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Bevor sie aufbrachen, berief Victor eine Lagebesprechung ein. Das war eine klare Sache. Man konnte nicht einfach so loszuziehen, ohne vorher eine Besprechung abzuhalten; es galt, die Leute zu informieren, in die man sein Vertrauen gesetzt hatte. Das war der Grund, warum sie einen mehr respektierten.

Als Victor in die Gesichter der Menge starrte, war er sich da nicht mehr so sicher. Irgendwie kam es ihm vor, als ob er sich an einen Haufen Schulkinder wandte, und mit einem Mal fühlte er sich verletzlich und sehr nackt.

»Ladies und Gentlemen, ich würde gerne etwas sagen.« Er beobachtete, wie einige der Überlebenden ihm eine Chance gaben, sie drängten die Leute neben sich zur Seite. »Lasst ihn sprechen.«

In einer Ecke zündete sich Maggie Cox eine Zigarette an und starrte ihn mit ihren tiefliegenden Augen an. Ihr Blick aus ihrem runzeligen, weichen Gesicht schien ihn lautlos zu verspotten. Er konnte sie nur eine Sekunde lang ansehen, bevor er sich auf einen anderen Punkt fokussierte.

»Leute«, sagte Victor, mit beiden Händen gestikulierte er beinahe entschuldigend herum. »Ich muss mich mit euch über ein Problem, welches mir zugetragen wurde, unterhalten.«

Das zeigte Wirkung. Die Menschen stießen ihre Nachbarn heftiger an und brachten diese zur Ruhe. Alle lauschten.

»Schon besser«, sagte der Captain. »So wie die meisten von euch wissen, versuche ich diesen Ort nach bestem Wissen und Gewissen … sicher und bewacht zu halten. Jeder bekommt etwas zu essen, und ich versuche, Medizin für die Kranken und Schwachen aufzutreiben.«

Wie um es zu betonen, fingen einige der Leute gleichzeitig zu husten an. Victor wurde gezwungen, einige Momente abzuwarten, bevor er fortfahren konnte.

»Also, ich denke, dass ich sehr fair und hilfsbereit bin. Und dass ich mich um alles kümmere, was in meiner Macht steht. Doch so mancher, wenn ihr euch umseht, wird es euch selbst auffallen, hat beschlossen, nicht mehr hierbleiben zu wollen und auf eigene Faust loszuziehen.«

Eine Kakofonie von schockierten Keuchlauten erfüllte den Raum, und Victor Lord wusste, dass er sein Volk immer noch unter Kontrolle hatte. Zumindest die meisten von ihnen.

»Nun, Leute, eigentlich gebe ich einen Scheiß darauf, ob manche beschließen, mitten in der Nacht aufzubrechen. Jeder darf sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, und das gilt für jeden von euch. Aber diese Leute, diese … Arschlöcher, haben etwas mitgenommen, von dem wir wissen, dass es sehr entscheidend für das Wohlbefinden dieser Gruppe ist.«

Die Überlebenden wurden etwas lauter; einige von ihnen fingen an, nach vorne zu brüllen. Sie waren über die Kühnheit dieser Deserteure empört. Typischerweise waren es Männer zwischen 40 und 50, hauptsächlich Drecksäcke, die niemals einen Finger für das Lager gerührt hatten. Und genau die klangen nun so, als ob sie schon immer alles gegeben hätten.

»Einer unserer Jeeps wurde gestohlen«, fuhr Victor fort. »Diese Hurensöhne haben mitten in der Nacht beschlossen, einfach damit aufzubrechen. Also, ich habe keinen Plan, wohin sie damit gefahren sind, aber ich kann euch versichern, dass wir sie aufspüren werden und ich unser Fahrzeug zurückbringe.«

Etwas Jubel machte sich breit, aber bei weitem nicht so, wie es sich Victor erhofft hatte. Kaum war der Applaus abgeklungen, drang eine Stimme aus den letzten Reihen nach vorne. Victor musste nicht zweimal hinsehen, um zu erkennen, von wem sie stammte.

»Und was haben Sie mit diesen Leuten dann vor?«, fragte Maggie Cox, die gerade eine blau-graue Rauchwolke in die Atmosphäre blies. »Werden Sie sie auch zurückbringen?« Die Antwort auf die Frage kannte sie bereits, sie wollte diese nur der Allgemeinheit zugänglich machen.

»Denken Sie, dass sie eine zweite Chance verdient haben?«, fragte Victor. Gott, wie sehr er dieses alte mumifizierte Schwein hasste. »Sie haben dieser Gruppe etwas Lebenswichtiges entwendet. Ihre egoistische Aktion könnte einige, oder sogar alle hier, das Leben kosten.«

Maggie schnaubte und drückte ihre Zigarette am Türrahmen rechts neben ihr aus. »Sie und ich wissen genau, dass das nicht der Wahrheit entspricht«, sagte sie mit kratziger Stimme. »Wir haben noch mehr Fahrzeuge, und wir haben diesen Rotorvogel auf dem Dach. Sie haben absolut keinen Grund, auf Rache aus zu sein.« Sie zündete sich eine neue Zigarette an und lächelte süffisant in sich hinein. Die Menge wandte sich wieder Victor zu, wartete stumm auf seine Antwort.

Er lachte, ein nervöses Kichern, welches ihn dumm und ungeschickt aussehen ließ; Gott, wie verdammt er diese räudige Hündin hasste.

»Ich versichere euch allen, dass ich mich nach keiner Rache sehne. Diese Leute haben ihre Rechte verwirkt. Soweit es mich betrifft, möchte ich nur sicherstellen, dass denen bewusst wird, welche Gefahr sie nun hierher gebracht haben.« Das ist richtig, dachte Victor. Trag dick auf, hol dir die Menge zurück, wetteifere um Blut.

»Wissen Sie denn überhaupt, wohin sie sind?«, rief Maggie, die gerade zwischen zwei Zelten stand. »Sie können bereits überall sein; Sie reden gerade so, als ob Sie wüssten, wohin sie sind. Scheiße, Captain, wie dämlich sind Sie eigentlich?«

»Hüten Sie Ihre Zunge«, mahnte Victor sie, weil er spürte, dass die Frau absichtlich versuchte, ihn dumm dastehen zu lassen. »Wir wissen, dass sie an diesem Morgen sehr früh weg sind, und dass uns der Schnee verraten wird, in welche Richtung sie aufgebrochen sind. Ihre Spuren werden wir vom Helikopter aus verfolgen können.«

»Und Sie werden sie zurückbringen, wenn Sie sie erwischt haben?«, wiederholte sie.

Victor hielt inne und dachte nach, bevor er sagte: »Wenn es das ist, was die Leute wollen, dann werde ich dafür sorgen, dass ihnen kein Schaden zugefügt wird.«

»Darauf gebe ich einen Scheiß«, sagte ein Mann vor versammelter Menge. »Sie haben sich ihre Betten gemacht, also sollten wir sie darin auch zur Ruhe legen.«

Victor nickte dem Mann zu, den er nicht im Entferntesten kannte. »Sehen Sie«, sagte er zu Maggie. »Diese Leute kennen ihre Rechte. Sie vertrauen mir bei meinem Tun, und ich werde sie keinesfalls enttäuschen.«

Von der Seite war Jubel zu hören; wieder einmal von der nichtsnutzigen Mannschaft.

»Die Menschen werden mit Lügen gefüttert«, sagte Maggie ein wenig zitternd. »Sie haben ihnen Ehrfurcht vor Gott eingeimpft, weshalb sie Ihnen nun vertrauen. Nur damit Sie es wissen, Mr. Hoch-und-Heilig, ich werde kein Teil von diesem System, mit dem Sie aufwarten. Ich vertraue Ihnen keineswegs und ich würde mir wünschen, dass mir alle zuhören.« Sie zog fest an der Zigarette, dabei hatte sie schwer damit zu kämpfen, diese mit ihrer zittrigen Hand ruhigzuhalten. »Das ist falsch. Ihnen nachzugehen, wäre einfach nicht richtig. Wir alle wissen, was er ihnen antun wird, kaum dass er sie erwischt hat. Es ist Mord, schlicht und ergreifend, selbst wenn man es noch so beschönigt. Es ist und bleibt einfach beschissen.« Sie schaute sich um, sah in alle Gesichter, sowohl von Jung als auch Alt. Sie konnte sehen, dass ihre Worte entweder wenig oder gar keinen Einfluss hatten. Ohne sich weiter zu äußern, drehte sie sich um und verschwand durch die Tür. Der Klang aufgebrachten Gemurmels machte sich hinter ihr breit.

»Nun, das war speziell«, sagte Victor siegreich. Hat es wohl selbst geschafft, sich dämlich aussehen zu lassen, die alte Hexe. »Also, ich kann nicht sagen, wie lange wir unterwegs sein werden«, fuhr er fort, froh, wieder die gesamte Aufmerksamkeit zu haben. »Aber ich versichere euch allen, dass wir zurückkommen werden. Mit dem Jeep, Unmengen von Lebensmitteln und Medizin. Ihr habt mein Wort.«

Ohrenbetäubender Applaus folgte. Victor Lord stand kurz davor sich zu verbeugen, als hätte er soeben ein meisterhaftes Bühnenstück am Broadway beendet.

Er machte sich auf den Weg zu den Türen, ein paar Menschen klopften ihm dabei auf die Schultern. Kaum außer Hörweite wandte er sich an David Moon und fragte: »Ist der Pilot startklar?«

Moon nickte. »Ja, aber er ist nicht gerade in der besten Stimmung, was die ganze Sache hier angeht.«

»Ach, darauf scheiß ich, selbst wenn er herumheult. Er soll rauf auf das Dach, und sag Randall, er soll die Waffen bereit machen.«

Moon nickte und eilte die Treppe hoch. Victor näherte sich einem anderen seiner Männer, Henry Colburn, und näherte sich dessen Gesicht so nahe es ihm möglich war, ohne ihn dabei zu berühren.

»Wenn diese alte Schachtel aufhört zu atmen, während wir weg sind«, fing er an, »dann glaube ich, stünde einer Beförderung nichts mehr im Wege.«

Colburn dachte einen Moment nach, bevor sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breitmachte. »Ich denke, ich werde Sie nicht enttäuschen«, sagte er.

»Guuuuut«, grinste Victor. »Ich überlasse dir die Verantwortung für die nächsten paar Tage; ich nehme mal nicht an, dass dies für einen Mann mit deiner Erfahrung ein allzu großes Problem darstellen wird.«

Colburn wusste nicht, was diese Worte zu bedeuten hatten. Er ging allerdings davon aus, dass sie gut gemeint waren. »Alles wird so bleiben, wie Sie es verlassen haben«, versicherte er. »Abgesehen von einer Sache.«

Victor lachte, er wusste, dass Colburn es so meinte und ihn nicht enttäuschen würde.

»Zeit für uns, den verdammten Jeep zurückzuholen.«