FÜNFUNDZWANZIG

Shane und Marla waren in weniger als einer Sekunde auf ihren Beinen. Terry schrie so laut er konnte, um sie aufzuwecken, sie starrten ihn völlig verwirrt und verängstigt an.

»Was ist los?«, fragte Shane. Er richtete seine Pistole auf die Tür, durch die Terry eben gekommen war.

»Wir müssen los«, sagte Terry. »Untote, überall verfluchte Untote.«

Marlas Unruhe war spürbar, sie nahm bereits Shanes Rucksack und schob ihn in seine Richtung.

»Wo?«, fragte Shane. Er ging ein paar Schritte zur Tür. »Und wieso bist du überhaupt dort hinaus? Das hätte dich dein Leben kosten können.«

Terry wollte ihnen sagen, wie knapp er dem Tod entkommen war, aber dies jetzt schien nicht der richtige Zeitpunkt dafür zu sein.

»Hätte …«, sagte Terry. »Ich hab einen Schulbus gefunden, unser Ticket hier raus. Lasst uns nur hoffen, dass das verdammte Ding auch anspringt.«

Shane wollte seine Tirade schon fortsetzen, als der Gedanke ans Weiterbewegen ihn wie ein Schlag traf. »Führ uns hin«, sagte er, er schulterte seine Tasche und drängte Marla zur Tür.

»Okay, aber wir müssen schnell sein«, sagte Terry und ging hinaus auf den Gang. »Die kleinen Bastarde sind schneller, als man denkt. Victor und Moon hatten keine Cha–«

»Warte«, sagte Marla, ihre Hände zitterten, als wären sie von etwas Bösem befallen. »Victor war hier? Was zum Teu–«

»Wir haben keine Zeit«, unterbrach Terry sie. »Ich werde euch alles erklären«, obwohl er bezweifelte, dass er jedes Detail erwähnen würde, »sobald wir einige Kilometer zwischen uns und diesem Ort hier gebracht haben.«

Shane nickte; eigentlich hatte er erwartet, dass er ein paar Männer nach ihnen schicken, aber nicht selbst hier auftauchen würde.

»Zum Bus«, sagte Shane und drängte Terry weiter. In seinem Kopf formten sich die Bilder seiner Familie.

Er war ihnen jetzt nahe.

Näher als zuvor.


***

»Was ist mit der Flinte passiert?«, fragte Shane, als sie durch die Schule zum Schulbus stürmten, der vielleicht – oder auch nicht – funktionierte.

»Die haben sie«, brachte Terry atemlos hervor. »Mir blieb keine Zeit, sie zu holen, nicht, nachdem alles so richtig losging.«

Sie betraten einen engeren Gang, dessen Wände bunte Buchstaben aus dem Alphabet und diverse Tierbilder zierten. Am Ende trennte sie eine Tür mit Milchglasfenster von der eisigen Nacht. Man konnte es durch das Glas schneien sehen, und dies erinnerte Shane wieder daran, dass sie gerade zu einem Bus unterwegs waren, der vermutlich nicht einmal starten würde. Sie hatten keine Ahnung, wie lange der schon dort stand; ein ruhender Motor in schneebedeckter Stahlummantelung.

Terry zog die Tür auf und überließ Marla den Vortritt.

»Das wird niemals klappen«, sagte sie auf dem Weg zum Bus, den sie so umrundete, als wäre sie eine mögliche Käuferin. Die gelbe Farbe schimmerte nur ein wenig hervor; der Rest wurde vom Schnee verborgen.

»Hoffen wir, dass es klappt«, sagte Shane. Er ließ seinen Rucksack neben der Tür fallen und langte nach dem Griff. Als er die Tür aufzog, faltete sie sich zusammen. Ein kleiner Schneehaufen lag auf der ersten Treppe, genug, um zu verhindern, dass die Tür weiter aufging. Shane schob den Haufen mit einem Fuß beiseite.

»Ich möchte euch mal etwas fragen«, sagte Marla, ein pessimistischer Unterton schwang in ihrer Stimme mit. »Habt ihr jemals etwas kurzgeschlossen? Ich meine, mir ist schon klar, dass ihr Kriminelle seid, nichts für ungut, aber wenn keiner von euch dieses Ding starten kann, verschwenden wir dann nicht bloß unsere Zeit?«

Shane seufzte. »Zunächst einmal«, er trat den restlichen Schnee weg und zog wieder am Griff. Die Tür öffnete sich vollständig und er drehte sich lächelnd um. »Nichts für ungut. Zweitens«, er stieg in den Bus und klappte die Sonnenblende über dem Fahrersitz herunter. Ein Schlüsselbund fiel herab, den er einhändig auffing. »Busfahrer sind nicht gerade für ihre Originalität bekannt.«

Marla stieg lächelnd an Bord. »Zufall«, sagte sie. »Du hättest jetzt wie ein kompletter Idiot ausgesehen, wenn gar nichts passiert wäre.«

Shane stieg hinaus und nahm seinen Rucksack. Terry erklomm die Stufen; Shane konnte am Ausdruck in Terrys Gesicht erkennen, dass etwas nicht in Ordnung war.

»Hey«, sagte er und zog Terry hoch. »Alles okay?«

Terry seufzte; eine Atemwolke bildete sich vor seinem Gesicht, bevor er antwortete: »Ich wünschte nur«, sagte er, »dass einige Dinge anders abgelaufen wären.«

Shane brauchte etwas, bis ihm klar wurde, dass Terry damit Jared und dessen Tod meinte.

»Wir konnten nichts mehr für ihn tun«, sagte Shane und drückte Terrys Arm. »Wir können von Glück sagen, dass wir in einem Stück da raus sind.«

»Ähm, Jungs«, sagte Marla. Sie saß bereits, rieb sich ihre Hände und blies warme Luft hinein. »Ich möchte ja nur ungern stören, aber sollten wir nicht dieses verfluchte Ding starten?«

Terry lachte. »Unsere Queen hat gesprochen«, sagte er, und schob die Erinnerungen an seinen gefallenen Kumpel beiseite. »Man weiß nie. Manchmal gibt es auch Heizungen in diesen Bussen.«

»Hoffen wir es«, sagte Shane.

Als alle an Bord waren, betätigte er den Hebel neben dem Lenkrad, und die Tür schloss sich. Er kämpfte eine Weile mit dem Schlüssel – seine unterkühlten Hände taten nicht ganz das, was sie sollten –, bevor er es schaffte, ihn in das Zündschloss zu stecken.

»Bitte«, flüsterte er.

Er drehte ihn langsam und war überrascht, ein Motorgeräusch zu hören. Nicht ganz durchgängig, aber fast. Das Ding stotterte ein paarmal und dann fing es sich. Shane drehte den Schlüssel nochmals herum. Natürlich würde er starten, aber es machte keinen Sinn, es gleich nochmal zu versuchen. Den Motor jetzt abzuwürgen, war etwas, worüber er gar nicht erst nachdenken wollte.

»Siehst du«, sagte Marla und rieb ihre Hände so fest sie konnte, als würde sie versuchen, mit ein paar Stücken Holz ein Feuer zu machen. »Vielleicht hat er nicht genügend Sprit bekommen.«

Terry deutete ihr, ruhig zu sein, was sie nicht wirklich begrüßte. An Shane gewandt sagte er: »Versuch’s noch mal, dieses Mal mit dem Gaspedal.«

Shane drehte erneut den Schlüssel und trat das Pedal bis zum Boden durch. Wieder kämpfte der Motor um sein Leben. Er pumpte mit dem Pedal, hoffte, dieses Tier zum Leben erwecken zu können. Nach ein paar Sekunden, drehte er den Schlüssel wieder um und entspannte sich im Sitz.

Draußen heulte der Wind und wiegte den Bus sanft hin und her. Alles darin blieb still.

Shane atmete tief durch und drehte den Zündschlüssel erneut heum.

Der Motor sprang an, als er auf das Pedal stieg, und dann folgte ein lautes Brüllen der Maschine.

»Oh ja«, kreischte Marla in ihrem Sitz. »Siehst du, hab dir ja gesagt, dass es so klappt.«

Shanes hob die Faust wie zum Sieg, dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder dem Armaturenbrett. »Wo ist der Hebel für die Scheibenwischer?« Er spielte an ein paar Hebeln und Schaltern herum, bevor er den richtigen fand.

Der Schnee an der Windschutzscheibe wurde beseitigt und fiel auf die Motorhaube.

Durch das vereiste Glas starrte ein Gesicht zurück.

Shane schnappte nach Luft, als er den Mann erkannte, der vor dem Bus stand; Blut tropfte herab, ein Arm fehlte, ein Auge baumelte im Wind an der Wange …

Victor Lord sah angepisster aus als je zuvor.


***

Der Captain schlurfte ein paar Schritte nach vorne und warf sich auf die Motorhaube. Der Bus schaukelte und knarrte, als Victor versuchte, sich zu der Windschutzscheibe nach oben ziehen, aber er war wie ein Fisch auf dem Trockenen und ruderte auf der schneebedeckten Haube herum, bevor er zurückrutschte und mit einem dumpfen Laut auf dem Boden landete.

Marla war auf ihren Beinen. »Fahr ihn über den Haufen!«, schrie sie.

Shane suchte nach dem Schalthebel; aber als er das tat und nichts fand, wurde ihm klar, dass der Bus über eine Schaltung am Armaturenbrett verfügte.

»Er kommt wieder hoch«, sagte Terry, der durch die Seitentür sah. »Und er sieht nicht gerade happy aus.«

Natürlich war er nicht happy; er war schon immer ein elendes Arschloch gewesen, selbst als er noch lebte. Jetzt hing ihm ein Auge heraus und ihm fehlte ein Arm.

Shane schaltete mit einem Knirschen in den ersten Gang trat auf das Gaspedal. Der Bus kam in Bewegung, nur ein paar Zentimeter, aber es reichte aus, um den Untoten, vormals bekannt als Victor Lord, zurück auf seinen Arsch zu werfen.

»Hab ich ihn erwischt?«, fragte er über die Motorhaube blickend. Er konnte nichts sehen, somit war er auf Terry angewiesen. »Sprich mit mir, Terry.«

Terry konnte einen abgerissenen Arm sehen, der andere Arm versuchte, an den Seitenspiegel zu gelangen. »Nein«, sagte er. »Er ist immer noch da.«

Shane brauchte keine weitere Ermutigung und ließ das Fahrzeug vor- und zurückrollen. Der Bus war nun leicht zu steuern, da er die korrekten Knöpfe entdeckt hatte, und er war überrascht, dass dieser trotz der aufgehäuften Schneeschicht locker hin- und herrollte.

Seitlich beim Bus verschwand Victors Hand. »Ich denke, du hast den Bastard erwischt«, sagte Terry, der zwischen Shane und draußen hin- und hersah.

»Nehme nicht an, dass du genauer nachsehen möchtest?«, fragte Shane Terry, er kannte die Antwort bereits.

»Lass uns einfach von hier abhauen«, meinte Marla.

Shane wollte gerade den Rückwärtsgang einlegen und Gas geben, als die Tür aufschlug.

Victor war ein Problem gewesen; eine Meute kostümierter Kinder, die in ihren blutigen Klamotten nach Rache geiferte und sich am Eingang auftürmte, war jedoch wieder eine ganz andere Sache.

Shane trat ins Pedal und die Räder begannen sich zu drehen. Das Problem war nur, dass der Bus sich nicht bewegte.

»Versuch ruhig zu bleiben!«, sagte Terry, er klammerte sich in der Gangmitte an einem Griff fest und stand neben Shane, als wäre dieser Sandra Bullock. »Sie können nicht herein, also nimm dir Zeit.«

Terrys Worte spendeten dem Fahrer nur wenig Trost. Wenn überhaupt, wurde Shane immer panischer, als er zwei geflügelte Affen sah, die zum Busheck kamen, wo sich laut Sicherheitsanweisungen der verdammte Notausstieg befand.

»Was sind die?«, keuchte Marla, sie wischte mit ihrem linken Ärmel über die Scheibe. Es machte keinen Unterschied; der Frost draußen verhinderte eine gute Sicht.

»Hast du noch nie Der Zauberer von Oz gesehen?«, fragte Terry sie. Natürlich hatte sie das, jeder hatte es gesehen. Jedes Jahr zu Weihnachten in den letzten 15 Jahren, es war auf sämtlichen Fernsehkanälen direkt nach Ist das Leben nicht schön? oder Mary fucking Poppins zu sehen gewesen.

»War doch das mit Zwergen, oder?«, fragte Marla, Verwirrung klang in ihrer Stimme mit.

»Das war er«, antwortete Terry. Er ging den Gang entlang. »Nur dass es Mönche und keine Zwerge waren.«

»Was auch immer«, sagte Marla. »Das erklärt aber immer noch nicht, warum sie wie Kannibalen hinter uns her sind.«

Shane gab den Befehl, sich festzuhalten und diesmal kam der Bus in Bewegung. Etwas schlug von unten gegen den Boden, während der Bus rollte. Die Reifen trafen auf etwas, weshalb sie einige Zentimeter abhoben.

»Verfluchte geflügelte Affen«, fluchte Terry, und dann bemerkte er, wie absurd diese Worte klangen. Er hatte sich niemals, in all seinen Tagen, träumen lassen, die Formulierung verfluchte geflügelte Affen als ernsthaften Satz aussprechen zu müssen. Er musste sich sehr zusammenreißen, nicht in Gelächter auszubrechen.

Shane konnte durch die Fenster nichts erkennen, somit waren auch die Seitenspiegel nutzlos. Er musste sich auf Terry verlassen, der ihm den Weg dirigierte. Alles, was er im Auge behalten konnte, war die Sicht nach hinten, und selbst diese war eingeschränkt.

Eine weibliche Untote, in einem rosa Kleid und eine Tiara gekleidet, war seitlich hochgeklettert und hing an der Scheibe. Ihre Zunge glitt über das Glas, hinterließ dabei eine Schleimspur wie die einer Schnecke, nur in Schwarz. Sie war vermutlich die letzte Märchenprinzessin im ganzen Land.

Marla wechselte auf die andere Seite, damit sie nicht mehr in die leblosen Augen der Kreatur sehen musste. »Ich dreh noch durch«, sagte sie und erschauderte.

Der Bus nahm an Geschwindigkeit zu und die Untote im Abschlussballkleid klammerte sich daran fest, als würde ihr Leben davon abhängen. Shane beachtete sie und ihr Kratzen nicht, stattdessen war er damit beschäftigt, den Bus auf die unbeleuchtete Straße zu lenken.

»Weiter!«, rief Terry von der Rückseite des Busses. »Ich kann das Tor sehen.«

Shane drehte sich in dem Moment um, als die Untote vom Bus rutschte, einige Male durch den Schnee rollte und dann liegenblieb.

»Ich dachte, sie würde nie loslassen«, sagte Marla und rieb sich ihre Augen, die wenigen Stunden Schlaf machten sich bemerkbar.

Shane lächelte. »Wie sind wir unterwegs, Terry? Ich sehe nichts.«

»Okay«, sagte Terry, der durch die kleinste Öffnung, die ihm der Frost bot, aus dem Heckfester sah. »Fahr etwas langsamer. Du kannst hier abbiegen und schon sind wir auf der Straße.«

Shane entdeckte, dass er wieder atmen konnte. Die letzten Minuten hatte er verdammt wenig geatmet. Er steuerte den Bus langsam herum, immer noch unsicher wegen der ungewohnten Steuerung und der armseligen Straßenbedingungen. Direkt vor ihnen war die Untote wieder auf den Beinen und schlurfte auf den Bus zu. Genau hinter ihr, nahe der Einfahrt, waren einige zuckende Schemen auf dem Boden zu erkennen, deren Papierflügel flatterten im Wind. Einige von ihnen versuchten aufzustehen, aber sie waren zu zerstört, um hochzukommen und fielen einfach um.

Shane zog das massive Lenkrad vollkommen nach links. Fast erwartete er, dass nun eine Computerstimme darauf hinwies, dass das Fahrzeug dabei sei zu wenden, aber da war nichts. Offenbar waren solche Sicherheitsvorkehrungen weit gekommen, aber nicht weit genug.

»Das kleine Arschloch möchte nicht aufgeben«, sagte Marla, als sie die herannahende Kreatur im rosa Kleid sah. »In ein paar Jährchen wäre sie ein hübscher Fang gewesen.«

Der Humor, der mitschwang, wirkte unangebracht. Shane schwieg; er musste sich voll und ganz auf seine Aufgabe konzentrieren.

»Das machst du gut«, sagte Terry und zeigte einen erhobenen Daumen. »Nur mit der Ruhe, Shane. Es ist verdammt glatt und wir können nur auf bessere Straßen hoffen, je weiter wir wegkommen.«

Shane schaltete in den ersten Gang und fuhr langsam vorwärts. Durch sein Seitenfenster – welches nun relativ schneefrei war – warf er der Untoten einen letzten Blick zu, bevor sie kleiner und kleiner wurde.

Die Straße war, so wie Terry es ausdrückte, verflucht glatt, aber sie war weitaus sicherer als der Schulhof und es war verdammt viel sicherer, als die restliche Nacht in dem Schulgebäude zu verbringen, in dem sich die Freaks mit ihren Halloweenkostümen befanden.

»Richtig«, sagte Marla und wandte sich an Terry. »Möchtest du uns jetzt erzählen, was passiert ist?«

Terry schlenderte durch den Mittelgang und setzte sich ein paar Sitze hinter Marla.

»Ich werde dir sagen was ich weiß«, sagte er.

Und der Bus fuhr weiter.