ACHTUNDZWANZIG
Zuerst stellte der Schnee nichts anderes als ein Hindernis da. Als etwas, das sie einfach langsamer machte. Es war, als würden sie auf Beton Schlittschuhlaufen. Aber der Schnee hatte auch seine Vorteile, wie sie herausfanden.
»Ich war noch nie auf dieser Seite der Stadt«, flüsterte Terry atemlos. »Ich war eher der Westlichere.« Während er sprach, verschwamm sein Gesicht hinter einer Atemwolke. »Ich meine, seit dem Ende der 90er hab ich nicht sehr viel miterlebt, also kann ich schwer etwas über die Veränderung der Stadt sagen.«
Seine Aussage war natürlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass er seine letzten 20 Jahre als Mörder eines Priesters hinter Gittern verbracht hatte. Dieser hatte den Fehler begangen, sich sexuell an ihm vergreifen zu wollen, obwohl er ein Priester war.
»Da hast du nicht viel verpasst«, sagte Marla. »Nur die Spice Girls und 9/11.«
»Heilige Scheiße«, sagte Terry. »Die hab ich ja ganz vergessen. Was war das nur für ein beschissener Albtraum. Die gottverdammten Spice Girls …«
Er wartete darauf, dass sie auf den Scherz aufmerksam wurden und als es soweit war, fiel es ihnen schwer, ruhig zu bleiben. Marla musste sich zusammenreißen. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, um das Lachen zu unterdrücken, damit es nicht durch die Straßen hallte. Shane sah plötzlich zur Seite, als hätte er etwas gehört.
»Was?«, flüsterte Marla. »Shane, hast du etwas gehört?«
Er nickte. Sie standen vor einem Coffeeshop, vor so einem, in dem das Zeug wirklich Geld kostete. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag ein Fahrzeug auf der Seite, die Tür ragte nach oben, was zeigte, dass die Passagiere so die Flucht ergriffen hatten oder schreiend so herausgezerrt wurden.
Shane sah hinter den Wagen.
»Ich sehe da nichts«, sagte Terry. »Der Wind –«
»Es war nicht der Wind«, murmelte Shane. Er nahm seine Pistole zur Hand, wartete … nun, niemand wusste, worauf, aber es war klar, dass ihn etwas erschreckt hatte, und dass es reichte, um auch die anderen miteinzubeziehen.
»Vielleicht«, sagte er nach ein paar Augenblicken, »lag ich falsch. Vielleicht liegt’s ja wirklich am Wetter.«
Er war dabei, seine 22er wieder zu senken, genau da sprang ein Hund aus der offenen Tür, zumindest sah es auf dem ersten Blick nach einem aus.
Dann schnellte er über das umgestürzte Fahrzeug und landete einige Schritte vor ihnen.
Alle drei zuckten zusammen; Marla quietschte, was eine Seltenheit war.
Shane hielt eine Hand hoch, ein Zeichen, sich so ruhig wie möglich zu verhalten. Die Waffe in seiner Hand klapperte, als er damit auf das herumlungernde Monster zielte.
Ein Tiger war es, ein verfluchter, ausgewachsener Tiger, mitten auf der Straße. Ein Tier, von dem man weiß, dass es in Afrika leben sollte, aber niemals erwarten würde, es mitten in einer amerikanischen Stadt anzutreffen.
Shane war planlos. Das Tier war offensichtlich nicht infiziert – war es überhaupt möglich, dass Tiere das Virus bekamen? –, aber es war ein Menschenfresser. Innerhalb von Sekunden waren sie in der Nahrungskette weiter nach unten gerutscht.
Marlas Augen quollen hervor, als sie um Atem rang. Sie hatte schon zuvor Tiger gesehen, im Zoo, wo sie hingehörten. Hier trennte sie kein Zaun, sie war noch nie so dermaßen verängstigt gewesen. Untote waren langsam, denen konnte man entkommen; ein Tiger würde sie jagen und dann in Stücke reißen, bevor sie eine Chance hatten, davonzukommen.
Das Tier stolzierte langsam die Straße entlang. Shane versuchte, sich an die unzähligen Natursendungen, die er und Holly sich angesehen hatten, zu erinnern, aber da war nie etwas über die Abwehr von Raubtieren zu sehen gewese, und schon gar nicht auf der Straße. Er wusste, dass man einen Hai auf die Nase schlagen musste, und sollte einem ein Pitbull über den Weg laufen und es nötig sein, dessen Schnauze aufzubekommen, dann musste man ihm einen Finger in den Arsch stecken . Shane dachte, dass keine dieser Methoden bei einem 300-Kilo-Tiger helfen würden.
Plötzlich drehte das Tier den Kopf in ihre Richtung. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, es öffnete das Maul und stieß ein fürchterliches Brüllen aus.
Einen Moment lang tat der Tiger nichts anderes, als sie anzustarren; vielleicht wollte er sie abchecken oder den bestmöglichen Angriffszeitpunkt ermitteln, um an seine Mahlzeit zu kommen.
»Können wir rennen?«, flüsterte Marla, dabei hatte sie sich gar nicht darum gesorgt, dass der Tiger sie hören konnte. Er konnte sie sehen, das reichte aus.
»Beweg dich nicht«, brachte Shane über die Lippen. »Noch nicht.«
Der Tiger grunzte und schnaufte wieder, als wäre er stinksauer und kam auf sie zu.
Terry wünschte sich, dass Moon ihm nicht die Waffe abgenommen hätte. Mit einem Schuss wäre das Biest vermutlich zu überwältigen gewesen. Die 22er, die Shane hatte, würde auch etwas bewirken, aber mit ihr waren viel Glück und mehr als ein Schuss nötig.
Marla rannte bereits die Straße hinab, Terry war ihr auf den Fersen. Während sie lief, schrie sie etwas Unverständliches. Shane war ein paar Schritte hinter ihnen, aber er ging andersrum, versuchte einen Schuss abzufeuern.
Seine Pistole vollführte den typischen Rückstoß in seiner Hand, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall. Wenn er einen Treffer abbekommen hatte, so ließ der Tiger es sich nicht anmerken. Eine Reihe Fahrradständer standen entlang der Straße, die er mit einem Satz überwand. Shane feuerte noch mal, dieses Mal schrie der Tiger auf, eine Kugel hatte ihn am Hinterlauf erwischt. Er rutschte ein paar Zentimeter durch den Schnee und knallte gegen einen Hydranten. Das Tier hatte Schmerzen und sah verwirrt aus.
Shane drehte sich um und fing an zu rennen, ohne dabei zurückzusehen. Der Tiger hätte sie längst erwischt, hätte er nicht geschossen – Marla und Terry waren etwa zehn Meter vor ihm und eilten um eine Ecke. Shane hörte ein Stöhnen von der Seite, sofort dachte er, dass er einen großen Fehler gemacht hatte, indem er den Tiger den Rücken zuwandte.
Dann sah er sie, überall Untote, der Pistolenlärm lockte sie an. Als sie ins Blickfeld schlurften, ein Meer von Kreaturen, hörte Shane den Tiger hinter sich brüllen.
Er eilte ebenfalls um die Ecke und stieß auf Marla und Terry, die stehengeblieben waren. In Wahrheit hätte er es ihnen gar nicht übelgenommen, wenn sie weiter um ihr Leben gelaufen wären.
»Schau!«, schrie Marla. Sie deutete hektisch auf die Straße dahinter, in der Untote erschienen.
Der Tiger war verwundet, er humpelte leicht, was ihn aber nicht davon abhielt, hinter den wandelten Leichen her zu sein, als wären sie Antilopen. Er stürzte hinter ihnen her und die Masse der Untoten umrundete ihn, ihnen war nicht klar, dass das Tier sie in Stücke reißen würde.
Es war eine bewiesene Tatsache, dass Untote einfach nur auf eine einzige Sache aus waren …
Futter.
Aber der Tiger war hungriger.
Shane, Marla und Terry sahen ihm ein paar Sekunden zu, bevor sie sich umdrehten und weiterliefen, keiner von ihnen wagte einen Blick zurück auf das Blutbad.
***
In dem Moment, als sie auf sie aufmerksam wurden, hinkten sie grunzend und mit ausgestreckten Armen auf die zu. Sie verschwendete keine Zeit damit, den Ersten zu erlegen, sie enthauptete ihn so, wie sie es sich selbst beigebracht hatte. Als die Kreatur zur Seite fiel, kam eine weitere direkt hinter ihr. Sie war sich unsicher, ob sie diese auch niederstrecken oder einfach davonlaufen sollte. Was brachte es, gegen sie anzukämpfen? Es würde niemals einen Letzten geben, zumindest nicht, solange sie es überleben würde. Das glich einem Versuch, gegen Kakerlaken anzukämpfen; natürlich, die erste Welle ist zu schaffen, aber was ist mit der folgenden, der darauffolgenden und so weiter?
Egal, sie zerschnitt mit ihrer Machete die Luft, Körperteile flogen umher wie Stroh.
Mehr kamen, viel mehr, und plötzlich wollte sie sich umdrehen und davonlaufen, konnte es aber nicht. Ihr Ausweg zum Tor wurde blockiert, es waren unzählbar viele Untote auf dem Weg dorthin.
Was zum Teufel, dachte sie, während sie um ihr Leben kämpfte.
***
»Da entlang«, sagte Marla und duckte sich in einer abgedunkelten Gasse. Kaum von der Straße entfernt, richtete sie sich wieder auf und versuchte zu Atem zu kommen. Als Terry und Shane bei ihr waren, taten sie dasselbe.
Es war erstaunlich, wie untrainiert sie waren; die Welt war den Bach runtergegangen, wie auch sie. Shane machte sich eine geistige Notiz, wieder mehr Sport zu treiben, sobald sie zurück in der Kaserne waren. So standen die Überlebenschancen größer, als alle 20 Meter Seitenstiche zu bekommen.
»Seht«, sagte Marla, sie streckte sich, immer noch atemlos. Sie deutete auf einen Zaun seitlich der Gasse. Auf dessen oberen Teil war eine Stacheldrahtspule gewickelt, allerdings nicht unüberwindbar, nicht mit den gepolsterten Jacken, die sie trugen.
Holzplatten waren nur durch ein Netz miteinander verbunden; eine kluge Taktik, um das Museum von möglichen Eindringlingen abzuschotten, aber wenn Marla das wusste, standen die Chancen groß, dass es viele wussten.
»Ich werde zuerst nachsehen«, sagte Shane. Er überreichte Terry die Pistole. »Wenn du den verdammten Tiger siehst oder einen Bären oder irgendetwas, das mehr Beine als wir hat, dann erschieß es.«
»Das werde ich«, sagte Terry. »Ich verarsche dich nicht, der Tiger hat mir echt die Hosen vollgemacht. Wirklich …«
Shane machte sich daran, den Zaun zu erklimmen. Dieser knackte, während er daran hochkletterte, kleine Schneehaufen fielen herab. Seine Stiefel passten kaum in die Löcher, weshalb er immer wieder ins Straucheln geriet. Marla keuchte, als er abrutschte, dann entspannte sie sich wieder, als sie merkte, dass er sich noch festhalten konnte.
Kaum oben angekommen, versuchte er, sich etwas aufzurichten und zu spähen. Man konnte niemals vorsichtig genug sein, nicht nach dem Ausbruch. Scharfschützen könnten das Museum eingenommen und sich irgendwo auf dem Dach postiert haben. Es klang lächerlich, aber war das nicht alles heutzutage? Shane nahm nie etwas einfach so hin, und laut dieser Einstellung könnte hier überall ein Scharfschütze kauern, der nur darauf wartete, den Abzug zu betätigen. Er musste ihm so wenig Zielfläche wie möglich bieten.
Er starrte quer über das Museumsgelände. Ein paar hundert Meter unberührter Schnee trennte sie vom Gebäude. Der Anblick der weißen unberührten Fläche erleichterte ihn ein wenig. Der hintere Teil des Museums war durch den Schneesturm so gerade erkennbar, das graue Ding konnte ihnen eine Zuflucht bieten.
»Was siehst du?«, flüsterte Marla zu ihm nach oben. Als er keine Antwort gab, rief sie ihn beim Namen.
»Wir können gehen«, sagte er. Es gibt hier auch keine Scharfschützen, das dachte er sich nur. Er zog sich über den Zaun und landete auf der anderen Seite.
Marla kletterte, und während sie das tat, hoffte sie, dass sie sich dabei nicht allzu blöd anstellen würde. Es war eine gute Idee gewesen, diese Abkürzung zu nehmen, und sie wagte vorsichtig den Aufstieg.
Terry kämpfte anfangs, aber kaum hatte er Halt gefunden, war er schneller als Marla über den Zaun. Er landete auf der anderen Seite und wischte sich die mit Rost beschmutzten Hände an der Vorderseite seines Mantels ab.
Marla folgte unmittelbar darauf, sie war nie dankbarer gewesen, mit ihren Füßen auf den eiskalten Schnee zu treffen.
»Kommt schon«, sagte Shane und drehte sich um, um loszulaufen.
Marla warf Terry einen flüchtigen Blick zu, bevor sie zu Shane aufschloss.
Sie musste immer noch an den Tiger denken, wie dieser zwischen den Untoten untergegangen war. Was sie jedoch mehr störte, war die Tatsache, dass der Tiger den Kampf womöglich gewonnen haben könnte.
Und wenn Shane keinen anderen Weg zurück zum Bus finden sollte, würden sie wieder auf dieses Tier treffen.
***
Sie griffen als Horde an, was sie noch nie zuvor erlebt hatte. Vielleicht waren sie zusammen schlauer. Vielleicht hatten sie sich weiterentwickelt, ihre Intelligenz zusammengelegt, und zusammenzuarbeiten, um an Nahrung zu kommen, war erst der Anfang.
Sie wich drei Kreaturen aus und rollte sich nach links ab. Als sie sich wieder aufrappelte – es machte sich nicht bezahlt, zu lange auf dem Boden zu liegen, obwohl sie fast erschöpft war –, hackte sie mit der Machete auf die Beine eines weiteren Untoten ein. Sehnen rissen und das Ding ging wie eine kaputte Marionette zu Boden. Sie war wieder auf ihren Beinen und erkämpfte sich ihren Weg zum Tor, welches auf die Straße führte.
Eines der Dinger, eine weibliche ehemalige Polizistin, kam stöhnend auf sie zu. Nur noch wenige Meter trennten sie von ihr. Sie konnte einen Pistolengurt an ihr erkennen und kam sofort auf eine verlockende Idee.
Ich kann es schaffen, dachte sie. Sie hatte noch nie die Gelegenheit, eine Waffe abzufeuern, warum sollte sie auch? Selten wurden Mädchen in ihrem Alter Waffen ausgehändigt, abgesehen von denen in anderen Ländern vielleicht. Die Tatsache, dass sie noch nie geschossen hatte, hielt sie kaum davon ab, und sie trat einen Schritt vor, trennte den Kopf einer Kreatur ab und wartete darauf, dass das Ding sich nicht mehr rührte. Dann wollte sie an das Pistolenholster kommen.
Die Waffe war schwer; schwerer als erwartet. Sie brauchte beide Hände, um sie halten zu können, und selbst dann war sie sich unsicher, den Abzug betätigen zu können, ohne zurückgeschleudert zu werden.
Sie steckte die Machete in die Schlaufen ihres Rucksacks und trat zurück, schaffte ausreichend Abstand zwischen ihr und dem nächsten Untoten, bereit für den ersten Schuss.
Beidhändig zielte sie auf das Gesicht der Kreatur. Sie betätigte den Abzug, und als nichts passierte, geriet sie kurz in Panik, bevor ihr der rote Punkt auffiel.
Die Waffe war noch gesichert.
Sie schnippte den Schalter um, richtete die Waffe wieder auf den Untoten und drückte ab.
Sie fiel nicht rückwärts, wie sie erst angenommen hatte, aber ihr Arm wirbelte herum, als die Kugel mit enormer Geschwindigkeit den Lauf verließ. Das Gesicht der Kreatur explodierte, öffnete die Oberseite des Schädels und hinterließ beim Austritt ein Loch in der Größe eines Tennisballs. Die Kreatur fiel sofort um.
Sie fragte sich, wie viele Kugeln noch übrig waren, als ihr bewusst wurde, dass sie mit der Machete besser dran war.
Sie sicherte die Waffe wieder und steckte sie in ihre Manteltasche.
***
Shane blieb stehen, als er das Echo eines Schusses vernahm. Es klang, als würde dieser von überallher kommen, obwohl er wusste, dass es in der Nähe war.
Nahm sie irgendwer unter Beschuss? Lag Shane mit den Scharfschützen richtig? Der Schuss klang nah, aber nicht nah genug, um für sie gedacht zu sein. Nirgendwo im Schnee waren Einschusslöcher zu sehen, was nur heißen konnte, dass sie nicht das angestrebte Ziel waren. Entweder so, oder der Scharfschütze war einfach zu unfähig.
»Shane, das war nah«, sagte Marla. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment zu Weinen beginnen, obwohl auch der eiskalte Wind schuld an den Tränen in ihren Augen sein konnte.
»Untote feuern keine Waffen ab«, sagte Shane. »Was bedeutet, das da irgendwo Überlebende sind.«
Terry nickte. »Ja, ein Überlebender, der uns bei dieser Dunkelheit für einen Untoten halten könnte.«
Er lag damit richtig, aber sie mussten andere Überlebende finden, oder nicht? Das war einer der Gründe, warum sie nach Jackson zurückgekehrt waren, um Überlebende zu finden und ihnen auch Hilfe zu leisten …
»Es muss direkt von da vorne kommen«, sagte Shane, große Atemwolken entstanden vor seinem Gesicht. »Der Straße vor uns.«
Marla seufzte. Sie wusste bereits, was Shane nun dachte; es lag in seiner Natur zu agieren und je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, desto mehr bemerkte sie ihre Angst schwinden. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, näherten sie sich dem Gebäude.
Es folgten keine weiteren Schüsse.
***
Sie wich dem wahnsinnigen Tier von Kreatur aus, fand sich aber sofort zwischen unzähligen anderen wieder, die sie bereits erwartet hatten. Die Machete zischte durch die Luft, als sie rückwärts stolperte; die Klinge landete in der Kehle eines Untoten, und ein dunkler Geysir spritzte sofort daraus hervor und besudelte den weißen Schnee.
Sie zog an der Machete, hoffte, sie irgendwie herauszubekommen. Zuerst passierte nichts. Das Ding war im Schlüsselbein verkeilt. So sehr sie es auch versuchte, sie herauszubekommen, sie steckte einfach fest. Fürs Erste konnte sie die Kreatur nur auf Abstand halten, um sicherzugehen, dass diese kein Stück ihres Kopfes erwischte.
Warum muss ich auch nur so klein sein?
Mit einem endgültigen Ruck schaffte sie es, die Klinge freizubekommen. Ein grausiges lautes Schmatzen war zu hören; die unbeeindruckte Leiche sah aus, als würde sie umkippen, schaffte es aber irgendwie, aufrecht zu bleiben, ihr Kopf hing halb herab, ihre Augen traten aus den Höhlen.
Wieder schwang sie die Klinge und trennte den Kopf endgültig ab. Diesmal fiel das Ding rücklings um, sofort breitete sich rundherum eine dunkle Lache aus.
Sie wich zurück, hoffte, dass das Ding ihr genügend Freiraum verschaffte. Sie waren nun viele und sehr schnell, und obwohl sie wusste, dass sie rennen konnte, war sie zu dem Entschluss gekommen, dass dies keine gute Idee wäre.
Früher oder später würde sie mit ihnen kämpfen müssen.
Warum nicht jetzt?
Warum nicht hier?
Ihr fiel kein Grund mehr für eine Flucht ein.
***
Sie standen am Rand des Gebäudes, der Schneesturm peitschte ihnen entgegen, das Dämmerlicht des nahenden Morgens spendete ihn nur wenig Trost. Es war egal, ob es Tag oder Nacht war. Diese Kreaturen waren nicht nachtaktiv, allerdings verschwanden sie auch nicht, wenn die Sonne aufging, so wie verfluchte Vampire es täten. Aber waren Zombies nicht auch Teil einer Mythologie? Waren sie mal, aber jetzt nicht mehr.
Sie waren real. Vampire existierten nur in der Fiktion. Obwohl auch niemand je damit gerechnet hatte, dass sich die Toten eines Tages erheben würden. Somit konnte keiner mehr vorhersagen, was die Zukunft noch auf Lager hatte.
Shane war der Erste, der auf die Horde aufmerksam wurde und es dämmerte ihm sofort, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Es waren zu viele für sie. Zu viele, wenn man die Schusswaffen berücksichtigte. Ein Weg führte an ihnen vorbei, aber diesen müssten sie rennen, sehr weit, und sie kämpften bereits um Sauerstoff, als wäre die Luft reiner Kohlenstoff.
Shane wollte einen anderen Weg um sie herum vorzuschlagen – vielleicht um die andere Seite des Museums, vielleicht gab es dort mehr Schatten und weniger fleischfressende Kreaturen –, als Marla keuchend ihre Hand so fest vor ihren Mund schlug, dass man beinahe die Zähne klappern hören konnte.
»Ich sehe ihn«, sagte Terry, er strengte seine Augen im Halbdunkel an. »In der Mitte.«
Shane hatte keine Ahnung, wovon die beiden sprachen. Alles, war er sehen konnte, waren Untote, eine verdammte Menge davon.
»Shane, dort ist wer«, sagte Marla, und deutete auf einen Punkt hinter der Horde. »Siehst du?«
Shane trat einen Schritt zur Seite, dorthin, wo Marla stand. Sie deutete mit ihrem eiskalten Finger in die Richtung, in der sie diesen angeblichen Überlebenden sah, und es half Shane, den Kerl unter diesen grauenhaften Viechern zu sehen.
»Heilige Scheiße, du hast recht!«, brachte Shane hervor. »Ich glaube nicht, dass wir ihm irgendwie helfen können.«
Das stimmte. Es gab einfach zu viele von ihnen und Shane konnte nicht für die anderen sprechen, aber er fühlte, dass es einfach zu viele waren. Die Kälte hatte einen Punkt erreicht, an dem der Zusammenbruch nicht mehr weit weg zu sein schien.
Und dann sprang der Fremde hoch und Shane erkannte, dass es gar kein Mann war.
Es war ein Kind.
Ein Mädchen.
»Scheiße!«, keuchte er. »Das ist ein verfluchtes Mädchen.«
Er steckte bereits ein neues Magazin in die Waffe. Marla hoffte ängstlich, von einem Bein auf das andere tretend, dass er nicht vorhatte, dorthin zu gehen. Obwohl sie es annahm.
Mit geladener Waffe blickte Shane zu dem Mädchen, das um ihr Leben kämpfte. Sie konnte kaum älter als acht gewesen sein, im gleichen Alter wie Megan …
Dann entdeckte er die Zöpfe des Mädchens, die mit dem Schwung der Machete mitschaukelten.
Megan.
Er stürmte in die Schlacht, kümmerte sich dabei nicht um sich selbst. Seine Tochter war am Leben und sie war eine verdammt gute Kämpferin.
Marla schrie ihm hinterher, versuchte ihn zur Vernunft zu bringen, aber es war zu spät. Sie konnte den Albtraum, der sich vor ihnen entfaltete, nur noch mitverfolgen.
***
Als sie den Schuss hörte, nahm sie sofort das Schlimmste an. Sie hatte wohl die Sicherung vergessen und die Pistole hatte sich jetzt in ihrer Tasche entladen. Sie machte sich auf einen bevorstehenden Schmerz gefasst, hoffte, dass die Kugel in eine andere Richtung geflogen war. Sie kämpfte gegen eine kleine, fette, nasen-, ohren- und lippenlose Leiche, fuhr mit der Machete herum und hoffte, dabei noch mehr von ihnen zu erwischen. Sie verfehlte ihr Ziel, doch dann zerplatzte der Kopf vor ihr mit einem lauten Knall. Da erkannte sie, dass es nicht ihre Pistole gewesen war, was auch erklärte, warum sie keinen Schmerz fühlte, als sich die Kugel durch sie hindurchgebohrt hatte.
Hatte sie nicht.
Die Kreatur sackte zusammen und schlug im Schnee auf.
Sie drehte sich um, um zu erkennen, von wo der Schuss abgefeuert wurde, und erkannte, dass er nicht von allzu fern kam. Er stammte von einem Mann, der auf sie zukam und der alles rund um sich erschoss. Er streckte sieben Leichen zu Boden, als wären sie nur kleine Unannehmlichkeiten. Sie konnte beim Anblick des Gesichts sagen, dass er entschlossen war, nicht zu sterben, nicht hier und nicht heute Abend, was mehr war, als sie von sich selbst behaupten konnte. Sie hatte sich praktisch mit ihrer letzten Schlacht abgefunden, und jetzt schien sie von einem Mann gerettet zu werden, den sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte.
***
Alles, was Shane sehen konnte, war Megan. Die Untoten rundherum waren nur im Hintergrund, Unschärfen, um die er sich nur nebenbei kümmern musste. Es war wie ein Blick durch ein Fischaugenobjektiv, in dem der Brennpunkt weitaus schärfer als alles drum herum war.
Er feuerte und feuerte. Untote fielen mit Kugeln in den Köpfen um. Schädelteile und Fleischbrocken flogen durch die Gegend, landeten im Weiß und sprenkelten es mosaikförmig. Hinter sich hörte er Marlas verzweifelte Schreie, aber er drehte sich nicht um und blieb auch nicht stehen, nicht einmal für eine Sekunde, weil seine Tochter immer noch am Leben war und sie seine Hilfe brauchte.
Er feuerte weiter.
***
Sie wirbelte mit ihrer Klinge so herum, als wäre diese ein fester Bestandteil ihres Armes. Sie köpfte drei Untote in rasend schneller Folge. Aus dem Nichts war ihr Überlebenswille wiedergekommen. Irgendetwas hatte es mit dem Mann mit der Waffe zu tun, der Mann, der aus dem Schatten kam, um ihr zu helfen, aber sicher war sie sich nicht.
Sie kämpfte und streckte so viele wie möglich zu Boden, und schon bald stand sie in einem Haufen Untoter, atmete schwer, war aber unversehrt. Ihr Rücken war dem Mann zugekehrt, der dieselbe Anzahl mit seiner Pistole niedergestreckt hatte, aber sie konnte seinen Blick fühlen. Sie zitterte ängstlich, wusste nicht, was sie in den nächsten Minuten erwarten würde, nur dass es den seltsamen Fremden beinhalten würde. In der Ferne hörte sie eine Frau schreien; der Mann war offensichtlich Mitglied einer Gruppe und sie war mit dem Kämpfen zu beschäftigt gewesen, um sie im Schatten seitlich des Museums zu bemerken.
Langsam wandte sie sich um und starrte in die traurigen leeren Augen eines gebrochenen Mannes.
***
Wie hatte er den Fehler machen können, das Mädchen für Megan zu halten? Wie konnte er nur so dumm gewesen sein? Kannte er seine eigene Tochter überhaupt noch? Die Kleine, die nun vor ihm stand, war gar nicht wie sie; nicht einmal ihre Haarfarbe war dieselbe wie die von Megan und doch schienen ihre Zöpfe … im Halbdunkel … identisch.
Das Mädchen starrte ihn an, ohne zu wissen, was sie sagen sollte, ihr fehlte auch jeglicher Mut dazu. Was machte es schon? Ihre Worte würden ihm sowieso nichts bedeuten; sie war nicht Megan und er war so dämlich gewesen, sie für Megan zu halten.
»Shane!«, kreischte Marla über das Museumsgrundstück, sie hatte Terry im Schlepptau. »Hast du deinen verdammten Verstand verloren?«
Ja, hatte er. Er wusste nun, dass er unzurechnungsfähig war. Das musste er sein, sonst hätte er in dem Mädchen mit denselben Zöpfen nicht das Gesicht seiner Tochter gesehen, als sie gegen die verdammten Untoten kämpfte.
Jedoch wurde er von diesem trügerischen Bild voll und ganz angezogen, sie lebte noch … und jetzt starrte er in das verängstigte Gesicht eines anderen Mädchens.
»Bist du okay?«, fragte Marla und nahm ihm die noch rauchende Pistole aus der Hand. Er sah wie ein buchstäblicher Geist aus. Er versuchte, das Mädchen nicht anzusehen, aus irgendeinem Grund gelang es ihm nicht.
»Gut«, murmelte Shane. Das Mädchen starrte ihn immer noch an, versuchte herauszufinden, warum der Mann sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt hatte. Terry trudelte heran und hockte sich neben sie.
»Bist du okay?«, fragte er sie auf eine Weise, die in der Regel Großvätern vorbehalten war. »Wie heißt du, Kleines?«
Das Mädchen sah zum ersten Mal von Shane weg und blickte nun Terry an. »Rebecca«, antwortete sie. »Aber meine Freunde nennen mich River.«
Natürlich gab es eine Geschichte dahinter, aber dies war weder die Zeit noch der Ort dafür.
»Nun, River, das war einfach phänomenal«, sagte Terry und zog sie an ihrem Arm zu sich. »Wie sicher bist du, dass du nicht gekratzt wurdest, Schatz?«
Jetzt wusste sie, warum er so freundlich zu ihr war; er wollte einfach nur nachsehen, ob sie während des Kampfes infiziert wurde. Aber es ärgerte sie nicht. Sie hätte in seiner Position genau dasselbe getan.
»Ich wurde nicht gekratzt, Mister«, sagte sie, obwohl sie sich gerade selbst von der Wahrheit überzeugen wollte. »Wäre mir aufgefallen. Ich achte immer darauf, dass mir ihr Kopf nicht zu nahe kommt, damit sie mich nicht beißen können.« Sie lächelte zart, ein wunderschönes Lächeln, welches ihr Alter verschleierte.
Mit ihrem Kopf nicht zu nahe kommen?, dachte Terry. Wie lange hatte dieses Mädchen das schon überlebt? Ausgehend von der Art, wie sie gerade mit der Klinge umgegangen war, konnte sie das mit ziemlicher Sicherheit schon vor dem Ausbruch. So zu kämpfen, war wie ein Geschenk, etwas das erlernt und gepflegt werden musste.
Sie war eindeutig begabt und Terry hatte Ehrfurcht vor ihr, als er ihr prüfend in die Augen sah.
»Kommt schon«, sagte Shane schließlich. Er ging weg, versuchte Abstand zwischen sich und River zu gewinnen. »Wir müssen weiter. Das Haus ist nur ein paar Straßen entfernt.«
Marla fiel auf, dass etwas nicht stimmte; sie hatte schnell gelernt, Shanes Emotionen zu lesen und jetzt hatte sie gut erkannt, dass etwas nicht in Ordnung war, auch wenn sie nicht sagen konnte, was.
»Shane, was ist mit River?«, fragte sie auf das Mädchen deutend. Das konnte die Kleine nicht gehört haben; Marla drehte sich um und sah, dass die sich mit Terry unterhielt und ihnen keine Aufmerksamkeit schenkte.
»Was ist mit ihr?«, fragte Shane gleichgültig. »Sie hat ziemlich lange selbst überlebt.«
Marla glaubte nicht, was sie hören bekam. »Also was? Du hast angedeutet, sie hierzulassen? Sie hat ziemlich lange selbst überlebt, hat sie es deswegen verdient, hier weiter alleine gegen den Rest zu stehen?«
Shane war plötzlich verärgert. Ohne Warnung ging Marla einen Schritt zurück. »Was willst du von mir hören, verflucht, Marla? Ich habe mir eingebildet, es wäre Megan! Ich hielt sie für Megan, weswegen ich hier mein Leben riskiert habe. Sie ist nicht Megan. Sie ist niemand, also machen wir genau auf die Art und Weise weiter wie bisher, bevor sich die Scheiße hier aufgetan hat!« Er blieb stehen, öffnete seinen Mund und schloss ihn kurz darauf wieder – als ob er etwas anfügen wollte, aber nicht die passenden Worte fand. Marlas Miene verriet ihm, dass seine Bemerkungen nicht geschätzt wurden, aber sie wollte doch wissen, was er hatte? Sie würden so weitermachen, wie sie angefangen hatten. Diese River, oder wie auch immer sie hieß, konnte tun und lassen, was sie wollte, es kümmerte ihn nicht.
Sie konnte kämpfen, somit war sie in Sicherheit, oder nicht? Megan war hilflos in einer Welt, die sie nicht verstand. Marla war im Begriff etwas zu sagen – etwas Vorwurfsvolles, das Shane vermutlich noch mehr verärgert hätte –, aber River kam dazwischen.
»Megan?«, fragte sie, als sie sich von Terry abwandte. Sie sprach Shane an, dessen Stimme der Wind zu ihr hinübergetragen haben musste. »Meinst du Megan Bridge?«
Shane sah zu River, seine Züge verhärteten sich, seine Augen suchten nach Antworten. Er sagte nichts; das konnte er nicht. Er stapfte durch den Schnee auf das kleine Mädchen zu, das immer noch ihre Machete hielt, als ob es eine Puppe wäre. Als er bei ihr war, ließ er sich auf seine Knie nieder und nahm sie an den Armen.
»Woher kennst du den Namen meiner Tochter?«, fragte er. »River, bitte, du musst mir das sagen, hast du sie gesehen oder weißt du, wo sie sich versteckt?«
River sah zu Marla, schweigend suchte sie nach Unterstützung. Da Marla die einzige anwesende Frau war, schien das wenig überraschend. Obwohl Marla nichts zu sagen wusste, nickte sie einfach. Sag ihm einfach, was du weißt.
River fing an zu sprechen, ihre Stimme war im Wind kaum wahrnehmbar. »Wir waren in der gleichen Klasse«, sagte sie. »Ich kannte sie nicht wirklich, nicht so wie meine beste Freundin oder so was, aber sie war ziemlich nett zu mir. Sie half mir immer bei Worten, die ich nicht aussprechen konnte. Sie war wirklich gut darin.«
Shane gefiel es nicht, dass sie in der Vergangenheitsform sprach, sagte aber nichts dazu.
»Sie hat mir von Ihnen erzählt. Sie sind ihr Vater, nicht wahr? Sie sagte, dass Sie weiter weg arbeiten würden, in einem anderen Teil des Landes, warum sie auch nie zu einem Elterntreffen oder Aufführungen gekommen sind. Jetzt erkenne ich«, fing sie an, und berührte mit ihren kleinen eisigen Fingern Shanes Gesicht, »dass Sie wie sie aussehen.«
Shane kämpfte gegen die Tränen an; Rivers Augen schienen sich auch damit zu füllen.
»Sag mir«, sagte Shane. »Bitte, wo ist sie, River?«
Das kleine Mädchen seufzte und das war es, was Shanes Tränen zum Fließen brachte.
»Es war vor ein paar Wochen im Supermarkt«, sagte River. »Ich war dabei, mir einen Weg durch die Dinger zu kämpfen, damit ich an etwas zu Essen und Wasser kam. Dort habe ich sie gesehen.«
Shane lächelte; seine Tochter war noch vor ein paar Wochen am Leben gewesen. Sie hatte den Ausbruch überlebt und war vermutlich irgendwo in Sicherheit und wartete dort auf Hilfe, zusammen mit Holly …
»Hat sie etwas gesagt? War ihre Mommy bei ihr? Weißt du, wie ihre Mutter aussieht?«
»Sie war nicht dabei«, sagte River. »Und ich wollte nicht zu nahe an Megan heran. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Die anderen, die draußen auf der Straße waren, waren auf der Suche nach Menschen wie mir, aber Megan saß mitten im Supermarkt.«
Shane verstand nicht, was sie ihm zu erklären versuchte. »War sie verletzt?«, fragte er mit ein wenig erhobener Stimme. »Hast du nicht versucht, ihr zu helfen?«
River sah nochmals zu Marla. Diesmal sagte Marla etwas.
»Shane, lass die Kleine doch ausreden«, sagte sie. »Das muss wirklich schwer für sie sein.«
Schwer für sie, dachte Shane. Es bringt mich verdammt noch mal um. Ich möchte nur wissen, wo sie steckt, und wie ich zu ihr komme …
»Ich konnte ihr nicht helfen«, sagte River. »Es gab nichts mehr, was ich tun konnte. Als ich dort war, war es bereits zu spät. Ich konnte es in ihren Augen sehen und sie saß einfach nur da und grunzte so, wie die anderen es tun. Sie kaute an einem Finger … ich erinnere mich daran, weil ich dachte, ich müsste mich dabei übergeben. Ich nahm mir nur das, was ich brauchte und eilte zurück in mein Versteck. Danach hab ich sie nicht mehr gesehen.«
Shane schüttelte seinen Kopf. »Nein, du liegst falsch«, sagte er, er schüttelte River, so fest er konnte, dabei ließ sie fast ihre Machete fallen. »Du musst falsch liegen. Megan geht’s gut. So hast du sie sicher nicht gesehen … du warst verwirrt, ihr geht’s gut … sie ist meine Tochter und ich werde sie finden.«
»Shane, sie ist tot«, sagte Marla und zog ihn in eine Umarmung. »Shane, sie ist tot. Sssssccchhh. Alles wird wieder, Shane, bitte, vertrau mir.«
Aber er konnte nicht. Er konnte nichts und niemandem mehr vertrauen. Die ganze Welt war gegangen und hatte seine Tochter mitgenommen. Sie war nicht tot, zumindest nicht wirklich, doch für ihn war sie das, und es gab keine Möglichkeit, sie wieder zurückzubekommen. Es schmerzte furchtbar; der schlimmste Schmerz, den er jemals in seinem Leben gefühlt hatte – und Schmerzen hatte er in letzter Zeit eine Menge.
»Hab ich ihm wehgetan?«, fragte River Terry, der sie zu trösten versuchte.
»Nein, Liebes«, antwortete er. »Er ist einfach fertig wegen seiner Tochter, das ist alles. Du hast alles richtig gemacht.«
So fühlte sich das nicht für sie an. Diesen Mann schüttelte es brutal, er schluchzte sich das Herz aus dem Leib und sie war dafür verantwortlich. Sie fühlte sich schrecklich; vielleicht hätte sie nichts sagen sollen.
Shane gelang es, sich wieder etwas zu fangen, wischte sich die fast gefrorenen Tränen aus dem Gesicht und sagte: »Wir werden sie trotzdem finden. Ich muss sie selbst sehen. Ich muss sie erlösen.«
Marla nickte. Sie verstand, was er damit sagen wollte, wusste aber, dass seine Tochter nun ziellos durch die Stadt schlurfte, wie alle anderen es taten. Die Chancen standen ziemlich gering, selbst wenn sie nun eine ungefähre Ortsangabe hatten.
»Dann lass uns tun, was wir tun müssen«, sagte Marla, ein Schauer überkam sie. Sie wussten, dass der einzige Weg ihr Überleben zu sichern der war, zur Kaserne zurückzugehen, trotzdem bat Shane sie, seine Tochter zu suchen – die nun eine Untote war. Ihnen war auch klar, dass sie nur im Schutz einer größeren Gruppe überleben konnten.
Terry stand plötzlich auf und zeigte in die Ferne. »Leute«, sagte er. »Seht mal.«
Die Straßen waren mit Untoten gefüllt, mehr als sie jemals zuvor gesehen hatten. Sie waren wie eine Armee, die versuchte, mutwillig eine Pest zu verbreiten, und diese Armee kam grunzend und unaufhaltsam durch den Schnee und den Wind auf sie zu.
»Wir müssen los«, sagte Shane. Er drehte sich um, um herauszufinden, dass die andere Seite nicht besser aussah; eine Horde von rund hundert Untoten schlurfte auf das gleiche Ziel zu, auf sie. »Fuck!« Er hob seine Pistole, aber die allein reichte nicht. Die Munition war knapp, so wusste er, und ziellos in eine Horde zu schießen, wäre reine Munitionsverschwendung.
Das kleine Mädchen – River - hob ihre Machete und deutete auf das Museum. »Ich war dort«, sagte sie. »Aber ich musste dort raus, weil ich mir vorher der wenigen Auswege nicht bewusst war. Wir werden dort aber in Sicherheit sein.«
Sie lief bereits los zum grauen Gebäude, ohne zurückzusehen. Terry folgte ihr; für ihn schien es nicht richtig zu sein, das kleine Mädchen ohne Erwachsene losziehen zu lassen, und dann erinnerte er sich, dass sie schon länger so überlebt hatte, und er fühlte sich irgendwie albern dabei, zu denken, dass sie das kleine Ding war, welches sie eben war.
Shane schüttelte seinen Kopf. »Dort sind wir gefangen«, sagte er zu Marla. »Sie werden einen Weg hineinfinden.«
Marla packte ihn am Arm und zerrte ihn Richtung Eingang. »Wir haben keine andere Wahl, Shane«, sagte sie. »Wenn wir heute Nacht sterben sollten, werden wir Megan nie finden. River hat recht. Dort drinnen sind wir sicherer als sonst wo. Wir müssen nur sichergehen, dass alles ordentlich verbarrikadiert ist.«
Shane kam etwas widerstrebend mit und gestattete sich selbst, ins Museum gezogen zu werden. Er wusste, dass hier zu viele von ihnen waren, um mit ihnen fertig zu werden; Scheiße, selbst zu viele, um sie zu umgehen. So eine Horde hatte er noch nie gesehen und sie würden sie mitten auf der Straße einfach niederrennen. Sich dagegenzustellen, schien sich nicht auszuzahlen.
Sie erreichten den Eingang des Museums und stolperten hindurch. Das Erste, was Shane auffiel, war der Temperaturunterschied. Das Gebäude wurde immer noch beheizt, was mehr war, als von den restlichen 90 Prozent im Lande gesagt werden konnte.
Das Stöhnen hallte schon Richtung Tür, angezogen vom Licht und dem Versprechen nach Fleisch. Shane knallte die Tür hinter sich zu und rief ihnen allen zu, etwas zu finden – egal was –, mit dem sie die Tür verbarrikadieren konnten. Terry hatte bereits einen Mahagonischrank durch den halben Raum geschoben. Er schien schwer genug zu sein, um die Tür verschlossen zu halten. Shane schob den Türriegel zu, während Terry den Schrank weiterschob. Das sollte fürs Erste reichen.
»Marla, mach das Licht aus«, sagte Shane von der Tür her.
Marla durchsuchte den Raum, suchte nach dem Schalter. River deutete auf eine entferntere Wand und raste hinüber. Sie schaltete sie aus, alle drei, und es wurde dunkel, begleitet von einem leisen, klickenden Geräusch.
In der Morgendämmerung sah alles düster aus, nicht die Art von Ort, den man sich wünschte, um sich dort eine längere Zeit aufzuhalten.
Sie lauschten still, erwarteten das Eintreffen der Horde vor dem Gebäude und dass Hunderte fauliger Hände an der Tür rüttelten.
Sie wurden nicht enttäuscht.
»Das war’s also?«, sagte Shane, er flüsterte über das schreckliche Kratzen hinweg. Es war wie ein Hurrikan, einer, der einen das Leben kosten würde, wenn die Tür nicht achtsam geschlossen wurde. »So soll es also enden?«
Terry rutschte entlang der Wand quer durch den Raum. »Das ist erst der Anfang«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie ihr es seht, aber ich werde auf keinen Fall so mit dieser Sache abschließen, so möchte ich es nicht enden lassen, niemals.« Er zog die Bibel aus seiner Tasche und fing an darin zu blättern, als wüsste, wonach er suchte. Als er die Stelle gefunden hatte, fing er leise an zu lesen, murmelte die Worte für sich selbst und hielt seine Augen geschlossen.
Dem höllischen Kratzen der Untoten vor der Tür lauschend.
»Er hat recht«, bestätigte Marla ihn. »Wir müssen da durch, Shane.« Sie sah zu River und sagte. »Wir müssen.«
Einen Moment dachte Shane über alles nach, was geschehen war. Über Holly und Megan und wie diese vermutlich in den Straßen auf der Suche nach Fleisch waren, und er wusste, dass die Welt am Ende war, dass nichts mehr hergestellt werden konnte. Er warf River einen Blick zu, die dastand und Terry Lewis mit der Naivität eines achtjährigen Mädchens dabei zusah, wie er durch seine zerfetzte Bibel blätterte. Als er das Mädchen ansah – die macheteschwingende Kriegerin, die besser als der Rest von ihnen kämpfen konnte –, wusste er, dass nicht alles zu Ende war. Solange es Menschen gab, die kämpften und zu überleben versuchten, war nicht alles verloren. Wenn selbst ein kleines Mädchen eine Zukunft vor Augen hatte, für die es zu kämpfen lohnte, dann sollten sie das doch alle haben.
Er zog seine 22er und fing an sie zu laden.
»Shane?«, fragte Marla. »Bist du okay?«
Er nickte, seufzte und zwang ein Lächeln hervor. »Wir sind bereit«, sagte er. »Wir werden das alle zusammen durchstehen.«