DREIUNDZWANZIG

Es war vielleicht das Klügste, was er hatte tun können, aber es war bereits zu spät. Hätte es einen anderen Weg gegeben, es zu vertuschen, hätte er ihn gewählt.

Die Bestien waren los; und er entfernte sich so weit wie möglich vom Massaker. Er nahm zwei Treppen auf einmal, so schaffte er es doppelt so schnell nach oben.

»Fuck!«, keuchte Colburn, dabei atmete er Lungen voller eiskalter Luft ein, als wäre sie Mangelware. Nach einer kurzen Pause machte er weiter und rannte, ohne noch einmal Luft zu holen.

Würde er sie hören, ihre Schreie und ihr Betteln um Gnade? In dieser stillen Nacht würde er sicher irgendwelche Geräusche hören, sobald es losging. Bei diesem Gedanken musste er lachen, sogar sehr, aber dann erkannte er, dass es nichts gab, worüber man glücklich sein konnte.

Er hatte ausgeschissen … zu blöd. Der Grund, warum er diese Kreaturen freigelassen hatte, war Genugtuung. Sie so einzusetzen zeigte ihm, dass er nicht viel darüber nachgedacht hatte.

Er erreichte die Tür zum Dach und hechtete hinaus, den Oberschenkel benutzend, um sie aufzustoßen. Er war außer Atem, aber in Sicherheit.

Diese Nacht war, abgesehen von der Eiseskälte und dem heftigen Schneefall, recht nett. Ihm war keine Zeit geblieben, sich warme Kleidung zu organisieren, doch er konnte auch nicht wissen, dass sich die Dinge so rasend schnell entwickeln würden.

Später müsste er irgendwo einen warmen Ort finden, irgendwo abwarten, bis der Hubschrauber zurückkam, irgendwo, wo er die nächsten Stunden überleben konnte.

Der Gedanke, hier auf dem Dach zu erfrieren, war ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen. Er schwitzte immer noch von seiner Flucht, aber in wenigen Stunden – es würde doch nicht allzu lange dauern, oder doch? –, würden seine Gliedmaßen nur operativ wieder in Gang gebracht werden können, dachte er.

Victor würde nicht lange wegbleiben, versprach er sich fortwährend selbst. Die Stimmung, in der der Captain zuvor gewesen war, bevor er sich auf seine Mission begab, war die, einfach nur den Jeep zu finden, die Diebe zu töten und hierher zurückzukehren. Kein Herumgetue, keine Gnade für diejenigen, die den Snatch gestohlen hatten. Es würde alles vorbei sein, noch bevor ihnen klar wurde, was sie getroffen hatte.

Colburn marschierte über das Dach und wäre fast auf dem Schnee ausgerutscht. Ein kleiner Unterschlupf kam ins Sichtfeld, warum sollte er sich nicht dorthin begeben? Es war eine Überdachung für den Hubschrauberlandeplatz.

Er fand eine Vertiefung, die teilweise mit alten Kupferrohren bedeckt war. Als er sich hineinbegab, murmelte er etwas Zusammenhangloses vor sich hin, etwas, was er Victor sagen wollte, wenn dieser wieder zurückkam.

»Die alte Schachtel, sie fing an herumzuschnüffeln. Sie wissen ja, wie sie ist. Sie muss den Spind gefunden und irgendetwas gehört haben, ja, so war es, diese neugierige alte Schlampe.«

Würde Victor ihm das abkaufen? War das wirklich wichtig? Victor würde sehr angepisst sein, aber es war auch teilweise dessen Schuld, dass die Untoten dort eingesperrt worden waren. Es lag am Heldenkomplex; Victor versuchte ein Heilmittel zu finden, oder zumindest herauszufinden, wie man diese armen Bastarde bändigen konnte. Eigentlich war es mehr Neugier als alles andere gewesen. Sollte eine Heilung tatsächlich möglich sein, würde Victor als ›der Mann, der die Welt gerettet hat‹ in die Geschichte eingehen. Henry Colburn konnte förmlich sehen, woher die Versuchung kam, es zu wagen. Hinter diesem Wahnsinn steckte Methode, zumindest anfänglich.

Aber diese Untoten, die in dem geheimnisvollen Raum hinter der Tür mit dem Spind davor eingesperrt waren, waren schon längst vergessen. Colburn konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann Victor sie das letzte Mal erwähnt hatte, geschweige denn, wann er zum letzten Mal nach ihnen gesehen hatte.

Anfangs war es zwei- bis dreimal am Tag gewesen. Er und David Moon zogen einen von ihnen mit ihren Netzen heraus, aber das war damals gewesen, als sie noch Beruhigungsmittel besessen hatten. Die Untersuchungen fanden immer in einem Raum weit weg von diesem statt, und auch weit weg vom Rest der Überlebenden. Dort war es sicher, und wenn es so gekommen wäre, wie Victor es sich erhofft hatte, wäre das für alle Beteiligten nur von Vorteil gewesen.

Außerdem verschaffte es Victor die Möglichkeit, die Toten irgendwo zu entsorgen. Warum ein gutes Mahl verschwenden, wenn man sie für seine Testobjekte nutzen konnte? Es ergab durchaus Sinn und, auf eine Weise taten ihm die Untoten damit sogar einen Gefallen; es gab nichts Schlimmeres als Leichengeruch. Sobald die Nase diesen aufgenommen hatte, konnte man ihn nur äußerst schwer wieder loswerden. Die weggesperrten Kreaturen waren dankbar für diesen Lieferservice, und Victor wiederum war ihnen dankbar, einen Weg für die Entsorgung der Leichen gefunden zu haben.

Eine Win-win-Situation.

Der Schnee peitschte Colburn ins Gesicht; der Wind heulte, was er schon eine Ewigkeit zu tun schien.

Und dann ertönte von unten der erste Schrei. Er reckte den Hals, spitzte seine eingefrorenen Ohren in Richtung Tür. Nein, das war keine Einbildung. Es folgten weitere Schreie und Gebrüll, jetzt wurde klar, was soeben vor sich ging.

Colburn wartete lächelnd auf die Ankunft des Helikopters.


***

Sie kamen von überall, noch bevor irgendjemand realisieren konnte, was geschah. Doch es konnte eigentlich nicht stimmen; es gab keine Möglichkeit für die Untoten, irgendwie ins Gebäude zu gelangen. Sicherheitsmaßnahmen, strenge Sicherheitsmaßnahmen waren ergriffen worden, die selbst jede streunende Katze von der Anlage fernhielt.

Offensichtlich nicht.

Die ersten drei drangen durch die Türen ein, als würden sie nur zu Besuch kommen. Obwohl, kaum hatten sie die Spur, die ihnen gelegt wurde, gewittert, hatte sich alles verändert. Eine Frau, Becky Dawlings, war die Erste, die anfing zu schreien. Sie war der Tür am nächsten, ein Untoter schlurfte auf sie zu. Während sie schrie, versuchte ihr Ehemann sie irgendwie wegzuzerren, aber es war zu spät.

Eine der Kreaturen sah wie einstiger Landstreicher aus; er fletschte die Zähne und knurrte. Dann packte er ihre Arme und zog sie zu sich zurück. Innerhalb weniger Sekunden lag sie auf dem Boden, der Landstreicher über ihr. Ihr Ehemann raste schreiend in die entgegengesetzte Richtung davon. Während er kreischend zur anderen Seite der Halle eilte, warf er einen Blick über seine Schulter, dabei sah er, wie seiner Frau die Arme abgerissen wurden, und obwohl sie noch am Leben war, konnte niemand mehr etwas für sie tun.

»Nehmen Sie sie!«, schrie Maggie Cox Susie an, in deren Gesicht die Verwirrung förmlich geschrieben stand. Kelly konnte nicht hinter dem Zelt hervorsehen, aber sie wusste, dass etwas sehr Grauenhaftes vor sich ging, etwas, weshalb ihr Herz zu rasen begann und drohte, ihr zur Kehle herauszuspringen.

Susie nahm ihre Tochter am Arm und zerrte sie hinter sich her, dabei verhüllte sie sie wie ein kostbares Buch, welches nicht dem Regen ausgesetzt werden durfte.

»Wo?«, rief Susie, die versuchte, den sich gerade entwickelnden Wahnsinn zu begreifen.

Maggie stieß sie weg. »Ich weiß es nicht«, keuchte sie. »Versuchen Sie nur, irgendwo in Sicherheit zu gelangen. Das hier ist übel … wirklich beschissen übel.«

Zum ersten Mal schien Susie der alten Frau nicht widersprechen zu müssen. Es war wirklich verdammt übel, und es machte ihr nichts aus, dass ihre Tochter das hörte.

»Was ist mit Ihnen?«, fragte Susie, die ihre Augen nicht von dem Massaker abwenden konnte.

»Ich bin zu alt«, sagte Maggie mit einem Hauch von Gleichgültigkeit. »Selbst wenn ich rennen würde, wäre ich nichts weiter als ein Hindernis. Nun raus mit Ihnen, sie sind bereits überall.«

Susie zerrte wieder an ihrer Tochter – Gott war sie schwer – und entfernte sich immer mehr von dem Zelt. Sie zählte acht Kreaturen, aber es würden bald mehr sein. Sollte sich einer der Überlebenden auf dem Boden befinden, konnte man diesen bald zu der Horde dazuzählen.

Susie stürzte zur einen Seite der Halle. Der Großteil der Überlebenden befand sich in der Mitte, einige kletterten aufgeregt aus ihren Zelten, um zu sehen, was los war. Ein alter Mann, dessen Kopf kurz aus dem Zelt herausschaute, wurde sofort gebissen; es hörte sich an, als ob in einen Apfel gebissen wurde, bevor Blut in die Augen des Mannes quoll, was ihn für die weiteren Ereignisse blind machte. Seine Kopfhaut war verschwunden, sein Mund weit aufgerissen, der Teil des Hirns, der für die Motorik verantwortlich war, wurde von den Zähnen des Untoten herausgerissen.

Susie sah weg, in ihren Armen fühlte sie ihre Tochter schluchzen. Trotz allem, was um sie herum passierte, taten ihr die Schreie ihrer Tochter am meisten weh. Alle waren hilflos; selbst Kelly Bloom war dies in den Armen ihrer Mutter nicht entgangen.

Susie konnte die Türen sehen, die einzige Möglichkeit hier raus. Wie konnten sie nur so dumm gewesen sein? Sie hatten hier in einer Art Gefängnis gelebt, ohne zu wissen, was geschehen würde – wie es gerade passierte –, wenn sie in der Falle saßen.

Sechs der Untoten waren mit ihrer Nahrung beschäftigt, sie rissen ihre schreienden Opfer häppchenweise auseinander, aber zwei von ihnen blieben immer noch auf ihren Beinen, als ob sie nicht so richtig wussten, was sie als Nächstes tun sollten.

Das Problem war: Sie standen zwischen Susie Bloom und der Tür. Kaum war sie von der Wand weg, schien sie viel verlockender für sie zu sein; für einen Moment war ihnen gar nicht aufgefallen, dass sie sich bewegte, aber das würden sie …

Sie war ratlos; alles schien zu Ende zu gehen. Wie hatte Maggie Cox es ausgedrückt? Es war einfach beschissen übel!

»Komm und hol mich doch, du verfluchter Scheißkerl«, schrie jemand. »Ich hoffe, du wirst an meiner Arthritis ersticken.«

Susie wandte sich um, um Maggie vor einigen verwirrten Untoten stehen zu sehen. Sie hatte sich voll aufgerichtet, ihre Arme fuchtelten in der Luft herum. Scheiße, sie besaß sogar noch die Kraft, sich auf ihre Zehenspitzen zu stellen.

Zwei der Untoten brauchten keine zweite Einladung und eilten so schnell es ihnen möglich war vorwärts, sie knurrten und schnappten in die Luft wie zwei tollwütige Hunde auf dem Weg zum Barbecue.

»So ist’s gut«, kreischte Maggie. »Wenn ihr nicht an meinen Knochen erstickt, dann am Morphium.«

Susie konnte nicht glauben, was sie soeben sah. Die alte Frau ging zwischen den Kreaturen unter, aber sie schien unbeeindruckt, ja, sogar zuversichtlich. Es war der reine Wahnsinn …

Susie wandte sich um, als Maggie zu schreien begann. Sie stürzte auf die Tür zu, hinaus in den Gang und hinein in den Nebenraum.

Die Schreie der alten Frau hörten kurz darauf auf, aber die Bilder hatten sich für die Ewigkeit in Susie Blooms Kopf eingebrannt.

Was, wenn da noch weitere Untote waren, die erst jetzt ihr kleines Buffet in der Haupthalle entdeckten?

Bei dieser Vorstellung stellten sich Susies Nackenhaare auf und sie eilte zu dem einzig sicheren Ort, den sie kannte.

Sie stieß die Tür auf und fiel beinahe in den Raum. Kelly verlagerte ihre Position, hatte aber keine Chance, einen Blick auf das Geschehen zu werfen oder zu erkennen, wo sie waren.

Susie trat einen Eimer voller Sauerstoffmasken beiseite und setzte ihre Tochter in einer Ecke ab. Kelly geriet in Panik, als sie sah, warum ihre Mutter sie losgelassen hatte.

»Ist schon gut, shccchhh, schhhh«, beruhigte Susie sie, dabei versuchte sie, ihre Atmung in den Griff zu bekommen. Sie knipste ihre Taschenlampe an – eine kleine rosafarbene MagicLite, von der sie nie gedacht hatte, sie mal verwenden zu müssen, und dabei sagte sie: »Hier werden wir erst mal sicher sein; du musst deiner Mommy nur versprechen, dass du still bist.« Während sie sprach, kämpfte sie mit einer schweren Munitionskiste. Sie schob diese vor die Tür. Da die Tür nach innen aufging, war es den Untoten so unmöglich, hereinzukommen.

Aber natürlich nahm es ihnen auch die Chance, herauszukommen. Es war ein trivialer Gedanke, den Susie später haben sollte, wenn sie sich wieder etwas gefasst hatte.

»Ich verspreche es dir, Mommy«, flüsterte Kelly. Sie schluchzte hilflos und wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen ab. »Werden wir aufgefressen werden?«

Susie schien sich selbst mit der Taschenlampe ins Gesicht, damit ihre Tochter ihre Antwort auch sehen konnte. »So etwas darfst du nie glauben«, sagte sie. »Wir sind gerade am sichersten Ort. Wir müssen nur wirklich still sein und hoffen, dass sie verschwinden.«

Mit sanfter und zittriger Stimme sagte sie: »Die alte Frau ist tot, oder nicht? Ich habe sie sterben hören.«

Susie seufzte, eine Träne lief über ihre Wange. »Sie hat uns gerettet, indem sie starb. Die Frau war ein verkleideter Engel.«

Als Susie mit der Taschenlampe zu ihrer Tochter leuchtete, sah sie ein Lächeln in deren Gesicht. »Sie war es wirklich«, sagte sie. »Aber sie hat auch zu viel geraucht.«

Susie rutschte auf den Boden; der Lagerraum war sehr eng und klein, weswegen man nur sitzend schlafen konnte.

Dennoch, Schlaf würde selten möglich sein, weshalb es keine Rolle spielte.

»Versuch dich auszuruhen, Kleines«, sagte Susie und zog ihre Tochter zu sich heran. Sie hielt mit ihren Händen Kellys Ohren zu, damit diese die Schreie vom Gang nicht hören musste.

Sie wünschte sich mehr Hände, um die andauernde Folter keine weitere Sekunde länger anhören zu müssen.