ACHTZEHN
»Ich bilde mir ein, dass da vorne etwas ist«, sagte Kyle, er ließ den Helikopter etwa 30 Meter tiefer sinken. Sollte sich der Schnee in der nächsten halben Stunde verschlimmern, würde er etwas zu den Arschlöchern hinter sich sagen müssen; es wäre etwas gewesen, was er später nicht unbedingt genossen hätte.
Victor Lord tauchte im Cockpit auf, zumindest dessen Kopf. »Was verflucht noch mal ist das?«
»Nun«, sagte Kyle, er hoffte, dass es nicht zu sarkastisch klang, damit dies nicht der Hauptgrund für die Kugel in seinen Hinterkopf werden würde. »Ich würde sagen, das war mal eine Tankstelle.«
»Junge, ich zweifle ja nicht an, dass du ein guter Pilot bist, aber wenn du deine Klugscheißereien nicht für dich behältst, werde ich dafür sorgen, dass du ohne Fallschirm fliegst.«
Kyle zuckte zusammen, er dachte schon, er würde den Lauf einer Pistole am Hinterkopf spüren. Es kam nicht dazu, wofür er sehr dankbar war.
»Nun, ich möge verdammt sein«, sagte Victor, der angestrengt durch Schnee, Nebel und Rauch sah, »aber da unten regt sich noch immer etwas.«
Damit hatte er recht. Untote taumelten umher, obwohl die Flammen an ihren Leibern leckten. Rauchende, brennende Kadaver, deren Köpfe schließlich dem Feuer erlagen.
»Sieht aus, als ob der Jeep dort lang ist«, sagte Victor und deutete auf eine Spur. »Und sie haben ein beschissenes Massaker zurückgelassen.«
Kyle fühlte einen kurzen Moment Stolz; reine, unverfälschte Bewunderung für die Gruppe, die so ein Blutbad angerichtet hatte.
»Denkst du, dass wir sie einholen können?«, fragte Victor, obwohl es weniger eine Frage als ein Befehl war.
»Ich denke, irgendwann schaffen wir es«, sagte Kyle, wohl wissend, dass er alles ihm Mögliche tun würde, um den Vogel so langsam wie möglich zu fliegen. »Wir wissen aber nicht, wie lange das her ist. Wir wissen nur, dass sie nach Jackson unterwegs sind. Auf die eine oder andere Weise werden wir sie erwischen.« Obwohl er es ausgesprochen hatte, wusste er, dass es sinnlos war; er würde sichergehen, dass Shane und die anderen unverletzt blieben. Auch wenn das bedeuten sollte, dass der Vogel draufging.
»Flieg einfach weiter«, sagte Victor. »Ich will den scheiß Jeep noch vor Sonnenuntergang.«
»Captain, ich muss mit Ihnen über das Wetter reden«, sagte Kyle in der Hoffnung, dabei weitere kostbare Zeit zu gewinnen. »Wenn es so weitergeht, müssen wir genau hier landen. Das ist zu gefährlich und ich möchte keine Heldentaten vollbringen.«
»Wir fliegen weiter«, befahl Victor auf seiner Zigarre kauend. »Bis ich sage, wann wir stoppen.«
»Sie tragen dafür die Verantwortung«, sagte Kyle und zog den Helikopter wieder etwas höher. »Aber sagen Sie dann ja nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt, wenn wir dann mittendrin landen müssen.«
Die Anspannung im Cockpit war greifbar, obwohl Victor in den folgenden Minuten schwieg. Entweder war er zu tief in seinen Gedanken versunken oder er hatte einfach nicht zugehört.
»Einfach weiter«, sagte Victor schlussendlich. »Und behalte deine Drohungen für dich. Noch nie hat jemand gehört, dass ein Helikopter wegen ein bisschen Schnee draufging.«
»Das ist kein bisschen«, murmelte Kyle. Als Victor ihm bedeutete, dies zu wiederholen, sagte er nur: »Sie sind der Boss.«
Victor kehrte kopfschüttelnd in die Kabine zurück. Die Saat des Zweifels hatte sich bereits in seinem Kopf angepflanzt.
Ein Samen, der das Leben der Leute retten könnte, denen sie hinterherjagten.
***
»Sonst noch jemand hungrig?«, fragte Marla. Ihr Magen knurrte, während sie sprach. »Ich war zu sehr damit beschäftigt, an die Waffen als an Nahrung zu denken.«
»In meiner Tasche sind ein paar Snacks«, sagte Terry, der mit seinem Daumen nach oben zeigte. »Ihr könnt euch nehmen, was ihr wollt, bis auf die Barbecue Pringles.«
Marla griff sofort nach dem Rucksack. »Wo hast du die verdammten Pringles her?«
»Von vor ein paar Wochen, als ich mit diesem Soldaten, Mono, unterwegs war. Ich wünschte, ich hätte mehr von denen.«
Sie zippte den Rucksack auf und griff hinein. Unter anderem fand sie ein Packung Lifesavers, eine Schachtel Milk-Duds und einige Packungen Mints. Sie fragte sich, ob Terry das wohlweißlich eingepackt oder einfach nur hineingestopft hatte, was er fand, als er die Möglichkeit dazu hatte.
Spielte keine Rolle. Ihr Magen drehte sich im Kreis; sie war dankbar, dass sie wenigstens irgendetwas in sich hineinstopfen konnte.
Sie öffnete einen Reese’s-Nutrageous Riegel und biss hinein, dass meiste davon war mit einem Biss verschwunden. Er schmeckte gut und verpasste ihr einen Rausch, den sie nicht erwartet hatte.
Sie bot Jared etwas davon an, aber der lehnte schweigend ab. Sie zuckte mit den Schultern. »Wie du willst.« Das andere Stück schmeckte genauso gut wie das erste und sie schmatzte vor sich hin, was durchaus als ungehobelt bezeichnet werden konnte.
Sie starrte von hinten aus dem Jeep auf die tief verschneite Landschaft. Das Weiß hatte irgendetwas Tröstliches an sich und jetzt fing sie an zu zittern, als sie es so auf dem Boden liegen sah. Es schneite unaufhörlich und es gab kein Anzeichen dafür, dass es bald aufhören würde. Sie wurde vom Klang der Reifen beinahe hypnotisiert und fiel langsam in den Schlaf, auch wenn es kein ruhiger sein sollte.
Dennoch wäre es nett, etwas zu schlafen – vielleicht auch zu träumen.
Sie war sich nicht sicher, wie lange es noch hell sein würde. Wie auch immer, es würde ausreichen. Im Dunkeln schienen sich diese Kreaturen weiter auszubreiten, obwohl sie nicht wirklich nachtaktiv waren. Die Dunkelheit schien ihnen eine Art Schutz zu bieten.
Als ob sie sich nach Sonnenuntergang sicherer fühlten.
Das Letzte, was sie wollte, war, mitten in der Nacht im Nirgendwo stecken zu bleiben. Was, wenn sich der Schneefall so fortsetzte? Was, wenn sie von der Straße rutschen würden? Dann würden sie der Gnade der Nacht überlassen sein und dieser Gedanke war schuld daran, dass sie ihre Augen nicht schließen konnte.
Jared summte melancholisch. Es war überraschenderweise sehr melodisch. Klar, er würde damit niemals eine dieser Talentshows gewinnen, aber das würde sowieso nie wieder jemandem möglich sein.
Abgesehen von Jareds eindringlichen Tönen, die sie nicht erkannte, war alles still. Es war schön, friedlich, und sie fühlte, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper entspannte, als ob sie soeben in Trance versetzt wurde.
Und dann ging alles schief.
Von vorne erklang Geschrei. Terry schrie etwas – alles geschah viel zu schnell.
Sie drehte sich zu Jared um, der glotzend versuchte herauszufinden, was los war; was passiert war. Sie spürten, wie der Jeep abdriftete, und Marla sah von hinten zuerst den Himmel, der zum Boden und dann wieder Himmel wurde, bevor er wieder zum Boden wurde.
Sie waren wie Kleidungsstücke in einer Wäschetrommel. Metall wurde auseinandergerissen. Kurz zuvor hatte Jared noch ruhig etwas vor sich hin gesummt, was durch ein lautes Klonk unterbrochen wurde. Die rechte Seite schrumpfte auf die Hälfte der eigentlichen Größe zusammen; spitzes Metall und zerbrochenes Glas füllten nun den Raum, wo zuvor noch nichts gewesen war.
Marla schlug gegen die Seite, dann gegen das Dach, Jared folgte – er schrie etwas Unverständliches – und das war alles, woran sie sich erinnern konnte. Ende vom Schnee, gute Nacht und danke für’s Kommen, lassen Sie die Tür beim Hinausgehen nicht zuknallen …
Als der Überschlag ein plötzliches Ende nahm, war sie bereits allein in der Dunkelheit, umgeben von nichts, und fragte sich, was zum Teufel da soeben geschehen war.
***
Ziehend und zerrend, zuerst ihre Beine, dann ihren Arsch. Hände waren überall, versuchten an sie zu heranzukommen, wollten aus ihr eine … eine … Untote zu machen! Sie trat aus, hoch und weit, dabei schrie sie etwas, als sie Kontakt mit einer Schulter oder einer Wange hatte. Sie kreischte, aber der Schmerz in ihrem Kopf war zu stark, um mehr zu ertragen. Hände packten sie, zumindest vier von ihnen, zogen sie, versuchten sie herauszuschleifen. Jede Sekunde, dachte sie, und dann würde sie den Schmerz durch einen Biss spüren, und dann wäre es zu spät, Feierabend für diese arme Kuh.
Sie trat noch einmal, der Schmerz in ihrem Bein – den sich später als eine milde Verstauchung herausstellen sollte, nichts weiter – hielt sie nicht davon ab, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Tod zu verhindern. Obwohl sie nichts sehen konnte, wusste sie, dass sie sich immer noch im Jeep befand, zumindest das meiste von ihr. Blut floss ihr in die Augen, vermischt mit Schweiß und vielleicht auch Tränen. Sie schien zu brennen, abgesehen von der Tatsache, dass außerhalb des Fahrzeuges eine Temperatur weit unter dem Gefrierpunkt herrschte.
Die Hände fassten sie an den Beinen, sie versuchte, sie mit Tritten loszubekommen und dann erklang eine Stimme: »Marla, ist okay. Marla, bitte …«
Sie erkannte die wohlklingenden, vertrauten Töne eines Mannes. Es war Shanes Stimme, was bedeutete, dass es seine Hände waren, die versuchten, sie zu berühren, was weiterhin hieß, dass es seine Schulter, sein Arm und Kopf waren, nach denen sie ständig getreten hatte.
Sie blinzelte sich das Blut aus ihren Augen und fing an zu atmen.
Es tat weh; verflucht weh. Sie wusste nicht, wie schlimm es war, noch nicht, aber der Schmerz verriet ihr ganz offensichtlich, dass ihr Inneres nicht dort war, wo es sein sollte, vermutlich schmückte es den ganzen Jeep wie seltsam theatralisches Dekor – so wie man geneigt ist, es in französischen Kinosälen zu sehen.
»Alles wird wieder in Ordnung kommen«, versuchte Terry sie zu beruhigen. »Du musst einfach nur atmen.«
Gut, danke für diese äußerst nützliche Information, dachte sie. Ich hätte beinahe diese kleine Technik des Überlebens, die man ›atmen‹ nennt, vergessen.
»Kannst du dich bewegen?«, fragte Shane. »Kannst du dich bewegen? Wenn ja, dann versuch dich irgendwie nach vorne zu beugen.«
»Ich … Ich denke, dass ich das kann«, antwortete Marla und war überrascht, dass ihr das wirklich gelang.
Außerdem würde Shane sie nicht fragen, wenn ihre Innereien überall im Jeep verteilt wären, das hatte also etwas Gutes.
Sie kämpfte gegen die Nadelstiche an und schaffte es, einen Fuß etwas loszubekommen. Sie war offensichtlich zu nervös, um mit den Händen mitzuhelfen. Ich bin ein Mädchen, dachte sie, keine verdammte Ming-Vase. Ihr Blick wurde klar und ein paarmal Blinzeln würde ihr erlauben, wieder zu sehen, wenn auch wie durch eine pinkfarbene Brille.
»Was ist passiert?«, fragte sie, während sie sich selbst auf ihr Hinterteil zog und hoffte, dass ihr Rückgrat nicht ernsthaft angeknackst war. »Ich kann mich an nichts erinnern …«
»Herr wachsames Auge hier hat beschlossen, einem Reh auszuweichen«, erklärte Terry. Er staubte den Ledereinband der Bibel ab. Gott hätte es nicht zugelassen, dass mehr passiert.
»Ich hatte es nicht gesehen, bis es bereits zu spät war«, sagte Shane, der versuchte, nicht das Opfer zu sein. »Mir blieb nichts anderes übrig. Meine Reflexe setzten ein.«
Jared saß im Schnee und wirkte niedergeschlagen, als er sagte: »Tja, jetzt sind wir wahrlich angeschissen.«
Terry seufzte. »Dies ist weder die Zeit noch der Ort für amateurhaftes, dramatisches Theater«, sagte er. Er steckte die Bibel in seine Jacke und zog diese wieder zu. Er hatte immer noch das fröhliche Gemüt eines Onkels in der Weihnachtszeit. »Außerdem gibt es andere Dinge, um die wir uns sorgen müssen. Die Horden sind hinter den leckeren Stücken unserer Ärsche her.« Er deutete zum Himmel. »Wenn es uns nicht gelingt, irgendwo Unterschlupf zu finden, werden wir aber vorher erfrieren.«
Shane schreckte plötzlich hellhörig auf. »Wir haben keine Zeit zu schlafen«, sagte er. »Meine Frau und meine Tochter, schon vergessen?«
Marla streckte sich, als wäre sie gerade aus einem gemütlichen Nickerchen erwacht. »Terry hat recht«, sagte sie, dann zog sie sich ihre Kapuze über und stieg vorsichtig aus dem Wrack. Terry half ihr dabei, unsicher, ob sie nur aufgrund ihres eigenen Gewichts humpelte. Er schien erleichtert, als sie damit aufhörte. »Wir sind immer noch … wie viele Kilometer?«
»Knappe 70«, sagte Jared, der mit seinem Finger auf ein Schild am Straßenrand deutete. »Und ich will verdammt sein, wenn ihr glaubt, dass ich die zu Fuß gehen werde.«
Marla sagte zu Shane: »Wir könnten uns nach einem anderen Fahrzeug umsehen, nach irgendetwas, was uns weiterbringt, aber wir müssen uns zuerst aufwärmen, und wir sollten etwas essen. Ohne uns zu versorgen, werden wir Jackson nicht erreichen; wir wissen auch, dass es hier von den Kreaturen nur so wimmelt.«
Shane verzog sein Gesicht; daran hatte er seit der Kaserne nicht mehr gedacht.
»Du weißt, dass sie recht hat«, sagte Terry. Er hüpfte auf und ab, um sich etwas aufzuwärmen.
Shane drehte sich rasch um und griff sich mit beiden Händen in seinen Nacken. »Scheiße«, knurrte er. Er wandte sich wieder an Terry und Marla, sein Gesichtsausdruck war ernst, voller Kraft, entschlossen und stählern. »Okay«, sagte er. »Aber es wird das Erste morgen früh sein und wir machen weiter. Ich habe keinen von euch darum gebeten, mich zu begleiten. Ihr seid aus eigenem Willen mitgekommen. Wenn euch nicht gefällt, was ich vorhabe, dann kehrt um.« Er dachte einen kurzen Moment nach, bevor er anfügte: »Ihr wisst, dass ich mich um jeden von euch kümmere, aber meine Familie ist da draußen, irgendwo. Ich möchte sie nur finden … ich möchte sichergehen, dass sie in Sicherheit ist.«
Um darauf zu reagieren, wollte Marla den großen Narren packen und ihn so nahe wie möglich an sich ziehen. Obwohl sie vermutlich aufgrund der Schmerzen umkippen würde, wenn sie das täte.
»Wir machen uns am besten auf«, sagte Terry. »Wir wollen doch hier nicht einfrieren, wenn der Mond aufgegangen ist.«
»Kannst du gehen?«, fragte Shane. Marla nickte, sie zischte, als sie ihr rechtes Bein belastete. Es tat weh, aber es war nicht gebrochen.
Nur verstaucht. Eine Ärztin – oder ehemalige Ärztin – zu sein, hatte seine kleinen Vorzüge und einer davon war: Selbstdiagnose.
Der Snatch war nicht mehr zu reparieren; außer man würde Tausende Dollar dafür ausgeben. Er war die mechanische Äquivalenz zu hirntot. Die Front war Schrott und überall hingen bunte Kabel wie leblose Tentakel eines Kraken aus der Motorhaube. Selbst wenn es ihnen gelänge, ihn zum Laufen zu bekommen – was eine Meisterleistung der modernen Technik wäre –, waren drei der vier Reifen durchlöchert. Zwei davon waren bereits platt, während aus dem dritten noch etwas Luft entwich.
»Vermutlich wären wir sowieso irgendwo gegen gecrasht«, sagte Marla, sie rang sich bei ihrer eigenen optimistischen Vorhersage ein Lächeln ab. Der Schnee bestätigte diese Vermutung.
»Hat irgendwer mitbekommen, wo das Reh hin ist?«, fragte Terry, während er die Böschung links und rechts musterte. »Eigentlich dachte ich, ich würde wieder Vegetarier werden, aber in Anbetracht dieser Situation, hat ein bisschen Wildbret noch nie jemandem geschadet, nicht wahr?«
Shane wusste, dass Terry wirklich vorhatte, das Tier zu jagen, obwohl er annahm, dass es schon lange weg war und seine Glückssterne zählte, oder es wusste nicht, wie knapp es der gepanzerten Windschutzscheibe entkommen war.
Das Schild zeigte 42 MI - JACKSON, daneben stand, 3 MI - SANDDOWN.
»Was denkst du, wie es in SANDOWN ist?«, fragte Marla. Hinkend klammerte sie sich an Shanes Schulter, bis sie sicher war, dass sie die Kraft und den Mut hatte, alleine zu gehen.
»Untote«, sagte Terry ohne Luft zu holen. »Eine Menge davon, aber reichlich zu essen.«
Terry war sowohl mit dem einen als auch dem anderen einverstanden.