ZWEI

Marla hörte den Helikopter näherkommen und stürzte hinaus in die eiskalte Nacht. Eine kleine Menschentraube, die auf die Plünderer wartete, hatte sich bereits versammelt; sie standen dicht aneinander gedrängt, um sich gegenseitig Wärme zu spenden. Obwohl sie Jacken trugen, die viel zu groß für sie schienen, und sie Decken von ihren provisorischen Notbetten dabei hatten, klapperten sie mit den Zähnen.

»Wie lange waren sie unterwegs?«, fragte Marla in die Menge; genau einer antwortete sofort darauf.
»Nur zwei Stunden«, antwortete Victor Lord. »In dieser Zeit können sie unmöglich eine gründliche Suche durchgeführt haben. In Herrgottsnamen!«

Captain Victor Lord war hier für alle Belange der Mann, der die Verantwortung trug. Seine militärische – oder jetzige ehemalige militärische – Erfahrung machte aus ihm den idealen Kandidaten, dies unter Beweis zu stellen. Dennoch ließen seine Methoden verdammt viel zu wünschen übrig.

Marla konnte ihn nicht leiden, was keineswegs daran lag, dass er ständig an einer nicht brennenden Zigarre herumkaute, oder wie er sein Haar über die offensichtliche Glatze gekämmt trug. Er war einfach ein Schwanzlutscher; er war die Art von Mann, der man einfach nicht über den Weg trauen konnte.

Shane konnte ihn auch nicht leiden. Er hatte es zwar nie ausgesprochen, doch Marla sah es an seinem Blick, so wie er Lord ansah, wenn er sich mit ihm unterhielt, oder dessen Befehle entgegennahm – was normalerweise der Fall war. Es schien, dass er ihm genauso wenig traute, wie sie das tat.

»Okay, Leute«, sagte Victor, während er so auf seiner rudimentären Zigarre herumkaute, als hinge sein Leben davon ab. »Ich möchte jetzt, dass ihr alle wieder hineingeht. Das Letzte, was wir hier brauchen, sind noch mehr verfluchte Kranke. Scheiße, diese Grippe dreht schneller die Runde als ein vietnamesischer Ladyboy.«

Die Menge sah einander an, als ob sie die Entschlossenheit des Captains prüfen wollte. Schließlich schlurften sie langsam auf die Türen zu und gingen hinein.

Marla war es völlig unbegreiflich, warum Victor ständig so unfreundlich war; schließlich gehörten hier alle zusammen und niemand trug die Schuld an all dem, zumindest niemand von denen, die er gerade hineingeschickt hatte.

»So wie Sie mit den Leuten umgehen, schaffen Sie sich nicht gerade viele Freunde«, erklärte Marla ihm. Sie versuchte, die Fassung zu bewahren.

Victor schien einen Zentimeter größer geworden zu sein, als er sich ihr zuwandte. Seine Augenbrauen berührten einander, und als er die Zigarre aus dem Mundwinkel nahm, wünschte sich Marla, ihren Mund gehalten zu haben.

»Hören Sie, Lady«, spie er. »Ich bin nicht hier, um mir irgendwelche Freunde zu gewinnen. Ich bin hier, um das Überleben aller zu sichern. Wenn denen nicht gefällt, wie ich mit ihnen umgehe, können die ruhig abhauen und sich woanders etwas suchen. Dort können sie den Rest ihrer Tage verbringen.« Er hielt kurz inne, steckte sich die Zigarre wieder in den Mundwinkel und ergänzte: »Aber das eine garantiere ich Ihnen: Sie alle würden sich wünschen, dass sie bloß auf Captain Victor Lord gehört hätten, wenn sie von den Kreaturen in Stücke gerissen und wie der Inhalt einer Packung chinesischer Instantnudeln verschlungen werden.«

Marla versuchte, bei dieser Metapher nicht zu grinsen, aber es war schwierig, in solche ausdrucksstarken Augen zu blicken, wenn wenige Zentimeter darunter ein solcher Bullshit heraussprudelte.

»Also, warum laufen Sie nicht einfach ihren Freunden nach«, er deutete mit seinen Fingern auf die Gruppe, »und ich sorge dafür, dass wir am Leben bleiben. Später können Sie mir ruhig dafür danken.«

Jetzt war sie wirklich sauer. Mit ihm zu streiten war einfach sinnlos. Er war ein Ex-Militär und so eisern, wie ein solcher nur sein konnte. Und er bildete sich ein, dass der Rest der Welt ihm etwas schuldig war.

Dem war aber nicht so.

Der Helikopter tauchte auf. Marla war plötzlich genau so glücklich, wie sie eben noch frustriert gewesen war. Als Victor vom Landeplatz zurück und näher an den Rand des Daches trat, verspürte Marla beinahe den inneren Drang, ihn hinunterzustoßen. Sie war sich ziemlich sicher, dass niemand ihn vermissen würde; Scheiße, vermutlich würde die ganze Gruppe sie wie eine Göttin verehren.

Als der Helikopter zur Landung ansetzte, wirbelte dieser ein Miasma von Schmutz auf, das in der Nachtluft zu tanzen begann. Victor drehte sich um und machte mit den Fingern eine Gehbewegung. Marla wurde noch wütender, wusste aber, dass sie die Erste sein würde, die von Shane erfuhr, dass es ein Problem gab.

Sie drehte sich um und schlotterte, da die Rotorblätter eine Eiseskälte erzeugten, die sie voll abbekam. Schnell huschte sie hinein.

»Ein beschissenes Ärgernis«, murmelte Victor Lord, was über den Lärm des Helikopters allerdings kaum hörbar war.

Shane stieg aus und zippte seinen Parka zu. Er fing an, die Rucksäcke – die leer waren – und die Munition auszuladen. Flyboy öffnete die Pilotentür und versuchte, sein bestes Strahlemanngrinsen zu zeigen.

»Klein wenig kalt, was?«, stellte Flyboy fest, als er wie ein Astronom zu den Sternen hinaufsah.

»Mir macht dieses beschissene Wetter nichts aus«, gab Victor, der zwischen dem Helikopter und der Dachkante stand, von sich. »Sagt mir einfach, dass ihr verfluchte Antibiotika bekommen habt.«

Shane kam herbei; für lange Debatten war er nicht in der Stimmung. »Wenn Sie meinen, es besser machen zu können, Victor. Hier.« Er deutete auf den Hubschrauber. »Nehmen Sie ihn, aber seien Sie gewarnt, die Stadt ist voller Untoter. Sie werden heilfroh sein, keinen Fuß dort hineinsetzen zu müssen.«

Victor verzog sein Gesicht. »Also habt ihr nichts?« Dies war weniger eine Frage als ein Vorwurf. »Das ist wohl die beschissenste Neuigkeit, die ich an diesen ganzen verdammten Tag gehört habe.«

Shane nahm die Rucksäcke auf die Schulter und hob die Munitionskiste hoch.

»Da draußen sind Hunderte von denen«, erklärte er. »Wenn nicht sogar Tausende. Es ist unmöglich, in die Stadt zu gelangen, zumindest fürs Erste. Morgen früh werden Flyboy und ich nochmals rausfliegen und versuchen, eine ruhigere Zone zu finden. Vielleicht kommen wir dort an ein paar Pillen.«

Flyboy wollte beinahe über den Vorwurf diskutieren, was aber nicht gut ausgegangen wäre. »Also, wenn’s nach mir ginge, gehen wir morgen früh raus«, sagte er zu Victor. »Ich neige einfach dazu, nach einem vierstündigen Nickerchen besser zu funktionieren.«

Shane marschierte auf die Türen zu. Was hätte er dafür gegeben, eine Kiste Medizin bei sich zu haben.

»Ihr werdet morgen nirgendwohin gehen«, schnappte Victor plötzlich. Shane blieb stehen und wandte sich rasch um. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er nicht weiter belästigt werden wollte. Victor schien diese Warnung allerdings nicht weiter zu beachten. »Ich werde meine Männer ausschicken. Zumindest werden die nicht mit leeren Händen zurückkommen.«

»Ihre Männer werden sich da draußen verflucht noch mal selbst töten«, entgegnete Sahne. Er setzte die Rucksäcke ab, für den Fall, dass er seine Fäuste einsetzen musste. Respekt vor Älteren? Shane hielt Victor Lord für unqualifiziert; er war alterslos, und er war ein Arschloch. Shane würde ihm eher mit einem Ziegelstein den Schädel einschlagen, als ihm etwas Respekt zu zollen.

»Nun hören Sie mir mal zu«, blaffte Victor, er machte sich schon für die bevorstehende Konfrontation bereit. »Ich renne mir hier den Arsch ab. Verflucht, genau deshalb sind noch so viele Leute am Leben. Denken Sie etwa, Sie könnten es besser? Letztens erst habe ich gehört, dass Sie mit einigen Ihrer Schurkenkumpanen aus dem Gefängnis geflohen sind.« Er deutete zu der Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Daches; die Schurken, auf die er sich bezog, waren Jared, der nicht anwesend war, und Terry Lewis, der zurück zu Gott gefunden hatte und mittlerweile ebenso bösartig wie ein Pudel in einer Marshmallow-Fabrik war.

Shane hätte auf Victor losgehen und ihn zu blutigem Brei verarbeiten können, genau hier und jetzt auf dem Dach. Aber wenn es irgendeine Möglichkeit für Victor gab, sich zu beweisen, dann wäre diese genau hier gewesen.

Er atmete tief durch, der Atem, der ihm entwich, sah wie Zigarettenrauch aus.

»Morgen werde ich meine Männer auf meine Art ausschicken. Ihr kleiner Freund hier«, er schnippte mit seinem Finger zu Flyboy, »ist unser einziger Pilot, somit bleibt mir bei ihm nichts anderes übrig.«

»Danke«, sagte Flyboy hämisch. »Wenn ich einem Ihrer Leute das Fliegen beibringen soll, lassen Sie es mich wissen.«

»Junge, das würde ich nicht sagen, wenn ich du wäre«, höhnte Victor. Die Haut, die in seinem Gesicht einst straff gewesen war, wabbelte beim Sprechen. Er richtete sich wieder an Shane: »Also, haben wir noch ein Problem? Oder werden Sie nun das tun, was ich sage, und wir werden einfach nur miteinander klarkommen?«

Ein Beil, dachte Shane. Das wäre jetzt was; direkt in seinen Schädel, bis die Augäpfel an seinem Kinn baumeln.

»Wir haben kein Problem«, log Shane.

»Dann ist ja alles klar«, sagte Victor. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er mehr als zufrieden mit sich selbst war. Seine Abneigung jemandem gegenüber, der etwa halb so alt wie er war, verlieh ihm das Gefühl, sich wieder in den alten Zeiten des Platoons zu befinden. »Meine Männer werden in der Morgendämmerung aufbrechen«, er deutete zu Flyboy. »Und Sie sollten versuchen, mir fern zu bleiben«, richtete er das Wort an Shane.

Shane glaubte nicht, dass dies irgendeine Antwort wert war, also gab er keine. Er nahm seine Sachen wieder auf und machte sich auf dem Weg hinein, wo der Rest der Gruppe ihn bereits hoffnungsvoll und müde erwartete.


***

Die Hauptstromversorgung war vor zwei Wochen ausgefallen, der gesamte Betrieb wurde dank zwei durchgängig rumorender 20-KW Generatoren am Leben gehalten. Wie auch immer, das einzige Problem mit denen war, dass sie mit Diesel angetrieben wurden, und es würde die Zeit kommen, da mussten sie irgendwelchen Kraftstoff verwenden, was bedeutete, dass sie Plünderer auf die Suche danach ausschicken mussten. Niemand aus der Gruppe schien eine Ahnung davon zu haben, wie die Generatoren funktionierten, nur dass sie es taten. Solange ein paar Leuchtstoffröhren Licht spendeten, waren die Überlebenden glücklich.

Terry Lewis gefiel es, alleine im Untergeschoss zu sitzen. Dort war ein stetiges rhythmisches Summen der Generatoren zu hören, welches ihn zu beruhigen schien. Er hatte sich sogar einen Sessel mitgenommen. Zugegeben, er war nicht der Bequemste – er hoffte, dass er vielleicht mal über ein antikes Möbellager stolpern würde –, aber er war seiner, und wie er so dasaß und dem monotonen Klang der riesigen Maschinen lauschte, las er in der Bibel. Sie war ein Geschenk von Shane, der sie gefunden hatte, als sie noch hinter Gittern gesessen hatten. Terry hatte sonst nichts anderes mitgenommen, da es nichts gab, was es mitzunehmen wert gewesen wäre. Ein Paar Schuhe? Einen neuen Stock?

Doch er war sich sicher, sollte egal wer es wagen, ihm die Bibel abzunehmen, dann würde er denjenigen töten.

Als die Generatoren ein wenig langsamer arbeiteten, blätterte Terry in seinem Buch und befand sich am Anfang der Offenbarung.

Als wenn er es nötig gehabt hätte, etwas über die vier apokalyptischen Reiter lesen zu müssen. Dennoch hatte er damit angefangen, weil sich die Dinge so dramatisch schnell entwickelt hatten. Alles war anders. Die Welt, so wie alle sie kannten, in all ihrer Herrlichkeit, hatte aufgehört zu existieren. Sie waren am Ground Zero angelangt und man konnte nur noch nach vorne sehen.

Und die Bibel, Terry Lewis’ teuerster Besitz, war auch anders. Nun, da die Apokalypse eingetreten war – und das mit voller Wucht –, schien die Bibel plötzlich mehr Sinn zu ergeben. Vielleicht interpretierte Terry sie auch so, wie er es für richtig hielt. Er veränderte den Text, um ihn dem Ereignis anzupassen, doch egal wie er es betrachtete, sie schien für genau diesen Moment geschrieben worden zu sein. Voller Hoffnung las Terry die Offenbarung weiter, denn er wusste, dass jemand irgendwo da draußen war und genau das Gleiche tat.

»Terry?«, hörte er eine Stimme von der Stahltreppe her. Terry sprang auf, legte ein Lesezeichen zu der Textstelle im Buch und schloss es. »Bist du da unten?«

Es war Jared, Terrys ehemaliger Zellenkumpel aus Jackson. Er war ein guter Junge, auch wenn er ein wenig feige und naiv war. Jared sah in Terry die Vaterfigur, jemanden zu dem er aufschauen und nach dem er streben konnte, der seinen Arsch so lange retten würde, bis er selbst so alt war.

»Ich bin hier unten«, sagte Terry. Er schob sich aus dem Sessel und streckte sich wie eine Katze, die gerade aus einem Nickerchen gerissen wurde.

Dann waren Tap-Tap-Tap Schritte, die auf Metall trafen, zu hören, als Jared nach unten in den Keller stieg. Als er auftauchte, konnte Terry ihm fast seine Enttäuschung ansehen. Seine Gesichtszüge waren schlaff, seine Wangen eingefallen und sein Ausdruck wirkte, als würde er jeden Moment losheulen.

»Was ist los?«, wollte Terry von ihm wissen und überbrückte dadurch die Kluft zwischen ihnen. »Du siehst wie jemand aus, dem gerade ein beschissener Krebs diagnostiziert wurde.«

»Shane und Flyboy sind zurück«, erzählte Jared. »Shane sagte, dass die Stadt voller Untoter sei. Sie konnten heute nichts mitbringen.«

Terry entspannte sich ein wenig. »Danke, und Scheiße noch mal«, hauchte er. »Kurz dachte ich schon, du würdest mir sagen, dass einer von beiden gebissen wurde.«

Jared lächelte. »Nein, nichts Schlimmes, aber auch nichts Gutes.« Seine Schultern hingen herab, er war sichtlich enttäuscht und niedergeschlagen. »Ich habe keine Ahnung, wie lange das manche von den Leuten noch ohne Medizin durchstehen werden«, fuhr er fort. »Der alte Martigan pfeift aus dem letzten Loch.«

»Er wird schon in Ordnung kommen«, meinte Terry, dabei hoffte er, dass er recht hatte. »Der alte Martigan hat schon schlimmere Kriege als diesen überstanden. Ich glaube nicht, dass ihm das bisschen Kälte den Garaus macht, du etwa?«

Jared zuckte mit den Achseln. »Denke nicht.«

»Richtig«, sagte Terry. »Ich werde mal zu Shane gehen, möchte mich mit ihm unterhalten, mal sehen, ob ich ihm irgendwie helfen kann. In der Zwischenzeit kannst du versuchen, etwas Schlaf zu finden. Du siehst wie ein verfluchter Drogenabhängiger aus.«

Dies entrang Jared ein leises Lachen. Bis vor ein paar Augenblicken stand er noch kurz davor, in Tränen auszubrechen.

»In den letzten Jahren habe ich nichts mehr angerührt, Mann«, flüsterte er. »Das ist das einzig Gute am Gefängnis.«

Terry seufzte und lächelte, beides eher flüchtig. Zumindest war es ihm gelungen, dass Jared sich ein wenig besser fühlte.

Er erklomm die Treppe auf der Suche nach dem vermutlich in der Gruppe beliebtesten Mann der Stunde.