ZWEIUNDZWANZIG

Der Pilot war tot, erschossen, weil ihnen nichts anderes übrig geblieben war. Ein infizierter Hirsch, wenn man das glauben konnte, hatte Stewart Randall, während er pissen war, an der Böschung gerammt und danach den einzigen Mann, von dem sie wussten, dass er einen Helikopter fliegen konnte, gebissen.

Natürlich konnte man das glauben. Victor Lord kannte nichts anderes als den Irrsinn, der für ihn während der letzten Tage zum Alltag geworden war.

»Captain, ich habe Hunger«, sagte Moon wie ein triumphierender Vietnamveteran, der mit an der Schulter baumelnder Waffe aus dem Regenwald kam.

Den Blick, den Victor Lord dem Soldaten zuwerfen würde – und vermutlich auch tat –, hätte töten können.

»Was zum Teufel soll ich jetzt dagegen tun?«, knurrte Victor. »Ich bin doch nicht deine Mommy, und ich habe keine Süßigkeiten bei mir.« In Wahrheit war Victor auch hungrig, die bloße Erwähnung von Essen ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen, sein Magen begann zu arbeiten.

Durch den Schneefall zu stapfen, aus dem mittlerweile ein Schneegestöber geworden war, das Victor noch nie zuvor erlebt hatte, war schwer. Drei Schritte vorwärts glichen, wenn man Glück hatte, einem einzigen. Unter dem Schnee war es rutschig, als ob man den Everest ohne Schneeschuhe bestieg. Und zu allem Überfluss wurde Victor von den dummen Forderungen eines Mannes, der doppelt so groß war wie er, genervt. Das war lächerlich.

»Wenn wir nach Sandown gehen«, fing Moon an, als wäre das keine große Sache, »glauben Sie, dass wir dort was zu essen bekommen werden?«

Victor seufzte. Alles, was er tun konnte, war, Moon keine Kugel in den Kopf zu jagen, und auch nicht sich selbst.

»Ich habe vergessen, den Restaurantführer zu lesen, bevor wir die Baracken verlassen haben«, höhnte Victor. »Wie dumm von mir. Also, wenn ich du wäre, was ich ja Gott sei Dank nicht bin, würde ich mein verdammtes Maul halten und kein weiteres Wort mehr darüber verlieren, wo wir hin sollen und wo nicht. Du fängst wirklich an, mir mit deinem Mist über Essen auf die Nerven zu gehen. Ich sag dir mal was«, sagte er, dann blieb er eine Sekunde zum Durchatmen stehen. »Ich werde dir ein Eis kaufen, wenn wir dort sind. Na? Wie klingt das für dich, du dämlicher Schwachkopf?«

Der Ausdruck in David Moons Gesicht war einfach zu witzig, zumindest wäre er es unter anderen Umständen gewesen. Er sah aus wie ein Kind, das gerade ausgeschimpft wurde, weil es sich nassgemacht hatte.

Er sagte nichts darauf, entschuldige sich aber auch nicht, weil es vermutlich seine Dummheit erneut zum Vorschein gebracht hätte. Stattdessen wartete er darauf, dass Victor sich wieder in Bewegung setzte, damit er das Gleiche tun konnte.

Sandown war nahe.

Dort würde es gutes Essen geben, dachte sich Moon. Eine Menge davon.


***

Erst durch die erste Tür, dann durch die zweite. Henry Colburn war sich sehr bewusst, dass das, was er vorhatte, verrückt war, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Victor Lord würde ihn kreuzigen, wenn er zurückkam; sein Scheitern, die alte Frau abhauen zu lassen, würde den Captain an den Rand des Wahnsinns treiben. Colburns Beförderung war mittlerweile nichts weiter als ein Wunschtraum.

Er könnte auch gleich mit einem Knall abdanken.

Die dritte Tür war mit einem großen Aluminiumspind verbarrikadiert. Darauf gekratzt standen folgende Worte: ARMY LIFE 4EVA. Dies schien für Colburn in jenem Moment die reinste Ironie zu sein.

Er schob den Spind beiseite, wohl wissend, dass ihn nur noch ein paar Schritte von seinem Schicksal trennten.

Er musste schnell sein, worin lag ansonsten der Sinn? Wenn er an der Seite der anderen sterben sollte, konnte die Sache nur schwer bekämpft werden.

Die Tür selbst war unversperrt; der Spind hatte tatsächlich gereicht, um sie darin gefangen zu halten. Alles, was Colburn wusste, war, dass sie nicht einmal versucht hatten zu fliehen, stattdessen hatten sie sich hier heimisch gefühlt und ihr täglich gebrachtes Mahl genossen.

Er atmete tief durch und drehte den Türknauf. Als er das tat, erinnerte ihn der Klang des Drehens daran, dass er sich auch zu ihrem Lunch zählen durfte, wenn er nicht vorsichtig sein würde.

Kaum stand die Tür einen spaltbreit offen, drehte er sich um und eilte den Weg zurück, den er gekommen war. Zuerst hörte er nichts. Er hielt inne und lauschte, weil er prüfen wollte, ob sie den Köder geschluckt hatten. Vielleicht standen sie einfach nur vor der Tür und schlugen manisch darauf ein, anstatt sie zu öffnen. Wäre das nicht so gottverdammt typisch?

Doch dann hörte er sie geifernd, grunzend und stöhnend den Gang entlangkommen. Das war der Klang von vier hungrigen Untoten, die vorher gefangen worden waren, um ein Heilmittel zu finden.

Aber es gab keines. Es gab keine Rettung vor der Infizierung. Diese Untoten waren nun einfach nur Waffen, tödlich und hungrig.

Und sie steuerten auf ihr Festmahl zu.


***

Die Nacht brach herein, und als es soweit war, wünschte sich Shane, dass es bereits Morgen wäre, denn dann wären sie wieder unterwegs zu seiner Familie.

Ohne Jared …

Draußen heulte der Wind und sprenkelte die Fenster mit Schnee, der versuchte, wie mit tausend winzigen Skelettfingern nach drinnen zu gelangen. Der Gedanke ließ Shane erschauern; Marla bemerkte dies und beschloss, diese unbehagliche Stille zu unterbrechen.

»Geht’s dir gut?«, fragte sie ihn. »Du starrst seit knapp einer Stunde aus dem Fenster. Hast du es noch nie schneien sehen?« Sie lächelte, da er sich aber nicht zu ihr umwandte, konnte er es nicht sehen.

»Mir geht’s gut«, sagte er, dabei musste er gegen die Tränen ankämpfen. »Ich wünsche mir nur, dass es aufhört, damit wir weiterkönnen.«

Marla stand auf und legte ihm ihre eiskalte Hand in den Nacken. Er zuckte nicht zusammen, obwohl es trotz seiner geschlossenen Augen zu erkennen war, dass er wegen ihrer kalten Finger zitterte.

»Wir werden aufbrechen, sobald wir können«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Du weißt, dass wir unterwegs wären, wenn wir nicht so ein gottverdammtes Wetter hätten.«

Shane seufzte. »Ich weiß. Es ist einfach nur … es hat sich so viel verändert. Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Was, wenn wir sie finden und ihnen nicht gefällt, was aus mir geworden ist?«

Marla strich ihm über die Haare, wie seine Mutter es immer getan hatte, wenn er sich die Knie aufgeschürft hatte. »Wenn sie immer noch da draußen sind«, sagte sie, aber dann fiel ihr auf, dass dies nicht der beste Weg war anzufangen, allerdings war es dafür zu spät. »Sie werden dich noch genauso lieben wie zuvor. Ich habe gesehen, wozu du fähig bist, was du gegeben hast, um wieder zu ihnen zurückzukommen. Scheiße, Shane, selbst vor ein paar Wochen, als du noch im Gefängnis warst, selbst da habe ich es gesehen.«

»Was hast du gesehen?«, fragte er und drehte sich um. Als er ihrem Blick begegnete, sah er sofort weg. Ihre Augen waren smaragdgrün, sie funkelten in der Dunkelheit. Wenn er zu lange hinsah, würde er süchtig danach werden.

»Ich sah einen Mann, der bereit war, alles für die Menschen zu riskieren, die ihm etwas bedeuten.« Sie nahm sein Kinn mit ihrer zitternden, kalten Hand und drehte seinen Kopf zu sich herum; er hatte keine andere Wahl, als in diese erstaunlichen Edelsteine zu sehen. »Ich sah einen Mann, an dem mir etwas liegen würde, an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit.« Sie brach ab, schüttelte ihren Kopf, als hätte sie etwas Unpassendes gesagt. »Ach, hör zu. Ich klinge vermutlich wie ein echter Idiot.«

Shane blinzelte eine Träne weg und lächelte. »Nein, tust du nicht. Marla, dies alles ist ein Albtraum, der uns geradezu in den Wahnsinn treibt, ich weiß, dass wir eigentlich irre sein sollten, kannibalistische Psychopathen.«

Sie lachte, so wie er.

»Und weißt du auch, warum wir das nicht sind? Weil wir immer noch wissen, dass wir das nicht tun sollten. Es liegt daran, dass wir immer noch wen haben, an dem wir uns festhalten können, jemand, für den wir Gefühle haben. Du bist der Grund, warum ich immer noch hier bin.« Er legte sanft seine Hand auf ihre und drückte sie leicht.

Ihr war klar, was er ihr damit zu sagen versuchte, und es tat weh. Er hatte eine Frau – eine Tochter – und er liebte sie beide so sehr, dass er ihnen nicht einmal im Traum Schmerz zufügen würde. Nichts und niemand würde ihn davon abhalten, sie zu erreichen, und dafür liebte sie ihn.

Während der Schnee vom Fenster abprallte, starrten sie beide nach draußen. Terry murmelte in einer Ecke etwas vor sich hin, obwohl er schlief. Der Schlaf, nach dem er sich so gesehnt hatte, hatte ihn endlich ereilt, und mit der Bibel, die auf seinem Bauch auf- und niederging, schnarchte er, grunzte und schlief den unruhigen Schlaf eines ruhelosen Mannes.