33
Das Kabäuschen der U-Bahn-Sicherheitszentrale roch noch nach neuem Teppichboden und frischer Farbe. Zwanzig Monitore hingen an der Wand über einer Reihe von Schreibtischen, hinter denen drei Mitarbeiter mit Joysticks und Tastaturen zwischen den Kameras hin- und herschalteten. In einer Ecke ging es durch eine Tür in den Schnittraum, wo das Bildmaterial gesichtet, bearbeitet und an die Ermittler weitergeleitet wurde. Kelly trug sich ein und ging zu Craigs Arbeitsplatz am anderen Ende des Raums, wobei sie aus dem Augenwinkel beobachtete, wie einer der Mitarbeiter via Kamera einem Mann auf der King’s-Cross-Station folgte.
»Er geht jetzt an Boots vorbei … wirft etwas in den Mülleimer unter der Uhr. Grüne Kapuzenjacke, schwarze Adidas-Jogginghose, weiße Turnschuhe.«
Ein Uniformierter lief durchs Bild hinter der Gestalt her, die nun auf Höhe von Claire’s Accessories war. Drumherum standen Leute mit Koffern, Aktentaschen oder Einkaufstüten. Sie alle blickten zu der riesigen Tafel über ihnen auf und warteten auf Anzeigen zu Gleisen, Abfahrten, Verspätungen. Die Verbrechen, die täglich um sie herum stattfanden, nahmen sie gar nicht wahr.
»Hi, Kelly, wie geht es dir bei der Met?«
Kelly mochte Craig. Er war Anfang zwanzig und konnte es nicht erwarten, in den aktiven Ermittlerdienst zu kommen. Craig sog alles in sich auf, was die Officers sagten, und verfügte über ein besseres Gespür als die Hälfte der Polizisten, mit denen Kelly bisher gearbeitet hatte, aber leider schnitt er bei den Fitness-Tests nicht sonderlich gut ab.
»Es ist super. Ich bin begeistert. Wie läuft die Ausbildung?«
Craig grinste stolz und klopfte sich auf den recht beachtlichen Bauch. »Diese Woche habe ich schon vier Pfund runter. Dank Slimming World.« Er war seit kurzem beim britischen Pendant der Weight Watchers.
»Wie klasse. Kannst du mir helfen, jemanden zu finden?«
Luke Friedland auf den Sicherheitsaufzeichnungen zu entdecken war leicht, denn Zoe Walkers Zeitangaben waren sehr präzise gewesen. In Whitechapel war zu viel Betrieb, als dass Kelly sie gleich entdecken konnte, doch nachdem die Bahn abgefahren war, zeigte die Aufzeichnung Zoe, die einem großen Mann gegenüberstand.
Luke Friedland.
Vorausgesetzt das war sein richtiger Name.
Hätte Kelly nicht gewusst, was passiert war, hätte sie die beiden für ein Paar gehalten. Sie wirkten unverkrampft miteinander, so wie Friedland Zoe leicht am Arm berührte, als sie sich verabschiedeten.
»Spielst du mir das nochmal ab?«, bat sie Craig.
Ein Aufwallen in der Menge, wie eine stumme La-Ola-Welle, deutete ein gewisse Unruhe beim Einfahren des Zugs an, wurde jedoch gleich vom Drängeln der Pendler abgelöst, die in die Bahn strebten. Die Kamera war zu weit weg, als dass zu erkennen war, was Zoe zum Stolpern brachte.
Kellys Telefon vibrierte auf dem Schreibtisch. Sie sah aufs Display, wo eine Nachricht von Lexi aufleuchtete, und drehte das Telefon um. Sollte Lexi ihr noch eine Nachricht hinterlassen – sie wollte nicht mit ihr reden.
Du verstehst das nicht, war Lexis letzte Nachricht gewesen.
Nein, dachte Kelly. Das tat sie nicht. Welchen Sinn hatte denn die Arbeit, die ihre Kollegen und sie machten? Welchen Zweck hatten die Justiz, die Gerichte, die Gefängnisse? Wozu für Recht und Gesetz kämpfen, wenn die Opfer – Leute wie Lexi – auf die Strafverfolgung pfiffen?
Sie nannte Craig das zweite Datum, Dienstag, 24. November, gegen 18 Uhr 30. Zoes zweite Begegnung mit Friedland, als er sie vom Zug in Crystal Palace zum Ausgang begleitete und sie auf einen Drink einlud. Hatte er noch andere Profile von der Website heruntergeladen? Hatte er bei diesen Frauen dasselbe versucht? Andrew Robinson war zuversichtlich, dass sein Cyber-Crime-Team den Mann hinter der Website identifizieren konnte, doch wie lange würde das dauern? Bis dahin, beschloss Kelly, würde sie die Ermittlungen genauso angehen wie zum Beispiel bei einem Drogenring – ganz unten anfangen. Gordon Tillman verweigerte die Aussage, doch vielleicht war Luke Friedland gesprächiger.
»Ist er das?« Craig drückte auf Pause, und Kelly nickte.
Sie gingen zu den Ticketsperren. Kelly erkannte Zoes roten Regenmantel und den eleganteren Mantel, den Friedland auch bei der vorherigen Aufnahme getragen hatte. Genau wie Zoe ausgesagt hatte, wartete Friedland, als sie sich der Ticketsperre näherten, und ließ ihr den Vortritt.
Kelly lächelte, als sie sah, wie Friedland seine Oyster-Karte durch den Leseschlitz zog. »Hab dich«, murmelte sie und notierte sich die genaue Zeit auf dem Bildschirm. Dann griff sie nach dem Telefon und wählte die Nummer aus dem Gedächtnis. »Hey, Brian, wie läuft es so?«
»Derselbe Mist, ein anderer Tag, du weißt ja, wie es geht«, antwortete Brian munter. »Wie ist dein Einsatz?«
»Herrlich!«
»Was kann ich für dich tun?«
»Dienstag, 24. November, Crystal Palace, zweite Sperre von links, 18 Uhr 37. Falls es hilft, unmittelbar vorher müsste das System eine Mrs. Zoe Walker zeigen.«
»Gib mir eine Sekunde.«
Kelly hörte, wie Brian auf seine Tastatur eintippte. Er summte leise vor sich hin, und Kelly erkannte denselben tonlosen Refrain, den er schon summte, solange sie ihn kannte. Brian war dreißig Jahre bei der Polizei gewesen, in Pension gegangen und hatte am nächsten Tag die Stelle bei der Londoner U-Bahn angetreten.
»Zu Hause würde ich mich langweilen«, hatte er Kelly erzählt, als sie ihn fragte, warum er nicht seinen verdienten Ruhestand genoss. Nach dreißig Jahren als Polizist in London gab es nichts, was Brian über diese Stadt nicht wusste. Es war schwer gewesen, ihn zu ersetzen.
»Hast du eine Ahnung, hinter wem du her bist, Kelly?«
»Definitiv ein Mann«, sagte sie, »eventuell Luke Friedland.«
Noch eine Pause, dann lachte Brian. Es war ein kehliges, rasselndes Lachen, befeuert von viel Kaffee und Benson & Hedges. »Sonderlich einfallsreich ist der Bursche nicht. Seine Oyster läuft auf einen Luke Harris. Willst du raten, wo er wohnt?«
»Friedland Street?«
»Volltreffer.«
Sie warteten auf ihn, als er von der Arbeit kam, und stiegen aus dem Wagen, als er stehen blieb, um seinen Türcode einzugeben.
»Dürften wir uns kurz mit Ihnen unterhalten?«, fragte Kelly, zeigte ihren Ausweis vor und beobachtete Harris aufmerksam. Bildete sie es sich ein, oder blitzte Panik in seinen Augen auf?
»Worum geht es?«
»Wollen wir nicht reingehen?«
»Es passt jetzt ganz schlecht. Ich habe heute Abend noch eine Menge Arbeit zu erledigen. Vielleicht könnten Sie mir Ihre Nummer geben …«
»Wir können Sie auch mit aufs Revier nehmen, wenn Ihnen das lieber ist«, unterbrach Nick ihn und kam hinter Kelly hervor, um sich neben sie zu stellen. Harris sah von Kelly zu Nick.
»Dann kommen Sie lieber mit rein.«
Luke Harris bewohnte ein Penthouse in W1, im fünften Stock eines Hauses mit kleineren Wohnungen in den unteren Etagen. Aus dem Fahrstuhl betraten sie einen großen offenen Bereich mit einer Küche links, deren Oberflächen weiß schimmerten. Offenbar wurde sie selten benutzt.
»Sehr nett«, sagte Nick und ging durchs Wohnzimmer zum Panoramafenster. Rechts überragte der BT-Turm die Nachbargebäude, und Kelly konnte die Shard und den Heron Tower in einiger Entfernung sehen. In der Mitte des Raums standen zwei dick gepolsterte Sofas zu beiden Seiten eines riesigen Glas-Couchtisches, auf dem sich Hochglanz-Reisebücher stapelten. »Haben Sie die alle gelesen?«
Harris war nervös, zurrte an seiner Krawatte und sah erst Kelly, dann Nick an. »Was soll das alles?«
»Sagt Ihnen der Name Zoe Walker etwas?«
»Bedaure, nein.«
»Sie haben Sie letzte Woche gefragt, ob sie mit Ihnen etwas trinken geht, vor der Bahnstation Crystal Palace.«
»Ach ja, natürlich! Zoe. Sie hat nein gesagt.« Kelly hörte einen Hauch von Empörung heraus, der nicht zu dem lässigen Schulterzucken passen wollte.
»Ist es ungewöhnlich, dass eine Frau Ihrem Charme widersteht?«, fragte Kelly. Ihre Worte troffen vor Sarkasmus. Immerhin besaß Harris den Anstand, ein bisschen rot zu werden.
»Ganz und gar nicht. Es ist nur so, dass wir uns recht gut verstanden, dachte ich. Und auch wenn sie gut aussieht, muss sie auf die vierzig zugehen, also …« Er verstummte unter Kellys vernichtendem Blick.
»Also dachten Sie, sie könnte ruhig ein bisschen dankbarer sein?«
Harris sagte nichts.
»Wie haben Sie Zoe Walker kennengelernt?« Nick wandte sich von den Fenstern ab und kam in die Zimmermitte. Harris hatte ihnen nicht angeboten, sich zu setzen, und war selbst stehen geblieben, deshalb tat Kelly es auch. Den DI plagten derlei Hemmungen nicht. Er ließ sich auf eines der Sofas fallen, sodass die dicken Polster sich zu beiden Seiten blähten. Kelly folgte seinem Beispiel. Widerwillig, als hätte er bis jetzt gehofft, sie würden nicht lange bleiben, nahm Harris ihnen gegenüber Platz.
»Wir sind am Montag in der U-Bahn ins Gespräch gekommen. Dann sind wir uns wieder über den Weg gelaufen und schienen uns gut zu verstehen.« Wieder zuckte er mit den Schultern, nur hatte es etwas Gezwungenes. »Es ist doch kein Verbrechen, jemanden einzuladen, oder?«
»Sie sind sich in der U-Bahn begegnet?«, fragte Kelly.
»Ja.«
»Rein zufällig?«
Harris stockte. »Ja. Hören Sie, das ist doch absurd. Ich habe zu tun, also wenn es Ihnen nichts ausmacht …« Er wollte aufstehen.
»Sie haben nicht Zoe Walkers Fahrtzeiten auf einer Website namens ›findtheone.com‹ gekauft?« Kelly sprach vollkommen gelassen und genoss Harris’ Gesichtsausdruck, der zwischen Schock und Furcht schwankte. Er setzte sich wieder, und Kelly wartete.
Das Schweigen zog sich ewig hin.
»Verhaften Sie mich?«
»Sollte ich?«
Kelly ließ die Stille für sich antworten. Hatte er ein Verbrechen begangen? Es war nicht strafbar, Zoe Walker auf einen Drink einzuladen, doch wenn er ihr nachgestellt hatte …
Gordon Tillman war am Samstagmorgen einem Haftrichter vorgeführt worden und saß wegen Vergewaltigung in Untersuchungshaft. Auf Anraten seines Anwalts hatte er keine einzige Frage beantwortet, obwohl Kelly angedeutet hatte, dass er seine Lage dadurch nur verschlimmerte.
»Wer steckt hinter der Website, Gordon?«, hatte sie erneut gefragt. »Bei Gericht wird man Sie weit gnädiger behandeln, wenn Sie uns helfen.«
Tillman hatte zu seinem Anwalt gesehen, der rasch für ihn antwortete. »Das ist ein kühnes Versprechen, PC Swift, zumal Sie nicht befugt sind, es zu geben. Ich habe meinem Mandanten geraten, nichts mehr zu sagen.«
Es war ein halbherziger Versuch gefolgt, eine Freilassung auf Kaution zu beantragen, bei der sich der Anwalt auf den bislang unbescholtenen Charakter Tillmans berief, dessen gesellschaftliches Ansehen und die Auswirkungen, die seine Abwesenheit auf seine Karriere haben könnte. Doch so schnell wie der Richter ablehnte, lag die Vermutung nahe, dass er sich längst entschieden hatte.
Aus Tillman hatten sie nichts mehr herausbekommen, aber vielleicht war Luke Harris mitteilsamer. Für ihn sah es weniger finster aus: kein Verdacht auf Vergewaltigung, kein Trainingsanzug von der Justizbehörde, keine Zeit in der Zelle. Sie mussten es vorsichtig angehen.
»Die Website«, hakte Kelly nach.
Luke stützte die Ellbogen auf die Knie und stützte den Kopf in die gespreizten Hände. »Ich habe mich da vor ein paar Wochen registriert«, murmelte er dem dicken Teppich unter dem Couchtisch zu. »Jemand bei der Arbeit brachte mich darauf. Zoes war das erste Profil, das ich mir heruntergeladen habe.«
Höchst unwahrscheinlich, dachte Kelly, ging jedoch nicht näher darauf ein. Vorerst nicht. »Und warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt?«
Harris blickte auf. »Weil ich es so verstanden habe, dass es als Geheimtipp gehandelt wird. Die Mitglieder sind angehalten, diskret zu sein.«
»Von wem?«, fragte Nick. »Wer betreibt die Website, Luke?«
»Weiß ich nicht.« Er sah ihn an. »Ehrlich nicht! Genauso gut können Sie mich fragen, wem Wikipedia oder Google Earth gehört. Es ist nur eine Website, die ich nutze. Ich habe keinen Schimmer, wer die betreibt.«
»Wie haben Sie von der Website erfahren?«
»Sagte ich doch, von jemandem bei der Arbeit.«
»Wem?«
»Ich erinnere mich nicht mehr.« Luke wurde mit jeder Frage von Nick nervöser.
»Versuchen Sie es.«
Er rieb sich die Stirn. »Wir waren mit mehreren Leuten nach der Arbeit im Pub. Es ging ein bisschen derbe zu. Einige der Jungs waren am Wochenende davor in einem Stripclub gewesen – da wurde viel von geredet. Sie wissen ja, wie es ist, wenn Kerle unter sich sind.« Es war an Nick gerichtet, der keine Miene verzog. »Jemand erwähnte die Website, und es hieß, dass man ein Passwort braucht, um einen Account einzurichten, und dass ich es in einer Telefonnummer versteckt in einer Kleinanzeige hinten in der London Gazette finde. Eine Art Geheimcode, nur für Eingeweihte. Ich wollte gar nicht, aber ich war neugierig, und …« Er brach ab und sah wieder abwechselnd Nick und Kelly an. »Ich habe nichts verbrochen.«
»Ich denke, die Entscheidung überlassen Sie lieber uns«, erwiderte Nick. »Also haben Sie sich Zoe Walkers Fahrtzeiten heruntergeladen und sind ihr gefolgt.«
»Ich bin ihr nicht gefolgt! Ich bin doch kein Stalker. Ich habe es nur so eingerichtet, dass ich sie zufällig treffe, sonst nichts. Hören Sie, das hier« – er schwenkte die Arme – »ist großartig, aber ich habe verflucht schwer dafür gearbeitet. Ich bin sieben Tage die Woche im Büro, habe jeden Abend Konferenzschaltungen mit den Staaten … Da bleibt nicht viel Zeit, Frauen kennenzulernen. Die Website ist eine Art Hilfestellung, sonst nichts.«
Hilfestellung, dachte Kelly und sah Nick an. »Erzählen Sie uns, was auf dem Bahnsteig in Whitechapel passiert ist, als Sie das erste Mal mit Zoe Walker geredet haben.«
Harris wich ihrem Blick aus und sah nach links oben.
»Was meinen Sie?«
»Wir haben eine Aussage von Zoe«, sagte Kelly und versuchte ihr Glück. »Sie hat uns alles geschildert.«
Harris schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, mied er jeden Blickkontakt und starrte stattdessen den illustrierten Italien-Reiseführer vor sich auf dem Couchtisch an. »An dem Morgen hatte ich versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Ich entdeckte sie in der S-Bahn, genau wie es in ihrem Profil stand. Da habe ich versucht, sie anzusprechen, aber sie hat mich ignoriert. Ich dachte, wenn ich ihr bei irgendwas helfe, würde es das Eis brechen – wenn ich ihr meinen Platz überlasse, die Einkaufstaschen trage oder so. Aber da ergab sich nichts. Dann war ich hinter ihr in Whitechapel, und sie stand richtig nah an der Bahnsteigkante, und …« Er brach ab. Nach wie vor fixierte er das Buch vor sich.
»Weiter.«
»Ich habe sie geschubst.«
Kelly schnappte unwillkürlich nach Luft. Gleichzeitig merkte sie, wie Nick sich neben ihr aufsetzte. So viel dazu, es ruhig und gelassen anzugehen.
»Ich habe sie sofort zurückgerissen. Sie war keine Sekunde in Gefahr. Frauen mögen es doch, gerettet zu werden, oder nicht?«
Kelly verkniff sich die Antwort, die ihr automatisch in den Sinn kam. Sie sah zu Nick, und er nickte. Dann stand sie auf. »Luke Harris, ich verhafte Sie wegen Verdachts auf versuchten Mord an Zoe Walker. Sie müssen nichts sagen, aber es könnte Ihrer Verteidigung schaden, wenn Sie bei der Befragung etwas zurückhalten, auf das Sie sich später vor Gericht berufen wollen.«