Briefings kommt, einschließlich der Putzkräfte.«

»Ein großartiger Ansatz. Macht es Spaß, für ihn zu arbeiten?« Sie folgte Lucinda zu einer offenen Tür.

»Er ist ein guter Detective«, antwortete Lucinda. Kelly hatte den Eindruck, dass die Analystin ihre Worte mit Bedacht wählte, aber es blieb keine Zeit mehr für weitere Fragen. Sie hatten den Besprechungsraum erreicht, und Lucinda winkte sie durch die offene Tür. »Chef, das ist Kelly Swift von der BTP.«

»Kommen Sie rein. Wir wollen gerade anfangen.«

Kellys Bauch grummelte, und sie war nicht sicher, ob es Nervosität oder Hunger war. Sie stand mit Lucinda hinten im Raum und schaute sich möglichst unauffällig um. DI Rampello hatte nichts von einem Briefing gesagt. Sie hatte damit gerechnet, ihn in seinem Büro zu sprechen, eventuell mit noch jemandem aus seinem Team.

»Na dann, Leute, es geht um die Operation FURNISS. Ich weiß, dass ihr alle einen langen Tag hattet und manche von euch noch lange nicht fertig sind, also halte ich es so kurz wie möglich.« Der DI sprach genauso schnell wie am Telefon. Es war ein großer Raum, und er gab sich keine besondere Mühe, die Stimme zu heben, sodass Kelly sehr aufmerksam lauschen musste, um alles mitzubekommen. Sie fragte sich, warum er nicht lauter redete. Dann sah sie zu dem Rest des Teams. Alle hörten konzentriert zu, und ihr ging auf, dass es Absicht war – eine kluge Strategie.

»Für diejenigen die neu im Team sind: Tania Becketts Leiche wurde vor vier Tagen in Cranley Gardens, Muswell Hill, gefunden. Und zwar am Montag, dem 16. November, um elf Uhr abends von Geoffrey Skinner, der dort seinen Hund ausführte.« Kelly fragte sich, wie alt DI Rampello sein mochte. Er sah aus wie Anfang dreißig, was jung für einen Inspector war. Seine Statur war kräftig, und er hatte einen leicht mediterranen Einschlag, passend zu seinem Namen, nicht jedoch zu seinem durch und durch britischen Akzent. An Wangen und Kinn zeichneten sich Bartstoppeln ab, und sie bemerkte den Schatten eines Tattoos unter dem Stoff seines Hemds am Unterarm.

Während er sprach, ging der DI vorn im Raum auf und ab und schwenkte die Hand mit den Notizen, in die er bisher noch nicht hineingesehen hatte. »Tania war Hilfslehrerin an der St.-Christopher-Grundschule in Holloway. Sie hätte um halb fünf zu Hause sein müssen, und als sie um zehn immer noch nicht da war, meldete ihr Verlobter, David Parker, sie als vermisst. Beim zuständigen Revier wurde eine Vermisstenmeldung aufgenommen und mit einer niedrigen Gefährdungsstufe versehen.« Kelly war nicht sicher, ob sie sich den leichten Vorwurf in seiner Stimme einbildete. Sie hoffte, dass die Polizisten, die Tanias Vermisstenmeldung aufgenommen hatten, sich keine Schuld an dem gaben, was später passiert war. Dem wenigen zufolge, was sie über den Fall wusste, hätte man den Mord wohl nicht verhindern können.

»Tanias Leiche wurde in einem Bereich des Parks gefunden, in dem viele Bäume stehen und der bekannt dafür ist, dass sich dort Leute zum Gelegenheitssex treffen. Die Spurensicherung fand mehrere benutzte Kondome, deren Verfallszustand nahelegt, dass sie schon einige Wochen alt sind. Tania war vollständig bekleidet bis auf ihre Unterhose, die bisher nicht gefunden wurde. Sie wurde mit dem Riemen ihrer Tasche erdrosselt, und die Autopsie bestätigt Ersticken als Todesursache.«

DI Rampello sah sich im Raum um, und sein Blick verharrte auf einem älteren Mann, der sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und die Hände hinterm Kopf verschränkt hatte. »Bob, kannst du uns etwas zu dem Verlobten sagen?«

Bob löste die Hände und setzte sich auf. »Tania Beckett war mit einem siebenundzwanzigjährigen Reifenmonteur namens David Parker verlobt, den wir uns natürlich als Ersten vorgenommen haben. Mr. Parker hat ein wasserdichtes Alibi: Er hat den Abend im Mason’s Arms an der Straßenecke verbracht, was die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras im Pub wie auch mindestens ein Dutzend Stammkunden bestätigen.«

»Seine Freundin wird vermisst, und er geht in den Pub?«, fragte jemand.

»Parker behauptet, dass er sich zunächst keine Sorgen gemacht habe, erst später am Abend. Er nahm an, dass sie zu einer Freundin gefahren war und vergessen hatte, es ihm zu sagen.«

»Wir sind noch dabei, den Heimweg des Opfers zu rekonstruieren«, sagte DI Rampello. »Die BTP war verblüffend hilfsbereit, was die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras angeht« – er blickte sie an, und Kelly spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg –, »daher wissen wir, dass sie die Northern Line bis Highgate genommen hat. Es gibt eine kleine Lücke, bevor wir Tania wieder sehen, wie sie auf den Bus wartet. Leider kann der Busfahrer nicht bestätigen, ob sie in Cranley Gardens ausstieg oder ob sie allein war. Wir sind dabei, andere Fahrgäste des Busses ausfindig zu machen.«

Wieder warf Nick Rampello ihr einen Blick zu. »Am Dienstag, dem 17. November, meldete sich eine Mrs. Zoe Walker bei uns. Sie gab an, eine auffallende Ähnlichkeit zwischen Tania Beckett und einem Foto aus einer Kleinanzeige in der London Gazette festgestellt zu haben.« Er nahm ein A3-Blatt auf, das umgekehrt auf dem Tisch vor ihm lag, und hielt es in die Höhe. Kelly erkannte die Anzeige, auch wenn das Bild durch die Vergrößerung körnig geworden war. »Diese Anzeige erschien zwischen mehreren anderen Werbeanzeigen für eine Vielzahl von«, der DI machte eine kurze Pause, »persönlichen Dienstleistungen.« Er wartete, dass das Lachen abebbte, bevor er fortfuhr: »Einschließlich Sex-Hotlines und Escort-Services. Die Anzeige scheint für vergleichbare Dienste zu werben, obwohl das nicht angegeben ist. Die Telefonnummer ist nicht in Betrieb, und die Website scheint auf den ersten Blick leer zu sein.« Er befestigte das A3-Blatt mit Magneten an dem Whiteboard hinter ihm. »Das Recherche-Team sieht sich Tania Becketts Vergangenheit an, ob es irgendeine Verbindung zur Erotikbranche gab, doch ihre Eltern und ihr Verlobter beteuern, dass es überhaupt nicht zu ihr passen würde. Wir überprüfen auch ihren Computer auf Hinweise, dass sie bei Partnervermittlungsseiten registriert war oder mit Männern kommunizierte, die sie online kennengelernt hatte. Bisher wurde nichts gefunden. Heute Nachmittag ergab sich noch eine weitere Entwicklung.« Abermals sah er zu Kelly. »Möchten Sie sich vielleicht vorstellen?«

Kelly nickte und hoffte, dass sie selbstbewusster aussah, als sie sich fühlte. »Guten Tag und danke, dass ich bei diesem Briefing dabei sein darf. Mein Name ist Kelly Swift, und ich bin BTP-Officer beim Central Line Neighbourhood Policing Team.« Zu spät fiel ihr ein, dass sie Nick Rampello zu verstehen gegeben hatte, sie wäre Detective bei der Dip Squad. Sie bemerkte seine Überraschung und sah schnell weg, um sich auf das Whiteboard zu konzentrieren. »Ich habe heute Morgen mit Zoe Walker gesprochen, der Frau, die DI Rampello eben erwähnte. Sie rief mich erstmals am Montag an, weil sie eine dieser Anzeigen gesehen und die Frau wiedererkannt hatte – ein Opfer bei einer laufenden BTP-Ermittlung.«

»Noch ein Mord?« Die Frage kam von einem dünnen Grauhaarigen, der am Fenster saß. Kelly schüttelte den Kopf.

»Ein Taschendiebstahl. Cathy Tanning schlief in der Central Line ein, und ihr wurden die Schlüssel aus der Handtasche gestohlen, die sie auf ihrem Schoß hielt.«

»Nur die Schlüssel?«

»Zunächst wurde angenommen, dass der Täter es auf etwas anderes abgesehen hatte – ein Handy oder ein Portemonnaie. Das Opfer musste einen Schlüsseldienst rufen, um in ihr Haus zu gelangen, was bedeutete, dass sie das Schloss vorne austauschen ließ, nicht aber das an der Hintertür. Ihre Adresse stand nicht bei den Schlüsseln, und es gab keinen Grund zu der Vermutung, dass der Täter wissen könnte, wo sie wohnt.« Kelly legte eine Pause ein. Ihr Herz raste. Nicht einmal DI Rampello wusste, was sie nun sagen würde. »Ich habe am Montag mit Cathy Tanning gesprochen, und sie ist überzeugt, dass jemand in ihrem Haus war.«

Die Atmosphäre im Raum veränderte sich.

»Ein Einbruch?«, fragte der Grauhaarige.

»Es wurde nichts gestohlen, aber Cathy ist fest überzeugt, dass in ihrer schmutzigen Wäsche gewühlt wurde. Sie tauscht jetzt noch einmal alle Schlösser aus, und ich habe die Sache an die Spurensicherung weitergeleitet, damit sie sich dort umsehen. Zoe Walker, die Frau, die Cathy Tanning in der Anzeige erkannt hat, glaubt außerdem, dass ihr eigenes Foto in einer ähnlichen Anzeige auftauchte, heute genau vor einer Woche.«

»Und ist Zoe Walker ein Verbrechensopfer?«, fragte Lucinda.

»Noch nicht.«

»Danke.« Der DI ließ sich nicht anmerken, ob Kellys Zusatzinformationen von Interesse waren, und lenkte die Aufmerksamkeit wieder zum Mordfall zurück. Auf einmal war Kelly wie erschlagen. »Wir treffen uns hier um acht Uhr morgen früh wieder, aber gehen wir vorher nochmal alles durch. Irgendwelche Erkenntnisse?« Er sah nach links und fragte zügig alle Anwesenden nach Updates. Wie Lucinda bereits angedeutet hatte, wurde niemand ausgelassen. Nachdem jeder die Gelegenheit bekommen hatte, etwas zu sagen, nickte Rampello und raffte seine Notizen zusammen. Das Briefing war zu Ende.

»Ich hoffe, du hast heute Abend nichts vor, Lucinda«, sagte er, als er an der Analystin vorbeikam. Sie lachte und warf Kelly einen verschwörerischen Blick zu.

»Wie gut, dass ich mit dem Job verheiratet bin, nicht?« Sie folgte dem DI.

Kelly wusste nicht, ob sie gehen oder bleiben sollte, deshalb ging sie mit Lucinda. Sie hatte angenommen, dass der DI sein eigenes Büro hätte, aber Nick Rampellos Schreibtisch war einer von denen im großen Büroraum. Einzig der DCI schien ein separates Büro zu haben; dort war die Tür geschlossen, und hinter den Jalousien war alles dunkel.

Nick bedeutete Kelly sich zu setzen. »Ich brauche Verbindungen zwischen diesen Fällen«, sagte er zu Lucinda, die sich bereits Notizen machte. »Kannten die Frauen sich? Haben sie für Sex-Hotlines gearbeitet? Waren sie Callgirls? Was macht Walker beruflich? Überprüf, wo Tanning arbeitet – ist sie Lehrerin, wie Beckett? Sind ihre Kinder an Becketts Schule?« Kelly hörte zu. Zwar wusste sie die Antworten auf einige der Fragen, doch sie hatte das Gefühl, dass eine Unterbrechung nicht gut aufgenommen werden würde. Sie konnte hinterher mit Lucinda reden und ihr alles an Informationen geben, was sie hatte.

Nick fuhr fort: »Sieh nach, ob eine von ihnen Dating-Websites genutzt hat. Ich hatte einen Anruf von Zoe Walkers Lebensgefährten, habe ihn aber noch nicht zurückgerufen. Er hat womöglich herausgefunden, dass sie die Website genutzt hat, und jetzt behauptet sie, nichts davon zu wissen.«

»Sir, sie war bei keiner Dating-Website«, sagte Kelly. »Als sie mich kontaktiert hat, war Zoe sehr verstört.«

»Was eine verständliche Reaktion sein könnte, wenn ein aggressiver Partner entdeckt, dass sie sich mit anderen Leuten verabredet hat«, konterte Nick und wandte sich wieder Lucinda zu. »Sag Bob, er soll sich die Originalakte von der BTP ziehen und durchgehen. Achtet darauf, ob alles gründlich überprüft wurde, und falls nicht, mach es nochmal.«

Kelly holte tief Luft. Es war wenig verwunderlich, dass ein Officer der Metropolitan Police die Arbeit einer anderen Abteilung anzweifelte, aber er hätte wenigstens so anständig sein können, es nicht in ihrer Gegenwart zu tun. »Die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras wurden sofort gesichtet«, sagte sie und sah dabei absichtlich Lucinda an, nicht den DI. »Ich kann Ihnen morgen die Kopien schicken, nebst Standaufnahmen des Täters. Angesichts der ursprünglichen Tat hielt ich es nicht für verhältnismäßig, die Spurensicherung nach DNA suchen zu lassen, aber ich vermute, dass es jetzt kein Problem mehr sein dürfte. Die Tasche wurde von der BTP korrekt gesichert, und ich kann veranlassen, dass sie Ihrem Team übergeben wird. Cathy Tanning hat keine Kinder, sie ist keine Lehrerin, und sie hat nie als Callgirl gearbeitet. Dasselbe gilt für Zoe Walker, deren Foto gleichfalls in der London Gazette erschien und die verständlicherweise sehr um ihre Sicherheit besorgt ist.« Kelly holte Luft.

»Sind Sie fertig?«, fragte Nick Rampello. Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern wandte sich an Lucinda. »Sag mir in einer Stunde Bescheid, wie du vorankommst.«

Lucinda nickte, stand auf und lächelte Kelly zu. »Hat mich gefreut.«

Der DI wartete, bis Lucinda an ihren Schreibtisch gegangen war. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und sah Kelly an. »Ist es eine Angewohnheit von Ihnen, Ranghöhere in ihrer Autorität zu untergraben?«

»Nein, Sir.« Ist es eine Angewohnheit von Ihnen, die Arbeit anderer Officers abzuwerten?, hätte sie gerne ergänzt.

Der DI sah aus, als wollte er mehr sagen, aber vielleicht wurde ihm bewusst, dass er nicht Kellys Vorgesetzter war, denn er nahm die Arme herunter und stand auf. »Danke, dass Sie uns über die Verbindung zwischen den Fällen informiert haben. Ich rufe später bei dem Kollegen an und übernehme den Taschendiebstahl. Wir können genauso gut gleich alles in einem Haus bearbeiten, selbst wenn es rein technisch gesehen keine Fallserie ist.«

»Sir?« Kelly holte tief Luft. Sie kannte die Antwort schon, bevor sie fragte, doch sie konnte unmöglich gehen, ohne es versucht zu haben.

»Ja?« Rampello war ungeduldig und in Gedanken eindeutig schon beim nächsten Punkt auf seiner Liste.

»Ich würde gerne weiter am Cathy-Tanning-Fall arbeiten.«

»Bedaure, aber das ist wenig sinnvoll.« Er musste ihr die Enttäuschung angesehen haben und seufzte. »Hören Sie, Sie haben die Verbindung zwischen den beiden Fällen aufgezeigt. Es war richtig von Ihnen, sich bei uns zu melden, und ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie zum Briefing gekommen sind. Sie sind nicht mehr im Dienst, oder?« Kelly schüttelte den Kopf. »Aber dieser Fall muss jetzt hier bearbeitet werden. Jede Serie fällt dem Team zu, das die ausschlaggebende Tat untersucht. In diesem Fall ist das der Mord an Tania Beckett, womit die Serie in die Zuständigkeit der MetPol fällt, nicht der British Transport Police. Wie ich bereits klarstellte, lege ich mich vorerst nicht fest, ob wir es mit einer Serie zu tun haben. Aber falls es eine ist, könnte Ihr Taschendiebstahlsopfer knapp einem Mord entkommen sein. Das ist ein Fall für das MIT, nicht für Ihre Dip Squad.«

Dem war nicht zu widersprechen.

»Könnte ich bei Ihnen arbeiten?« Die Worte waren heraus, ehe sie noch einmal nachdenken konnte. »Nur eine vorübergehende Versetzung, meine ich. Ich habe den Cathy-Tanning-Fall bearbeitet, als er hereinkam, und ich kann bei allen Fragen im Zusammenhang mit der U-Bahn helfen. Immerhin kenne ich die wie meine Westentasche, und Sie bräuchten Stunden, um das Filmmaterial durchzugehen.«

Nick Rampello war höflich, aber klar. »Wir haben nicht genug Mittel.« Er lächelte, um seine nächsten Worte abzumildern. »Außerdem habe ich das Gefühl, dass eine Zusammenarbeit mit Ihnen ziemlich anstrengend sein könnte.«

»Ich bin nicht unerfahren, Sir. Ich war vier Jahre in der Einheit für Sexualdelikte bei der BTP. Ich bin eine gute Ermittlerin.«

»Als DC?« Kelly bejahte stumm. »Warum sind Sie dann wieder in Uniform?«

Für einen Moment überlegte Kelly, die Wahrheit zu verdrehen und zu behaupten, dass sie mehr direkte Erfahrungen sammeln wollte oder sich für die Sergeant-Prüfung vorbereitete. Aber etwas sagte ihr, dass DI Rampello solch einen Schachzug sofort durchschauen würde.

»Das ist kompliziert.«

Nick Rampello betrachtete sie aufmerksam, und sie hielt den Atem an, während sie sich fragte, ob er im Begriff war, seine Meinung zu ändern. Doch er senkte den Blick zu seiner aufgeschlagenen Kladde, was allein schon eine Abfuhr bedeutete.

»Ich fürchte, auf Kompliziertes stehe ich nicht.«