SECHS

Gegen vier Uhr fing es an zu schneien. Pappschnee. Der Boden war eisig, was es kaum besser machte. Die Baracken sahen aus, als ob sie glühten, als die Schneeflocken auf ihnen landeten. Das Weiß schien jeden Mauerturm und jeden Winkel des Gebäudes hervorzuheben. Aus der Ferne waren Untote zu hören. Shane fragte sich, ob das irgendwie mit dem Wetter in Zusammenhang stand, was er jedoch anzweifelte. Es hätte auch Feuer pissen oder Rasierklingen hageln können, ihre Reaktion wäre die gleiche geblieben.

Shane konnte nicht schlafen; er war zu aufgebracht wegen der ihm bevorstehenden Tage – und der Vorstellung, dass er seine Frau und seine Tochter auf die eine oder andere Art finden würde.

Die Entscheidung, sich auf die Suche nach ihnen zu begeben, war nicht die schlaueste. Trotz der Helikon-Jacke und dem Fox-Mark-III-Vlies, war es spürbar kalt, wie er feststellen musste.

Dazu schneite es jetzt; jede Flocke haftete wie weißer Roggen an seinem Vlies. Der khakigrüne Stoff war bald gespickt, was ihm das Aussehen eines dämlichen Schneemannes verlieh.

Sein Atem erzeugte Wolken vor seinem Gesicht, als er die Trainingsbahn entlanglief. Er war kein Soldat und hatte nie die Ambitionen gehabt, einer zu sein. Fitness schien jedoch derzeit eine Menge wert zu sein. Wenn man nicht laufen konnte, würde einen das Seitenstechen übermannen, und man müsste sich ausruhen, was aus einem einen leichten Fang machte. Im Gegensatz zu Menschen – was sie offensichtlich nicht mehr waren –, waren sie schmerzunempfindlich, verspürten kein Seitenstechen und es ging ihnen nicht die Luft aus. Sie waren unerbittlich; obwohl sie nicht schnell waren, brauchte es nur einen von ihnen, um am Arsch zu sein.

Shane wollte nicht am Arsch sein.

Etwas explodierte in der Ferne, weswegen Shane kurz stehenblieb. Es war weit weg, einen oder zwei Kilometer, doch jedes Mal brachte ihn dieses laute Geräusch zum Nachdenken. Es stellte ihn vor die Frage, ob es irgendwelche Streitkräfte gab, die immer noch in der Lage waren, eine Atombombe zu zünden, eine Stadt komplett auszulöschen und einen Neuanfang zu starten. Sicherlich hätten sie das schon längst getan, sollten sie überlebt haben. Obwohl radioaktiv verstrahlte Städte für eine kaum absehbare Zeit praktisch unbewohnbar waren.

Doch wie war das noch schnell mit Regierungen? Shane wusste, dass sie nicht die intelligentesten Pläne in den Schubladen hatten. Scheiße, die Städte waren schon unbewohnbar – mit diesen kannibalischen Hundesöhnen sowieso. Die wirklich wichtigen Leute wurden vermutlich evakuiert und warteten nun darauf, dass alles in Schutt und Asche gelegt wurde; so dachte er, war die Art Mentalität, welche die Regierung hegte.

Bei den Flammen der Explosion in der Ferne handelte es sich jedoch um nichts anderes als einen brennenden Wagen, weshalb Shane weiterlief. Er musste vorsichtig sein; der Schnee unter seinen Füßen verwandelte sich in Matsch. Eine falsche Bewegung, ein unachtsamer Schritt, und er würde ausrutschen, was ihm in dieser beschissenen Welt auf die entsetzlichste Art und Weise seinen Hals kosten könnte.

Dann entschied er, es bleiben zu lassen. Er wollte sich nicht in Gefahr bringen, nicht, wenn er die ganze nächste Woche damit verbringen würde, genau das zu tun.

Er drehte um und ging zurück zum Hauptgebäude.

Das Zusammenpacken der Ausrüstung für die Mission würde etwa eine Stunde dauern; danach wären sie da raus.

Auf der Straße des Vergessens.


***

»Er war bereits ein alter Mann«, sagte Terry zu sich selbst, während er sich auf das provisorische Bett legte. »Wenigstens ist er jetzt an einem besseren Ort.«

Wie ein Junge an seinem ersten Schultag durchquerte Jared den Raum. »Ja, aber er wirkte doch noch so fit, als wir ihn hier getroffen haben«, sagte er. »Sah aus, als könnte er es mit jedem von uns aufnehmen.«

Shane schenkte der Unterhaltung nicht allzu viel Aufmerksamkeit, obwohl er wusste, dass sie über Max Martigan sprachen. War es falsch, dass er gerade eben nur wenig Interesse daran zeigte? Es gab viel wichtigere Dinge als ein alter sterbender Mann, zumindest für ihn. Seine Familie, die noch am Leben sein könnte, zum Beispiel.

Immer noch am Leben, erinnerte er sich. Immer noch am Leben …

Er stopfte weitere Kleidung in seinen Rucksack, mit dem Wissen, dass er bald eine Grenze ziehen musste, oder er würde das Risiko eingehen, überladen zu sein.

»Nun, wenn du mich fragst«, sagte Marla, die gerade dazu stieß, »ist er im besten Moment seines Lebens von uns gegangen, auf dem besten beschissenen Weg.«

Terry warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor er sagte: »Natürlich, es hätte ihn auch schlimmer treffen können, aber es gibt auch bessere Möglichkeiten zu sterben, als hier auf einem Militärgelände verschanzt, auf dem kalten Boden liegend wie ein Hund eingeschläfert zu werden. Sein Ableben hätte verflucht besser sein können.«

»Kannst du mir die Wasserfalsche reichen«, bat Shane, der auf die grüne Kiste auf dem Boden neben dem Bett deutete. Terry reichte sie ihm.

»Danke, jetzt können wir aufhören, über den alten Max Martigan zu sinnieren. Er ist weg, fort von hier, endgültig. Also konzentrieren wir uns darauf, was wir tun müssen. Ihr erinnert euch? Die Lebenden?«

Alle drei starrten ihn schweigend an. Es war Shane, an den sie nicht gewöhnt waren. Jemand, der sie nicht wirklich kümmerte.

»Marla«, sagte Shane schlussendlich, als ihm auffiel, dass die unangenehme Stille gebrochen werden musste. »Ist es dir gelungen, die Schlüssel zu bekommen, nach denen ich gefragt hatte?«

Sie fischte sie aus ihrer Tasche. »Leichter, als ich angenommen hatte«, sagte sie lächelnd. Offensichtlich hatte sich ihr Sex-Appeal wieder mal ausgezahlt. »Dem Arsch war gar nicht bewusst, was ich vorhatte. Ich bin mir sicher, er dachte, ich würde ihn dafür küssen.«

Victor Lord war vieles, unter anderem auch ein lüsterner, alter schleimiger Drecksack. Der Snatch-Land-Rover war seiner. Nun, technisch gesehen, gehörte er der Kaserne, aber seit er hier die Show veranstaltete – oder sich zumindest einbildete, dass er das tun würde –, gab er den Schlüssel nicht mehr aus der Hand.

Aber jetzt nicht mehr.

»Gut«, sagte Shane. »Dir ist schon bewusst, dass er weiß, dass du es warst?«

Sie seufzte mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Darauf verlasse ich mich«, sagte sie. »Was hätte es sonst für einen Sinn gemacht, der stinkenden Zigarrenfresse so nahe zu kommen?«

»Richtig«, sagte Shane entschieden. »Ich gehe davon aus, dass ihr alle bereit seid, weil es keine Rückkehr geben wird, wenn wir uns erst einmal vom Acker gemacht haben, zumindest für eine Weile nicht.«

Terry stemmte sich von der Matratze hoch, sie knarrte vor Erleichterung. »Hab meine Tasche schon gepackt, wie sich allerdings herausstellte, breche ich gerne mit leichtem Gepäck auf.« Er hob einen kleinen Ranzen vom Boden hoch und ließ ihn auf die Matratze fallen. »Hab alles, was ich brauche, genau hier.«

Shane schüttelte den Kopf. »Waffen«, sagte er. »Wir sollten mal herausfinden, was wir von denen mitnehmen könnten.«

Jared trat nervös vor. Es schien, als ob er genau auf diesen Moment gewartet hatte, jetzt wollte er das Beste daraus machen.

»Hab schon darüber nachgedacht«, stotterte er. »Das wollte ich sowieso, wisst ihr. Irgendwie wollte ich mich nützlich machen, deswegen dachte ich, dass ich etwas nützlichen Kram auftreiben sollte.«

Jared ging kurz hinaus und kehrte eine Minute später mit einer Tasche, die einer Hockeytasche glich, zurück. Eigentlich war sie das auch. Die Marke Kookaburra war schick darauf aufgedruckt.

»Heilige Scheiße«, entwich es Marla. »Was haben wir vor? Wollen wir mit den Untoten auf dem Weg nach draußen ein wenig spielen? Ich vermute mal nicht, dass sie große Fans sind.«

Jared hielt kurz beim Öffnen der Tasche inne und ihr einen warnenden Blick zu. »Wow, du bist wirklich witzig«, sagte er sarkastisch. Dann öffnete er die Tasche ganz und entnahm ihr den einem Hockeyschläger unähnlichsten Gegenstand, den man sich vorstellen konnte.

Eine Remington Schrotflinte.

»Jesus Christus, Jared!«, keuchte Shane, vollkommen hypnotisiert von der Waffe in Jareds Händen. In Wahrheit war es für ihn so, dass jeder das Ding in der Hand halten sollte, nur nicht Jared. »Wo, verflucht noch mal, hast du die her?«

Jared grinste, er erkannte, dass er soeben die Gruppe beeindruckt hatte. »Du kennst Moon? Großer Typ, Bart?«

Shane kannte David Moon. Ihm war auch bewusst, dass das Stehlen seiner Waffe ein Fehler war, den man nicht mehr rückgängig machen konnte.

»Wir reden doch über den großen Typen?«, fragte Shane mit vorgetäuschter Begeisterung. »Der große Mann, der wahrscheinlich die Scheiße aus dir herausprügeln wird, wenn er herausfindet, was du getan hast?«

»Das klingt nach ihm«, sagte Jared, als er die Flinte hielt. Marla wich ein paar Schritte zurück, sie wollte den Lauf meiden.

»Nun, das ist eine gewaltige Waffe«, erklärte Terry, dann nahm er sie Jared ab, der offensichtlich keine Verwendung dafür hatte. Er entlud sie und ließ die Patronen in die Tasche gleiten. »Hast du gut gemacht, Jared. Sehr gut sogar.«

Jared strahlte. »Danke, Mann«, stotterte er.

»Also haben wir eine Waffe«, sagte Marla. »Und sonst?«

Shane hatte eine 22er, die vermutlich noch nie abgefeuert worden war. Keiner der anderen wollte wissen, woher er sie hatte, vermutlich war das auch besser so. Er hatte auch Messer; eine Menge davon, obwohl diese nur für den Nahkampf geeignet waren, und es war ihnen allen klar: In der Nähe von so einem Ding zu sein, war das Letzte, was sie wollten.

Shane überreichte Terry ein langes Messer, der es voller Angst und Verwirrung anstarrte. »Sollte es so weit kommen«, fing er an, »wäre es mir lieber, du würdest sie schnell mit der Flinte erledigen.«

Shane schüttelte seinen Kopf. »Vermutlich, Pater«, lächelte er. »Ich glaube allerdings nicht, dass uns dieser Luxus vergönnt sein wird. Du weißt so gut wie ich, dass wir sie mit einem einzigen Flintenschuss anlocken würden. Bevor wir noch wissen, was los ist, wären sie überall. Nein, Messer sind sicherer. Leiser.«

Terry ließ das Messer in die Tasche gleiten. Es passte kaum hinein und ihm war klar, dass er keine schnellen Bewegungen mit der Tasche machen durfte, weil er sonst das Leder aufschlitzen und alle seine Vorräte verlieren würde.

»Ich denke, wir sind so gut wie fertig«, sagte Shane, als er seinen Rucksack hochnahm. »Hat noch wer etwas Produktives beizutragen?«

Jared sah zu Terry, der sich zu Marla wandte. Alle schüttelten ihren Kopf.

»Dann sehen wir zu, dass wir verflucht noch mal von hier wegkommen«, sagte Shane. »Bevor der Wichser Victor seinen schleimigen Arsch aus dem Bett schwingt.«

Sie gingen zum Snatch.