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Inseriert: Freitag, 13. November
Weiß.
Ende dreißig.
Blondes Haar, gewöhnlich hochgebunden.
Brille (könnte Kontaktlinsen tragen)
Flache Schuhe, schwarze Hose mit engem Top. Roter, dreiviertellanger Regenmantel.
Konfektionsgröße: 38–40

08:10 Uhr: Betritt S-Bahnhof Crystal Palace. Redet kurz mit Straßenmusikerin und wirft Münze in Gitarrenkoffer. Nimmt S-Bahn nach Norden bis Whitechapel. Steigt um in District Line (westliche Richtung), Wagen Nummer fünf, um am Ausgang Cannon Street auszusteigen. Geht direkt aus dem Bahnhof und am Straßenrand entlang, um das Gedränge auf dem Gehweg zu meiden. Hält ihr Telefon in der rechten Hand, hat die Handtasche quer über den Oberkörper gehängt. Arbeitet bei Hallow & Reed, Immobilienmakler, Walbrook Street.

Verfügbarkeit: Montag bis Freitag
Dauer: 50 Minuten
Schwierigkeitsgrad: Mittel

»Wir müssen es ihr sagen.« Kelly blickte entsetzt auf den Bildschirm, der detailliert auflistete, was nur Zoe Walkers Arbeitsweg sein konnte.

»Ist sie das definitiv?«, fragte Lucinda. Kelly und Nick waren über den Schreibtisch des DI gebeugt und starrten auf seinen Laptop. In dem großen Büro waren alle anderen Lampen aus, und die gelbe Leuchtröhre über Nicks Schreibtisch flackerte ein wenig, als stünde sie kurz vorm Aus. Lucinda blickte von ihrem Bildschirm am Nebentisch auf, wo sie mühsam jedes Bild von der Website mit den Anzeigen in der London Gazette verglich.

»Die Beschreibung passt, das Datum des Eintrags passt, und sie arbeitet bei Hallow & Reed«, sagte Kelly. »Das muss sie sein. Sollen wir es ihr telefonisch mitteilen oder zu ihr fahren?«

»Moment.« Nick hatte nicht viel gesagt, als Kelly ihm erklärte, wie sie auf das Passwort gekommen war. Er hatte nur einen Blick auf ihr Telefon geworfen, dessen kleines Display nun einen ganz anderen Text über dem weißen Feld zeigte.

Login oder neues Konto anlegen.

Den Rest des Teams hatte Nick mit dem strikten Befehl nach Hause geschickt, um acht Uhr morgen früh zu einem weiteren Briefing da zu sein. »Wir haben einen langen Tag vor uns«, hatte er sehr ernst angekündigt.

Es hatte nur Sekunden gedauert, Nicks Computer hochzufahren und auf die Website zu kommen. Weit schwieriger war es, zur Polizeiverwaltung durchzukommen, um die Ausgaben außerhalb der normalen Bürozeiten absegnen zu lassen. Irgendwann war es Nick zu nervig geworden. Er hatte den Hörer aufgeknallt und seine eigene Kreditkarte aus seiner Brieftasche geholt.

»Hiervon dürfen die Medien niemals Wind kriegen«, sagte er jetzt. »Das würde ein Riesentheater geben. Also dürfen wir vorerst auch Zoe Walker nichts davon sagen.«

Kelly nahm sich eine Sekunde, eine angemessenere Antwort darauf zu finden als die, die ihr auf der Zunge lag. »Sir, sie ist in Gefahr. Ist es nicht unsere Pflicht, sie zu warnen?«

»Im Moment ist die Situation unter Kontrolle. Derjenige, der diese Anzeigen schaltet, weiß nicht, dass die Polizei an ihm dran ist. Folglich haben wir eine Chance, ihn zu identifizieren. Wenn wir das hier Zoe Walker zeigen, wird sie es ihrer Familie und ihren Freunden erzählen.«

»Dann bitten wir sie, es für sich zu behalten.«

»Verkennen Sie die menschliche Natur nicht, Kelly. Zoe würde versuchen, die anderen Frauen zu schützen. Ehe wir es uns versehen, ist die Presse dran, und dann bricht Panik aus. Unser Täter taucht ab, und das war es dann mit unserer Chance.«

Kelly fürchtete, sich im Ton zu vergreifen, wenn sie etwas sagte. Aber Zoe Walker war nun mal kein Kanonenfutter.

»Wir besuchen sie morgen und schlagen ihr vor, einen anderen Weg zur und von der Arbeit zu nehmen«, sagte Nick. »Wir können ihr zu den Standardmaßnahmen für jeden raten, der sich gefährdet fühlt – ändern Sie Ihren Tagesablauf, seien Sie weniger berechenbar. Mehr muss sie nicht wissen.« Er klappte den Laptop zu, um Kelly klar zu verstehen zu geben, dass dieses Gespräch beendet war. »Ihr beide könnt jetzt Schluss machen. Ich sehe euch frisch und munter morgen früh.« Kaum hatte er ausgeredet, ging der Summer für die Eingangstür. Kelly ging hin.

»Das wird der Cyber-Spezialist sein«, sagte Nick. »Lassen Sie ihn rein.«

Andrew Robinson hatte eine schwarzgerahmte Brille und einen kurz gestutzten Ziegenbart. Er trug ein graues T-Shirt und Jeans unter einem Parka, den er gleich auszog und auf den Fußboden neben seinem Stuhl fallen ließ.

»Sehr nett von Ihnen, dass Sie vorbeikommen«, sagte Nick.

»Kein Problem. Ich hatte sowieso nicht vor, so bald nach Hause zu gehen. Ich habe mir Ihre Website mal angesehen. Der Besitzer der Domain hat dafür bezahlt, nicht im WHOIS aufzutauchen – sozusagen das Telefonbuch der Websites –, deshalb musste ich eine Datenfreigabe beantragen, um an den Namen und die Adresse zu kommen. Bis ich die habe, versuche ich, über die IP-Adresse den Administrator zu finden, obwohl ich vermute, dass sie über Proxyserver gehen, also wird das nicht einfach.«

Auch wenn sie wenig von dem verstand, was Andrew sagte, wäre Kelly lieber geblieben und hätte zugehört. Doch Lucinda zog sich bereits ihren Mantel an, und widerwillig tat Kelly es ihr gleich. Unwillkürlich fragte sie sich, wie lange Nick noch weiterarbeiten würde und ob zu Hause jemand auf ihn wartete.

Sie nahmen die Treppe nach unten. Lucindas Haar war so glatt und schimmernd wie am Morgen, und Kelly wurde sich plötzlich ihrer wuscheligen Mähne bewusst, die sich jedes Mal in alle Richtungen aufstellte, wenn sie sich mit den Fingern hindurchfuhr. Vielleicht sollte sie ein bisschen Make-up ausgraben. Lucinda war nur ganz dezent geschminkt, doch der Lipgloss und die nachgezeichneten Augenbrauen verliehen ihr einen gepflegten, professionellen Look, der Kelly leider vollkommen abging.

»Wo müssen Sie hin?«, fragte Lucinda, als sie zur U-Bahn gingen. Sie bewegte sich mit großen Schritten, sodass Kelly schneller als gewöhnlich gehen musste.

»Elephant and Castle. Ich wohne in einer WG mit zwei anderen BTP-Polizistinnen und einer Krankenschwester. Und Sie?«

»Kilburn.«

»Nicht schlecht.«

»Ich wohne bei meinen Eltern. Beschämend, ich weiß, immerhin bin ich schon achtundzwanzig. Nick macht sich darüber immer lustig. Aber nur so kann ich genug für eine Anzahlung auf eine Wohnung ansparen.« Sie schwenkte hinter Kelly ein, als ihnen eine Frau in grellbunten Leggings und mit einer Pudelmütze auf dem Kopf entgegengelaufen kam, und sprach lauter. »Wie fanden Sie Ihren ersten Tag?«

»Mir schwirrt der Kopf. Aber ich fand es klasse. Es ist eine Weile her, seit ich in einer Ermittlungsabteilung war. Ich hatte schon fast vergessen, wie es da zugeht.«

»Wie kommt das eigentlich? Sie waren doch bei der Einheit für Sexualdelikte, oder?«

Zwar hatte sie mit der Frage gerechnet, trotzdem stockte Kelly kurz der Atem. Lucinda schien schlicht interessiert zu sein. Oder wusste sie schon, was passiert war? Wollte sie ein bisschen Klatsch hören?

»Ich wurde suspendiert«, sagte sie und überraschte sich selbst damit. Ich bin gegangen, lautete normalerweise ihre Antwort, gefolgt von einem blödsinnigen Geschwurbel, sie hätte mehr Erfahrungen im direkten Dienst vor Ort sammeln wollen. Oder Ich war krank, was der Wahrheit schon etwas näher kam. Sie blickte auf das Pflaster vor sich. »Ich habe jemanden angegriffen.«

»Einen Kollegen?« Lucinda ging jetzt wieder neben ihr. Sie klang eher neugierig, nicht vorwurfsvoll. Kelly holte tief Luft.

»Einen Gefangenen.«

Nennen Sie ihn beim Namen, hatte ihr Therapeut mehr als einmal gesagt. Es ist wichtig, dass Sie ihn als Person sehen, Kelly, als Menschen wie Sie und ich. Kelly hatte es getan, aber jedes Mal hatte es sich wie Dreck ihrer Zunge angefühlt.

»Er hat eine Schülerin vergewaltigt.«

»Scheiße.«

»Das entschuldigt nicht, was ich getan habe«, sagte Kelly hastig. Um das zu begreifen, hatte sie keine Therapie gebraucht.

»Nein.« Lucinda schien einen Moment nach den richtigen Worten zu suchen. »Aber es erklärt es vielleicht.« Schweigend gingen sie weiter, und Kelly fragte sich, ob Lucinda über das nachdachte, was sie eben gesagt hatte; ob sie über sie urteilte. Sie machte sich auf weitere Fragen gefasst, doch es kamen keine. »Wie Sie das Passwort geknackt haben, war super«, sagte Lucinda, als sie fast an der U-Bahn waren. »Nick war höchst beeindruckt.«

»Ach ja? Davon habe ich nichts gemerkt.« Kelly hatte versucht, sich nichts aus der verhaltenen Reaktion des DIs zu machen. Natürlich hatte sie keinen tosenden Applaus erwartet, aber etwas mehr als ein gemurmeltes Gute Arbeit wäre nett gewesen.

»Sie gewöhnen sich bestimmt noch an ihn. Ich persönlich mag seine Art. Er wirft nicht mit Lob um sich, folglich weiß man, dass man richtig gut war, wenn er einen lobt.«

Kelly vermutete, dass sie darauf lange warten konnte.

Am Eingang zur U-Bahn spielte ein bärtiger Mann Gitarre, einen Hut vor sich auf dem Boden, der bis auf wenige Münzen leer war. Sein Hund schlief auf einem ordentlich zusammengelegten Schlafsack vor einem Bündel mit Sachen. Kelly dachte an Zoe Walker und ihre Straßenmusikerin.

»Wenn Sie Zoe Walker wären«, sagte sie zu Lucinda, »würden Sie es nicht wissen wollen?«

Sie gingen an dem Musiker vorbei in den Bahnhof und griffen beide automatisch nach ihren Oyster-Karten.

»Ja.«

»Und …?«

»Es gibt eine Menge Dinge, die ich gerne wissen würde«, sagte Lucinda ernst. »Staatsgeheimnisse, Bill Gates’ PIN, George Clooneys Handynummer … Das heißt nicht, dass es gut für mich wäre.«

»Nicht mal, wenn es darum geht, ob man lebt oder ermordet wird? Oder vergewaltigt?«

Lexis Vergewaltiger hatte sie über Wochen auf Schritt und Tritt beobachtet, nahm die Polizei an. Möglicherweise seit Semesterbeginn. Sie waren so gut wie sicher, dass er die Blumen vor ihrem Zimmer abgelegt und die Nachrichten in ihr Postfach gesteckt hatte. Lexi hatte es abgetan, nachdem man sie auf dem Polizeirevier beruhigt hatte, dass es sich vermutlich nur um einen verliebten Kommilitonen handelte. Als die Polizei sie später fragte, ob sie bemerkt hätte, dass jemand sie verfolgte, hatte sie ihnen von den Donnerstagen erzählt, an denen sie aus ihrer Vier-Uhr-Vorlesung gekommen war. Da war immer dieser Typ gewesen, der an der Bibliotheksmauer lehnte und Musik hörte; das Gefühl, beobachtet zu werden, als sie wegging; das Knacken eines Asts hinter ihr, als sie die Abkürzung durch das Waldstück nahm. Sie war nicht die Einzige gewesen, der es so gegangen war, gab die Polizei zu. Sie hatten mehrere Meldungen von verdächtigen Vorkommnissen. Aber nichts Konkretes, hatten sie eilig hinzugefügt.

Lucinda blieb stehen und sah Kelly an. »Sie haben gehört, was Nick gesagt hat. Informationen zurückzuhalten ist unsere beste Chance, denjenigen zu finden, der die Website eingerichtet hat. Sobald wir ihn haben, wird der Rest ein Klacks.«

Kelly war enttäuscht. Sie hatte gehofft, dass Lucinda sich auf ihre Seite schlagen und den Einfluss, den sie eindeutig auf Nick hatte, nutzen würde, um ihn umzustimmen. Lucinda sah es ihr offenbar an.

»Sie sind vielleicht nicht einverstanden mit seiner Entscheidung, aber er ist der Chef. Wenn Sie es sich mit ihm nicht verderben wollen, spielen Sie nach seinen Regeln.« Sie nahmen zusammen die Northern Line und sprachen über Unverfänglicheres. Doch bis sie sich an der Euston Station trennten, hatte Kelly bereits ihre Entscheidung gefällt.

Regeln waren dazu da, gebrochen zu werden.