DREI
Die Leute in der Haupthalle waren in hellster Aufregung. Es sah aus, als ob jeder, sogar die Kinder, sehen wollte, wie schlecht die Ausbeute dieser nächtlichen Plünderung war. Shane stand abseits und versuchte sich selbst zu beruhigen. Es war keine gute Methode, gegen aufgebrachte Überlebende aufzubegehren, aber ihr Mangel an Verständnis war gerechtfertigt. Wenn sie das gesehen hätten, was er zu Gesicht bekommen hatte, die unzähligen Untoten unterhalb des Helikopters, hätten sie ihm zu seiner Entscheidung vermutlich herzlich beglückwünscht.
Wie es aussah, versanken sie gerade in Selbstmitleid.
Anfangs ausgetauschte Argumente endeten in tatsächlicher Gewalt; ein Kampf zwischen zwei von Victor Lords Männern geriet in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es gab Kinder, die versuchten, eine bessere Sicht zu erhaschen.
Ah, gut, dachte Shane. Solange sich die beiden Dickschädel gegenseitig die Scheiße aus dem Leib prügeln, werden sie mich nicht mit reinziehen.
Terry Lewis, mitsamt seiner Bibel, gesellte sich zu Shane. Der war vielleicht gerade der Einzige, mit dem Shane sich unterhalten wollte.
»Schlechte Nacht gehabt, was?«, sagte Terry, auf die in Leder gebundene Liebe seines Lebens hinabblickend. Shane fragte sich, ob Terry jemals mit dieser Dankbarkeit aufhören würde.
Es war ein Buch, verdammt noch mal! Nichts weiter als Worte.
»Könnte man so sagen.« Shane verzog sein Gesicht. Aus einem Rucksack nahm er zwei Flaschen Wasser. Er überreichte Terry eine davon und sagte: »Es waren einfach zu viele. Wir hätten niemals eine Chance gehabt.«
»Wenn’s hilft«, fing Terry an, während er die Flasche aufschraubte und einen kleinen Schluck nahm, »ich mache dir keine Vorwürfe. Manche von denen haben keine Ahnung, was hier vor sich geht. Die meisten von ihnen wurden aufgegabelt, bevor es erst richtig losging. Scheiße, es würde mich überraschen, wenn auch nur die Hälfte von denen jemals eine Horde gesehen hätte. Das hätte sie wohl verflucht schockiert.« Er nahm einen weiteren Schluck zu sich, bevor er fortfuhr: »Bin mir nicht sicher, zu wem die Leute hier aufschauen, aber so sicher, wie die ganze Scheiße ist, ist es keiner von uns. Der verfluchte Hurensohn von Captain bildet sich ein, sie gehörten ihm; behandelt sie wie gottverdammte Kriegsgefangene.«
Shane nickte. »Fast wär’s das mit ihm gewesen«, sagte er. »Vor einer halben Stunde hätte ich ihn von dem verdammten Dach stoßen können.«
Terry lachte. »Und warum hast du es nicht?«
Shane schaute Terrys Bibel an und tippte darauf. »Wenn mich dieses Ding eines gelehrt hat«, erklärte er, »dann, dass Dämonen und Engel existieren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht als eines von diesen verfickten Dingern zurückkommen möchte, und da vertraue ich auf den da oben.«
»Der da oben«, lächelte Terry, »hätte dich vermutlich zu seiner rechten Hand gemacht, wenn du diesen verfluchten Bock über die Dachkante gestoßen hättest. Jetzt bin ich ein Mann Gottes und ich dulde keine Mörder, zumindest nicht mehr, aber glaubst du wirklich, dass ihn irgendjemand hier vermissen würde?«
Shane zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe, wir finden es bald heraus.«
Genau da betrat Marla Emmett den Raum. Selbst in Anbetracht der fleischfressenden Dinger, die da draußen herumzogen, und der Apokalypse, die gerade im Gange war, kam man nicht umhin, ihre Schönheit zu bewundern. Shane war das schon damals aufgefallen. Er erinnerte sich an das Gefängnis in Jackson, in dem Marla in der Krankenstation gearbeitet hatte. Die einzigen Unterschiede zu jetzt waren ihre Kleidung und die Tatsache, dass es ihr gelungen war, ihre Kosmetika zu behalten. Ihre natürliche Schönheit war schon immer da gewesen, aber mit Make-up und einem schönen Kleid war sie göttlich.
»Ich schwöre bei Gott, Shane«, setzte Marla an, bevor ihr auffiel, dass auch Terry anwesend war. »Tut mir leid, Terry, ich bin ein wenig überarbeitet, das ist alles.«
»Halb so wild«, lächelte Terry, und dieses Lächeln war das eines weisen Mannes, so herzerwärmend, wie es das ihres Großvaters immer gewesen war. »Shane und ich unterhielten uns gerade über den selbsternannten Präsidenten.«
Marla dachte kurz nach, dann machte es Klick. »Oh, du meinst wohl Victor-Lord-von-diesem-beschissenen-Areal. Tut das, was ich sage, oder meine Kumpel werden euch in eure Schädel ballern.«
Shane lächelte. »Und wie war dein Tag, Marla?«
Sie seufzte. »Abgesehen von der Tatsache, dass ich mir ständig Sorgen um dich gemacht habe, und dann noch herauszufinden, dass es jemanden gibt, den ich mehr als Charles Dean hasse, war es der beste Tag meines Lebens.« Charles Dean war Direktor und ihr Arbeitgeber des Gefängnisses von Jackson gewesen, in dem Shane und Terry Insassen gewesen waren. Dean war ein mittlerer Bastard, der wie ein Bösewicht aus einem James Bond Film aussah.
»Freut mich zu hören«, sagte Shane. Zum zweiten Mal hob sich seine Stimmung. Dies war es, wofür wahre Freunde da waren.
»Nach dem, was ich gehört habe«, setzte Marla an, dabei sah sie sich um, sicherstellend, dass niemand in Hörweite war, »haben sie dich abgesetzt.«
»Heee-iii-liiige Scheiße«, flüsterte Shane. »Wie viele Überlebende sind hier? 30, 40? Und es hat weniger als eine halbe Stunde gedauert, bis die Scheiße wieder zu mir retour kam.« Er hielt seine Hände hoch. »Scheint wohl ein neuer Rekord zu sein.«
»Ist es wahr?«, Terry wirkte ernst.
Shane schüttelte den Kopf. »Victor bildet sich das vermutlich ein«, sagte er. »Aber ihr wisst ja, wie man sagt: Einen wahren Mann kriegt man nicht so leicht unter.«
Marla blickte zu Terry. Sein weißer Bart zitterte, so als ob er mit sich selbst spräche. Dann wandte sie sich wieder Shane zu.
»Was wirst du jetzt tun?«, wollte sie von ihm wissen.
Shane kratzte sich am Kopf und Marla ahnte direkt, dass er ihr das wohl nicht mitteilen wollte. Sie war aber verdammt gut darin, die richtigen Knöpfe bei jemandem zu drücken. Und wenn Shane irgendetwas über sie wusste – was er von nun an ziemlich sicher sollte – dann, dass sie nicht so leicht aufgeben würde.
Es war besser, jetzt damit herauszurücken, sonst würde es ziemlich bald ungemütlich werden, dessen war er sich bewusst.
»Ich werde gehen«, flüsterte Shane. Marla tat so, als ob sie ihn nicht richtig verstanden hätte. Terry legte einfach eine Hand auf die Bibel, als würde er ein leises Gebet für Shane sprechen »Ach, komm schon!«, schnappte Shane. »Meine Frau und meine Tochter könnten immer noch irgendwo da draußen sein, am Leben, irgendwo festsitzend, irgendwo, wo ich sie erreichen kann.«
Das stimmte; Shane hatte schon viel von seiner Familie gesprochen, und es war die Unwissenheit, die nun ihren Tribut forderte.
»Ist das dein Ernst?«, höhnte Marla. »Natürlich könnten sie noch am Leben sein. Das weißt du auch. Aber anzunehmen, dass sie hier irgendwo sind, ähm. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie unwahrscheinlich es überhaupt ist, sie aufzuspüren? Sie könnten überall stecken, verdammt noch mal. Das ist wie die Nadel im Heuhaufen.«
»Sie hat recht«, seufzte Terry. »Selbst wenn du sie finden solltest, würdest du dir wünschen, nicht nach ihnen gesucht zu haben. Was wenn … wenn sie zu denen wurden? Was, wenn du in die Augen deiner Tochter siehst und, ohne mich jetzt zu weit hinauslehnen zu wollen, in ihrem Inneren nichts mehr übrig ist? Könntest du damit leben?«
Shane wusste, dass er das könnte; es wäre leichter für ihn, damit zu leben, als mit dem weiterzumachen, was er gerade tat. Er hatte nicht erwartet, dass sie ihn verstehen würden, und auf dieses Szenario war er auch vorbereitet.
»Ich werde gehen«, wiederholte er. »Ich muss. Ihr seid hier sicher, für jetzt zumindest. Ich werde in ein paar Tagen wieder hier sein, mit oder ohne meine Familie.«
»Oh, zur Hölle, nein.« Marla schüttelte den Kopf, so als würde ein Stück Kaugummi in ihren Haaren kleben. »Ich werde nicht bei diesen Idioten bleiben.« Sie auf die Soldaten, die gerade zu Kreuze krochen und sich vor Victor Lord rechtfertigten, der ziemlich sauer aussah. »Wenn du gehst, dann werde ich dich begleiten.«
Shane wollte gerade widersprechen, als Terry seine Bibel hochhielt.
»Ich auch«, sagte Terry. »Wir werden auf uns aufpassen. Du hast mein Wort.«
Marla warf Shane ein selbstgefälliges Grinsen zu, eines, das bedeutete, dass ihm nun nichts anderes mehr übrig blieb.
Als ihm bewusst wurde, dass er es mit zwei Sturköpfen zu tun hatte, seufzte er. »Okay, aber wenn ihr schon dabei sein wollt, dann werden wir es richtig machen. Ich denke, wir sollten noch vor Sonnenaufgang los, noch bevor dieser Schwanzlutscher Victor zu seinem morgendlichen Stuhlgang unterwegs ist.«
»Ich würde vorschlagen, dass wir uns ein Fahrzeug nehmen«, sagte Terry, und das war nicht als Frage gemeint.
»Einen von den Jeeps«, wiederholte Shane. Es gab einiges zu überlegen und der Land Rover war vermutlich der sicherste Wagen, den sie zur Verfügung hatten – Panzerglas, Maschendraht vor der Frontscheibe, Barracuda Wärmedämmung. Es sprach nichts für einen Landrover Defender, von denen es hier zwei gab. Der Defender war zwar geringfügig schneller, doch sollten sie von einer Horde Untoter aufgehalten werden, würde diese ihn innerhalb weniger Minuten in seine Einzelteile zerlegen, und danach wären die Insassen dran.
»Victor wird das nicht einfach so hinnehmen«, sagte Marla, auch wenn in der Art und Weise, wie sie es aussprach, eine gewisse Freude mitschwang.
»Wir werden ein paar Tage weg sein, eine Woche höchstens«, erklärte Shane. »Jackson ist nicht weit weg; wir sollten es in maximal zwölf Stunden geschafft haben.«
»Dann bleibt nur noch zu hoffen, dass die Untoten irgendwo anders hinziehen, und wenn wir deine Familie finden sollten, müssen wir sie überzeugen, mit uns zu kommen.« Marla klang von ihrem eigenen Plan nicht sehr überzeugt.
»Klingt nach einem ziemlich guten Plan«, kicherte Terry. »Ich werde mich darum kümmern, dass Jared auch wach ist.«
Einen Moment lang hatte Shane Terrys ehemaligen Zellengenossen vergessen. Nicht, weil er ihn nicht leiden konnte, sondern weil er vermutlich der Grund dafür sein würde, sollten sie alle ums Leben kommen. Jared war nicht einer von denen, die einfach so den Schädel eines Zombies zerschmettern konnten, dieses Risiko hatte Shane noch gar nicht berücksichtigt.
»Ich kenne diesen Blick«, sagte Terry. »Denkst du ernsthaft, er würde hierbleiben? Wenn ich mitkomme, kannst du das vergessen.«
Shane seufzte. Auf eine gewisse Art war es doch nett, dass Jared bei seinem einstigen Zellenkumpel sein wollte. Es hatte wohl damit zu tun, dass er Terry als Vaterfigur sah, obwohl Jared mehr ein Muttersöhnchen zu sein schien.
»Wenn du glaubst, er kann mit unserem Vorhaben umgehen«, sagte Shane mit zusammengebissenen Zähnen, »dann übernimmst du für ihn die Verantwortung. Aber sollte ich auch nur eine Minute bemerken, dass er langsamer wird oder ihm die Beine schlottern, wirst du das nächste betankte Fahrzeug nehmen, auf das wir stoßen, und seinen Arsch wieder zurückschaffen.«
»Einverstanden«, sagte Terry, ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. »Ich werde mit ihm reden, weil ich sichergehen möchte, dass er unsere Beweggründe versteht. In der Zwischenzeit«, er deutete zu Victor Lord, der immer noch seine Männer ausschimpfte, als wären sie im Kindergarten, »tragt alles Nötige zusammen und haltet euch von diesem Arsch fern. Wenn der Wind davon bekommt, wird er uns einsperren, und ich weiß nicht, wie es euch dabei geht, aber ich habe genug von Gitterstäben und einer einmaligen Mahlzeit am Tag.«
Terry drehte sich um und ging durch die Doppeltüren am Ende des Raumes.
»Er nimmt’s immer gleich so persönlich«, sagte Marla. »Was glaubst du, kann er es für sich behalten?«
Shane zuckte mit den Schultern. Das war eine gute Frage, deren Antwort er sich ein wenig unsicher war. »Nun, nehmen wir es mal an«, sagte er. »Was bleibt uns denn anderes übrig?«