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Crystal Palace ist die Endstation. Andernfalls wäre ich vielleicht auf meinem Platz geblieben und hätte weiter die Anzeige angestarrt in der Hoffnung, ihr einen Sinn abringen zu können. So bin ich die Letzte, die aussteigt.
Der Regen ist zu einem Nieseln abgeflaut, trotzdem bin ich kaum aus dem Bahnhof, da ist die Zeitung durchgeweicht und hinterlässt Spuren von Druckerschwärze an meinen Fingern. Es ist schon dunkel, aber die Straßenlaternen sind eingeschaltet, und die Neonschilder über zig Takeaways und Handy-Läden in der Anerley Road lassen mich alles klar und deutlich sehen. Grellbunte Lichterketten baumeln zwischen den Laternenpfählen, in Vorbereitung für das große Anschalten durch einen Z-Promi am Wochenende. Für mich ist es zu mild – und zu früh –, um schon an Weihnachten zu denken.
Ich starre weiter auf die Anzeige, als ich nach Hause gehe, und nehme den Regen kaum wahr, der mir die Ponyfransen an die Stirn klebt. Vielleicht bin ich das gar nicht. Vielleicht habe ich eine Doppelgängerin. Ich bin wohl kaum die erste Wahl für eine Sex-Hotline: Man sollte meinen, dass sie sich eine Jüngere, Attraktivere aussuchen, keine Frau in mittleren Jahren mit zwei erwachsenen Kindern und einem kleinen Ersatzreifen um die Hüften. Fast muss ich laut lachen. Ich weiß, dass in diesem Markt alles vertreten ist, auch wenn mein Typ Frau eher in einer der Nischen gefragt sein dürfte.
Zwischen dem polnischen Supermarkt und dem Schlüsseldienst ist Melissas Café. Eines von Melissas Cafés, korrigiere ich mich. Das andere ist in einer Seitenstraße von Covent Garden, wo die Stammkunden schlauerweise vorher telefonisch ihre Mittags-Sandwiches bestellen, um nicht anstehen zu müssen, und die Touristen an der Tür zögern und überlegen, ob ein Panini die Wartezeit lohnt. Man sollte meinen, dass ein Café in Covent Garden eine Gelddruckmaschine ist, aber die hohen Mieten dort bedeuten, dass Melissa seit fünf Jahren kämpft, um in die schwarzen Zahlen zu kommen. Dieses Café hier hingegen, mit den schäbigen Wänden und den eher schlichten Leuten in der Gegend, ist eine Goldgrube. Und das seit Jahren, lange bevor Melissa übernahm und ihren Namen über der Tür anbrachte. Es ist einer dieser Geheimtipps, die man manchmal in Stadtführern sieht. Das beste Frühstück in Südlondon, steht in dem fotokopierten Artikel, der an die Tür geklebt ist.
Ich bleibe eine Weile auf der gegenüberliegenden Straßenseite, damit ich hinübersehen kann, ohne bemerkt zu werden. Die Fensterränder sind von innen beschlagen, wie auf einem dieser weichgezeichneten Fotos aus den 1980ern. In der Mitte, hinterm Tresen, wischt ein Mann eine Acrylglasvitrine von innen aus. Er trägt eine halbgefaltete Schürze um die Hüfte gebunden – Pariser Kellnerstil – und mit dem schwarzen T-Shirt und dem dunklen, Gerade-aufgestanden-Look seiner Frisur wirkt er viel zu cool, um in einem Café zu arbeiten. Sieht er gut aus? Ich bin natürlich voreingenommen, aber ich denke, schon.
Nun überquere ich die Straße und achte auf Radfahrer, als mich ein Busfahrer hinüberwinkt. Eine Glocke über der Café-Tür bimmelt, und Justin sieht auf.
»Alles klar, Mum?«
»Hi, Schatz.« Ich blicke mich nach Melissa um. »Bist du allein hier?«
»Sie ist in Covent Garden. Der Manager da ist krank, also musste sie hin, und ich habe hier übernommen.« Sein Tonfall ist lässig, daher versuche ich, genauso zu reagieren, obwohl ich mächtig stolz bin. Ich habe immer gewusst, dass Justin ein guter Junge ist. Er brauchte bloß jemanden, der ihm eine Chance gab. »Wenn du fünf Minuten wartest«, sagt er und spült seinen Lappen in dem Edelstahlwaschbecken aus, »komme ich mit dir nach Hause.«
»Ich wollte unterwegs irgendwas zum Abendessen kaufen. Die Fritteuse ist vermutlich schon aus, oder?«
»Ich habe sie eben erst ausgeschaltet. Es würde nicht lange dauern, ein paar Pommes frites zu machen. Und es sind noch Würste da, die morgen wegmüssten. Melissa macht es nichts aus, wenn wir die mitnehmen.«
»Ich bezahle sie aber«, sage ich, weil ich nicht möchte, dass Justin sich von seiner vorübergehenden Position als Manager allzu sehr hinreißen lässt.
»Ihr macht das wirklich nichts.«
»Ich bezahle«, wiederhole ich entschieden und nehme mein Portemonnaie aus der Tasche. Dann sehe ich auf die Tafel und rechne den Preis für viermal Würstchen und Pommes frites aus. Justin hat recht – Melissa hätte uns das Essen bestimmt gerne gegeben, wenn sie hier gewesen wäre. Aber das ist sie nicht, und in unserer Familie bezahlen wir für das, was wir uns nehmen.
Die Läden und Büros werden weniger, je weiter wir uns vom Bahnhof entfernen. Stattdessen nehmen die Reihenhäuser zu, die jeweils in Zwölfergruppen zusammenstehen. Viele sind mit grauen Metall-Fensterläden verrammelt, was bedeutet, dass sie gepfändet wurden. Rote und orangene Flammen-Graffiti prangen an den Haustüren. Unsere Häuserreihe sieht nicht anders aus. Bei dem Haus drei Türen weiter fehlen Dachziegel, und dicke Sperrholzplatten sind vor die Fenster genagelt. Die vermieteten Häuser erkennt man an den verstopften Regenrinnen und den fleckigen Fassaden. Nur die beiden Häuser am Ende der Reihe sind im Privatbesitz: Melissa und Neil haben das begehrte Endhaus, meines ist gleich daneben.
Justin kramt in seinem Rucksack nach den Schlüsseln, und ich stehe für einen Moment auf dem Gehweg vor dem Zaun. Er begrenzt, was man sehr großzügig unseren Vorgarten nennen könnte. Unkraut linst durch den nassen Kies, und der einzige Schmuck ist eine solarbetriebene Lampe in Form einer altmodischen Laterne, die dumpfes gelbes Licht verströmt. Melissas Garten ist auch mit Kies ausgeschüttet, aber bei ihr ist nirgends Unkraut zu sehen, und zu beiden Seiten ihrer Haustür stehen Buchsbäume in Töpfen, die zu perfekten Spiralen gestutzt sind. Unter dem Erkerfenster sind die Backsteine ein bisschen heller als an der übrigen Fassade. Dort hatte Neil eine Graffiti-Schmiererei von jemandem abgeschrubbt, der immer noch verbohrt genug war, gegen gemischtrassige Ehen zu sein.
In unserem Wohnzimmer hat keiner die Vorhänge zugezogen, sodass ich Katie sehe, die sich am Esstisch die Fingernägel lackiert. Früher habe ich darauf bestanden, dass wir uns zum Essen alle gemeinsam an den Tisch setzen; ich habe es geliebt, mir von den Kindern erzählen zu lassen, wie es in der Schule war. Anfangs, als wir hier neu eingezogen waren, war es die eine Zeit am Tag, in der ich das Gefühl hatte, wir kämen prima ohne Matt zurecht – die kleine, dreiköpfige Familieneinheit, zu einem Mahl um sechs Uhr abends am Tisch versammelt.
Trotz der Schmierschicht am Fenster, die sich in der Nähe einer vielbefahrenen Straße automatisch einstellt, erkenne ich, dass Katie sich Platz für ihr Maniküre-Set freigeräumt hat zwischen den Zeitschriften, dem Stapel Rechnungen und dem Wäschekorb. Letzterer hat sich irgendwie den Esstisch als natürlichen Lebensraum erwählt. Hin und wieder räume ich alles weg, damit wir sonntags mittags zusammen essen können, doch es dauert nie lange, bis uns eine schleichende Flut von Papieren, Wäsche und leeren Einkaufstüten zurück vor den Fernseher mit dem Essen auf dem Schoß verbannt.
Justin öffnet die Tür, und mir fällt ein, wie es war, als die Kinder noch klein waren und angeflitzt kamen, um mich zu begrüßen, als wäre ich Monate fort gewesen statt acht Stunden zum Regalauffüllen bei Tesco. Als sie ein bisschen größer waren, holte ich sie nach der Arbeit im Nachbarhaus ab und bedankte mich bei Melissa, dass sie auf die zwei aufgepasst hatte. Zwar beteuerten die Kinder damals, sie bräuchten niemanden mehr, der sie nach der Schule betreut, aber insgeheim fanden sie es klasse.
»Hallo?«, rufe ich. Simon kommt mit einem Glas Wein aus der Küche. Er reicht es mir, küsst mich auf den Mund und legt einen Arm um meine Taille, um mich dann dicht an sich zu ziehen. Ich gebe ihm die Plastiktüte mit dem Essen aus Melissas Café.
»Nehmt euch ein Zimmer, ihr zwei.« Katie kommt aus dem Wohnzimmer, die Finger gespreizt in die Luft gestreckt. »Was gibt’s heute Abend?« Simon lässt mich los und trägt die Tüte in die Küche.
»Würstchen und Pommes.«
Sie rümpft die Nase, und ich komme ihr zuvor, ehe sie anfangen kann, über Kalorien zu jammern. »Es ist noch Salat im Kühlschrank. Den kannst du dazu essen.«
»Damit wirst du deine fetten Knöchel auch nicht los«, sagt Justin. Katie versetzt ihm einen leichten Schlag, als er an ihr vorbeiläuft und die Treppe hinaufsprintet, zwei Stufen auf einmal nehmend.
»Werdet endlich erwachsen, ihr zwei.« Katie ist neunzehn und winzig. Sie passt locker in Größe 34, und es ist nichts mehr von dem Babyspeck übrig, den sie noch bis vor wenigen Jahren hatte. Mit ihren Knöcheln ist erst recht nichts verkehrt. Ich will sie in die Arme nehmen, doch mir fällt ihr Nagellack ein, also küsse ich sie stattdessen auf die Wange. »Tut mir leid, Schatz, aber ich bin erledigt. Und ab und zu ein bisschen Fast Food wird dir nicht schaden.«
»Wie war dein Tag?«, fragt Simon. Er folgt mir ins Wohnzimmer, wo ich auf das Sofa sinke, einen kurzen Moment die Augen schließe und seufze, als ich mich entspanne.
»Ganz okay, abgesehen davon, dass Graham mich verdonnert hat, die Ablage zu machen.«
»Das ist nicht dein Job«, sagt Katie.
»Genauso wenig wie das Klo putzen, und rate mal, was ich gestern machen musste.«
»Uärgs. Der Typ ist so ein Arschloch.«
»Du darfst dir das nicht gefallen lassen.« Simon setzt sich neben mich. »Du musst dich beschweren.«
»Bei wem? Ihm gehört der Laden.« Graham Hallow gehört zu jener Sorte Männer, die ihr Ego aufblähen, indem sie die Leute um sich herum kleinmachen. Ich weiß das, und deshalb stört es mich nicht. Meistens jedenfalls nicht.
Um das Thema zu wechseln, nehme ich die London Gazette vom Couchtisch, wo ich sie vorhin fallen gelassen habe. Sie ist noch feucht, aber ich falte sie so, dass die Anzeigen und die Werbung für Escortservices oben sind.
»Mum! Wieso siehst du dir denn die Escort-Anzeigen an?«, fragt Katie lachend. Sie hat die zweite Nagellackschicht aufgetragen und schraubt vorsichtig das Fläschchen zu, ehe sie an den Tisch zurückgeht, um die Hände unter eine Ultraviolett-Lampe zu halten, damit der Lack fest wird.
»Vielleicht überlegt sie, Simon gegen ein jüngeres Modell auszutauschen«, sagt Justin, der ins Wohnzimmer kommt. Er hat das schwarze T-Shirt und die Jeans ausgezogen, die er zur Arbeit trägt, und stattdessen eine graue Jogginghose und ein Sweatshirt an. In einer Hand hat er sein Telefon, in der anderen einen gehäuft vollen Teller mit Wurst und Pommes frites.
»Das ist nicht witzig«, sagt Simon und nimmt mir die Zeitung ab. »Aber im Ernst, warum siehst du dir die Anzeigen an?« Er runzelt die Stirn, und ich sehe, wie ein Schatten über sein Gesicht huscht. Ich werfe Justin einen verärgerten Blick zu. Simon ist vierzehn Jahre älter als ich, auch wenn ich manchmal vor dem Spiegel denke, dass ich ihn allmählich einhole. Da sind Falten um meine Augen, die ich in den Dreißigern noch nicht hatte, und die Haut an meinem Hals wird faltig. Ich habe kein Problem mit dem Altersunterschied zwischen uns, doch Simon erwähnt ihn häufiger, daher weiß ich, dass er ihm sehr wohl zu schaffen macht. Justin weiß es ebenfalls und nutzt jede Gelegenheit, Salz in die Wunde zu streuen. Ob diese Angriffe allerdings auf Simon oder mich abzielen, kann ich nicht genau sagen.
»Findet ihr nicht, dass die aussieht wie ich?« Ich zeige auf die Anzeige unten, direkt unter Angels »reifem« Service. Justin beugt sich über Simons Schulter, und Katie zieht die Hände unter der Lampe vor, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen. Eine Sekunde lang starren wir alle stumm auf die Anzeige.
»Nein«, sagte Justin im selben Moment, in dem Katie sagt: »Ein bisschen.«
»Du hast eine Brille, Mum.«
»Die trage ich nicht immer«, entgegne ich. »Manchmal habe ich Kontaktlinsen drin.« Obwohl ich mich nicht erinnere, wann ich die zum letzten Mal benutzt habe. Mich stört es nicht, eine Brille zu brauchen, und die jetzige mag ich. Das dicke schwarze Gestell lässt mich sehr viel intellektueller aussehen, als ich bin.
»Vielleicht erlaubt sich jemand einen Scherz«, sagt Simon. »›www.findtheone.com‹ – könnte dich jemand aus Spaß bei einer Dating-Agentur angemeldet haben?«
»Wer würde das machen?« Ich sehe zu den Kindern, ob sie eventuell einen Blick wechseln, aber Katie wirkt so verwirrt wie ich, und Justin isst seine Pommes.
»Hast du die Nummer angerufen?«, fragt Simon.
»Für ein Pfund fünfzig die Minute? Du machst wohl Witze.«
»Oder bist du es doch?«, fragt Katie. Ihre Augen blitzen. »Du weißt schon, ein bisschen Taschengeld nebenbei verdienen? Na los, Mum, uns kannst du es doch verraten.«
Das mulmige Gefühl, das ich seit der Entdeckung der Anzeige habe, ebbt langsam ab, und ich lache. »Ich wüsste nicht, wer ein Pfund fünfzig die Minute für mich bezahlen würde, Schatz. Aber die sieht wie ich aus, oder? Ich habe mich ganz schön erschrocken.«
Simon zieht sein Handy aus der Tasche und zuckt mit den Schultern. »Es wird jemand sein, der sich eine Geburtstagsüberraschung für dich ausgedacht hat, jede Wette.« Er stellt das Telefon auf Lautsprecher und tippt die Nummer ein. Es kommt mir lächerlich vor, wie wir alle um die London Gazette versammelt sind und eine Sex-Hotline anrufen.
»Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist nicht bekannt.«
Mir wird bewusst, dass ich den Atem angehalten habe.
»Na, das war es dann«, sagt Simon und gibt mir die Zeitung.«
»Aber was macht mein Foto da?«, frage ich. Mein Geburtstag ist noch lange hin, und mir fällt niemand ein, der es witzig fände, mich bei so einem Dating-Dienst anzumelden. Ich überlege, ob es jemand ist, der Simon nicht mag und für Probleme zwischen uns sorgen will? Matt? Den Gedanken verwerfe ich sofort wieder.
Unwillkürlich drücke ich Simons Schulter, obgleich ihn die Anzeige gar nicht zu verstören scheint.
»Mum, die sieht überhaupt nicht wie du aus. Das ist irgendeine alte Kuh mit ausgewachsener Blondierung«, sagt Justin.
In diesem Satz ist ein Kompliment versteckt, denke ich.
»Jus hat recht, Mum.« Katie sieht wieder zur Anzeige. »Sie sieht dir ähnlich, aber viele Leute ähneln anderen. Bei der Arbeit ist ein Mädchen, das haargenau aussieht wie Adele.«
»Ja, kann sein.« Ich sehe ein letztes Mal die Anzeige an. Die Frau auf dem Foto blickt nicht direkt in die Kamera, und die Auflösung ist so schlecht, dass mich wundert, wie sie für eine Anzeige ausgesucht werden konnte. Dann gebe ich Katie die Zeitung. »Pack die bitte zum Altpapier, Schatz, und hol uns was zu essen.«
»Meine Nägel!«, ruft sie.
»Meine Füße«, erwidere ich.
»Ich mach schon«, sagt Justin. Er stellt seinen Teller auf den Couchtisch und steht auf. Simon und ich wechseln einen verwunderten Blick, und Justin verdreht die Augen. »Was? Ihr tut ja so, als würde ich hier nie helfen.«
Simon stößt ein kurzes Lachen aus. »Und was willst du uns damit sagen?«
»Ach, leck mich, Simon. Dann hol dir doch selbst dein Essen.«
»Hört auf, alle beide«, gehe ich dazwischen. »Gott, manchmal weiß man nicht, wer hier das Kind ist.«
»Das meine ich ja. Er ist nicht …«, beginnt Justin, verstummt jedoch, als er meinen Gesichtsausdruck sieht. Wir essen vor dem Fernseher, zanken uns um die Fernbedienung, und ich blicke zu Simon. Er zwinkert mir zu: ein privater Moment inmitten des chaotischen Lebens mit zwei erwachsenen Kindern.
Als die Teller bis auf einen Fettfilm leer sind, zieht Katie ihre Jacke an.
»Willst du jetzt noch weg?«, frage ich. »Es ist schon nach neun.«
Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu. »Es ist Freitagabend, Mum.«
»Wo willst du hin?«
»In die Stadt.« Sie bemerkt meine Miene. »Ich teile mir mit Sophia ein Taxi. Das ist nicht anders, als würde ich von einer Spätschicht nach Hause kommen.«
Ich will erwidern, dass es sehr wohl anders ist. Dass der schwarze Rock und das weiße Top, die Katie zum Kellnern trägt, weit weniger gewagt sind als das hautenge Kleid, das sie jetzt anhat. Dass sie mit ihrem Pferdeschwanz frisch und unschuldig wirkt, mit diesem Look jetzt hingegen zerzaust und sexy. Ich möchte ihr sagen, dass sie zu sehr geschminkt ist, dass ihre Absätze zu hoch und ihre Fingernägel zu rot sind.
Natürlich sage ich das alles nicht. Schließlich war ich auch mal neunzehn, und ich bin schon lange genug Mutter, um zu wissen, wann ich meine Gedanken für mich behalte.
»Viel Spaß.« Aber so ganz kann ich es doch nicht lassen. »Sei vorsichtig. Bleibt zusammen, und halte immer die Hand über deinen Drink.«
Katie küsst mich auf die Stirn und dreht sich zu Simon. »Rede mal mit ihr, ja?«, sagt sie und nickt in meine Richtung. Aber sie grinst und zwinkert mir zu, ehe sie zur Tür hinaus, tänzelt. »Seid ja artig, ihr zwei«, ruft sie. »Und falls ihr nicht artig sein könnt, seid vorsichtig!«
»Ich kann nicht anders«, sage ich, als sie weg ist. »Ich mache mir Sorgen um sie.«
»Weiß ich, aber sie ist vernünftig.« Simon drückt mein Knie. »Sie kommt nach der Mutter.« Er sieht zu Justin, der ausgestreckt auf dem Sofa liegt und sein Telefon dicht vors Gesicht hält. »Willst du nicht mehr weg?«
»Pleite«, antwortet Justin, ohne den Blick von dem winzigen Bildschirm zu nehmen. Ich erkenne die blauen und weißen Kästchen eines Chats, doch die Schrift ist viel zu klein, als dass ich sie auf die Entfernung entziffern könnte. Ein Streifen rote Boxershorts trennt Justins Jogginghose von dem Sweatshirt, dessen Kapuze er aufgesetzt hat, obwohl er drinnen ist.
»Bezahlt Melissa dich nicht immer freitags?«
»Sie hat gesagt, dass sie mir das Geld am Wochenende vorbeibringt.«
Als Justin im Frühsommer im Café anfing, hatte ich schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass er jemals einen neuen Job finden würde. Er hatte ein paar Vorstellungsgespräche – eines in einem Plattenladen, das andere bei Boots – aber in dem Moment, in dem sie von dem aktenkundigen Ladendiebstahl erfuhren, war es das.
»Kann man verstehen«, war damals Simons Kommentar. »Kein Arbeitgeber will riskieren, jemanden einzustellen, der in die Kasse langen könnte.«
»Da war er vierzehn!«, verteidigte ich ihn sofort. »Außerdem musste er eine Menge durchmachen: Erst die Scheidung, dann der Schulwechsel. Er ist ja wohl kaum ein Krimineller!«
»Trotzdem.«
Ich ließ es gut sein, denn ich wollte mich nicht mit Simon streiten. Auf dem Papier war Justin nicht einstellbar, aber wenn man ihn kannte … Also ging ich zu Melissa. »Lieferungen«, schlug ich vor. »Prospekte verteilen. Irgendwas.«
Justin war nie der lernbegierige Typ. Er las nicht so gerne wie die anderen Kinder in der Grundschule. Bis er acht war, beherrschte er nicht mal das Abc. Mit den Jahren wurde es zunehmend schwieriger, ihn überhaupt in die Schule zu bekommen; die Unterführung und das Einkaufszentrum reizten ihn mehr als das Klassenzimmer. Er schloss die Schule mit einem GCSE in Informatik und einer Verwarnung wegen Ladendiebstahls ab. Bis dahin hatten die Lehrer begriffen, dass er Legastheniker war, aber da war es natürlich zu spät, noch etwas zu tun.
Bei dem Gespräch damals sah Melissa mich nachdenklich an, und ich fragte mich, ob ich unsere Freundschaft vielleicht gerade überstrapazierte.
»Er kann im Café arbeiten.«
Mir fehlten die Worte. »Danke« kam mir völlig unangemessen vor.
»Mindestlohn«, sagte Melissa sachlich, »und erst mal eine Probezeit. Montags bis freitags, abwechselnd Früh- und Spätschicht. Ab und zu auch an den Wochenenden.«
»Du hast einiges gut bei mir.«
Sie winkte ab. »Wozu sind Freunde da?«
»Vielleicht könntest du anfangen, deiner Mutter Miete zu zahlen, wo du jetzt einen Job hast«, sagt Simon. Ich sehe ihn streng an. Eigentlich mischt Simon sich nie in die Erziehung ein. Das war von Anfang an klar, und wir mussten gar nicht darüber reden. Die Kinder waren achtzehn und vierzehn, als ich Simon kennenlernte, also fast erwachsen, auch wenn sie sich nicht so benahmen. Sie brauchten keinen neuen Dad, und zum Glück versuchte Simon auch nie, einer zu sein.
»Katie fragst du nicht nach Miete.«
»Sie ist jünger als du. Du bist zweiundzwanzig, Justin, alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen.«
Justin schwingt die Beine zur Seite und steht auf, was sehr geschmeidig aussieht. »Du hast vielleicht mal Nerven! Wie wäre es, wenn du anfängst, Miete zu bezahlen, bevor du mir erzählst, was ich machen soll?«
Ich hasse das. Zwei Menschen, die ich liebe, gehen sich gegenseitig an die Gurgel.
»Justin, rede nicht so mit Simon.« Dass ich Partei ergreife, geschieht nicht bewusst, doch sobald ich es ausspreche, sehe ich Justins Blick. Als hätte ich ihn verraten. »Er schlägt es nur vor. Und ich will keine Miete von dir.« Würde ich nie, und mir ist egal, ob mich andere deshalb für zu weich halten. Ich bleibe dabei. Sicher könnte ich Justin einen winzigen Betrag für Kost und Logis abknöpfen, und er hätte immer noch so gut wie nichts. Wie soll er denn da leben, geschweige denn etwas für später zurücklegen? Ich war jünger als Katie, als ich nur mit einem Koffer voller Kleidung und einem wachsenden Bauch von zu Hause wegging, während mir die Vorwürfe meiner Eltern noch in den Ohren klingelten. Für meine Kinder wünsche ich mir etwas anderes.
Simon gibt keine Ruhe. »Suchst du eigentlich nach Arbeit? Das Café ist ja gut und schön, aber wenn du dir ein Auto kaufen willst, eine eigene Wohnung mieten, brauchst du mehr als das, was Melissa dir bezahlen kann.«
Ich verstehe nicht, was in ihn gefahren ist. Wir sind nicht reich, klar, aber es geht uns doch ganz gut. Wir müssen den Kindern kein Geld abnehmen.
»Dad hat gesagt, dass er mir Geld für einen Wagen leiht, wenn ich die Führerscheinprüfung bestanden habe.«
Ich fühle, wie sich Simon neben mir verkrampft. Das tut er jedes Mal, wenn Matt erwähnt wird. In manchen Momenten ist diese Reaktion ärgerlich, aber meistens wird mir davon wohlig warm. Ich glaube nicht, dass Matt jemals der Gedanke kam, jemand anders könnte mich attraktiv finden. Und mir gefällt, dass Simon mich genug mag, um eifersüchtig zu sein.
»Das ist nett von deinem Dad«, sage ich hastig. Meine Loyalität gegenüber Justin bewegt mich, etwas zu sagen – irgendwas –, um ihm beizustehen. »Vielleicht solltest du dir mal überlegen, später noch einen Taxischein zu machen.«
»Ich fahre doch nicht den Rest meines Lebens in einem Taxi rum, Mum.«
Justin und ich waren uns so nahe, als er noch jünger war; aber er hat mir nie richtig vergeben, dass ich Matt verließ. Ich denke, das wäre anders, wenn er die ganze Geschichte kennen würde, doch ich will nicht, dass die Kinder schlecht von ihrem Dad denken. Sie sollen nicht so verletzt werden wie ich.
Die Frau, mit der Matt geschlafen hatte, lag altersmäßig exakt zwischen Katie und mir. Komisch, auf was für Details ich fixiert bin. Ich habe sie nie gesehen, was mich früher aber nicht von quälenden Gedanken abhielt, wie sie wohl aussah. Ich stellte mir die Hände meines Mannes auf ihrem dreiundzwanzigjährigen, dehnungsstreifenfreien Körper vor.
»Tja, man kann sich eben nicht alles immer aussuchen«, sagt Simon. »Und das ist ein guter Job.«
Ich sehe ihn verwundert an. Sonst ist er immer schnell bei der Hand, wenn es darum geht, Matts mangelnden Ehrgeiz zu kritisieren. Teils bin ich genervt, weil ich mich genau erinnere, dass er Taxifahren mal als »Sackgasse« bezeichnet hat. Matt war am College und hat Bautechnik studiert. Das änderte sich schlagartig, als meine Regel so lange ausblieb, dass es nur eines bedeuten konnte. Noch am selben Tag gab Matt das Studium auf und suchte sich einen Job. Es war reine Knochenarbeit auf dem Bau, aber sie wurde nicht schlecht bezahlt. Nach der Heirat machte er seinen Taxischein, und seine Eltern gaben uns als verspätetes Hochzeitsgeschenk Geld für sein erstes Taxi.
»Das Café ist doch erst mal gut«, sage ich. »Und das Richtige wird sich schon noch finden. Da bin ich sicher.«
Justin gibt ein undefinierbares Schnauben von sich und verlässt das Zimmer. Er geht nach oben, und ich höre sein Bett knarzen, also nimmt er seine übliche Position ein: bäuchlings und den Kopf aufgestützt, damit er den Monitor seines Laptops sehen kann.
»Wenn das so weitergeht, wohnt er mit dreißig noch hier.«
»Ich will doch nur, dass er glücklich ist.«
»Er ist glücklich«, sagt Simon. »Und das auf deine Kosten.«
Ich verkneife mir die Erwiderung, die mir auf der Zunge liegt, denn sie wäre unfair. Immerhin habe ich gesagt, dass ich keine Miete von Simon will. Wir haben uns deshalb sogar gestritten, aber ich weigere mich, Miete von ihm anzunehmen. Wir teilen uns die Kosten fürs Essen sowie die Nebenkosten, und er lädt mich dauernd zum Essen oder auf Reisen ein – die Kinder auch. Er ist total großzügig. Wir haben ein gemeinsames Konto und uns noch nie Gedanken darüber gemacht, wer was bezahlt.
Aber das Haus gehört mir.
Als ich Matt heiratete, war das Geld richtig knapp. Er arbeitete nachts, ich saß von acht bis vier an der Kasse bei Tesco. So schafften wir es, bis Justin eingeschult wurde. Als Katie kam, war es leichter. Matt hatte mehr Arbeit, als er bewältigen konnte, und nach und nach konnten wir uns einige Extras leisten – mal essen gehen; sogar einen Sommerurlaub.
Dann trennten wir uns, und ich musste wieder von vorne beginnen. Keiner von uns konnte sich leisten, das Haus allein zu halten, und es dauerte Jahre, bis ich genug für die Anzahlung auf dieses Haus zusammenhatte. Deshalb schwor ich mir, mich nie wieder von einem Mann abhängig zu machen.
Wohlgemerkt: Ich schwor mir auch, mich nie wieder zu verlieben, und das ist jetzt das Ergebnis.
Simon küsst mich, eine Hand an meinem Kinn, dann in meinem Nacken. Selbst jetzt, nach einem sehr langen Tag, riecht er sauber, nach Rasierschaum und Aftershave. Ich fühle, wie mich die vertraute Hitze durchfährt, als er mein Haar um seine Hand wickelt und sanft daran zieht, sodass ich den Kopf hebe und er meinen Hals küssen kann. »Wollen wir früher schlafen gehen?«, flüstert er.
»Ich bin gleich oben.«
Ich staple die Teller zusammen, bringe sie in die Küche und lade sie in den Geschirrspüler. Aus dem Altpapierbehälter starrt mich die Frau in der Anzeige an. Ich schalte das Licht in der Küche aus und schüttle den Kopf, um den blöden Gedanken loszuwerden. Natürlich bin ich das nicht. Was hätte denn ein Foto von mir in einer Zeitung zu suchen?